Die Ordnung des Staubs (eBook)
436 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7693-3402-9 (ISBN)
T. A. Frey wurde 1998 in Leer in Ostfriesland geboren und studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Hamburg. Seit seiner Kindheit kann er sich insbesondere für die düsteren und bisweilen morbiden Facetten des Fantasy-Genres sowie das Kreieren und Entfalten komplexer Welten begeistern, wofür er Einflüsse zeitgenössischer Gesellschaft hinzuzieht. Weitere Inspiration für sein Schreiben findet er auch im Film, unter anderem in Werken des Science-Fiction Kinos und des New Hollywood.
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Der Wind peitschte das Wasser gegen die Insel, die nicht wie ein bewohnbares Stück Land wirkte, sondern wie ein einzelner Felsen, der achtlos von den Göttern ins Meer geschmissen worden war. Der Name des Felsens lautete Nunk-Niket und es handelte sich um eine der kleinsten und einsamsten Inseln überhaupt – ein auf dem Teller zurückgebliebener Krümel, ein Splitter der Splitter.
Wenn das Brausen der Böen nicht so ohrenbetäubend gewesen wäre, hätte die in die Jahre gekommene Frau am Bug des Einmasters wohl verstanden, was der junge Bootsmann ihr zurief. In dem Getöse konnte jedoch sie nur vermuten, dass er sie auf das hinwies, was sie bereits wusste: Sie hatten ihr Ziel erreicht.
»Ich will die erste sein, die einen Fuß auf dieses götterverlassene Gestein setzt«, brüllte sie durch das Rauschen, als die Kette des Ankers rasselnd über das Deck geschleift wurde.
Kapitän Kindraza war im Begriff, das Beiboot zu besteigen. Ihr mit kobaltblau gefärbten Strähnen durchzogenes Haar flatterte vor ihrer Nase, als sie nickte und die alte Frau herbeiwinkte. »In Ordnung«, brüllte sie zurück. »Aber ich kann euch nicht alleine gehen lassen!«
Natürlich nicht. Jeder, aber auch wirklich jeder hat mir von dieser Reise abgeraten, ganz besonders Sella.
Die alte Frau sah an ihrem wehenden, pelzbesetzten Umhang nach unten, der ihr in diesem Augenblick nicht ganz so wetterfest vorkam wie vom Schneider angepriesen. Wie immer trug sie ihr Kurzschwert mit dem glatten Horngriff und der dünnen, geschwungenen Schneide darunter. Sie hatte es seit einer Ewigkeit nicht mehr verwenden müssen und war ohnehin nie seine größte Meisterin gewesen. Letzteres würde sich auch heute nicht ändern, ersteres, wenn alles nach Plan verlief, schon.
Eine knappe Diskussion, ein vom Wellengang unsäglich in die Länge gezogenes Anrudern und ein mühseliges Erklimmen der Felsküste später stand die ältere Frau oben auf dem Gestein und sah der jüngeren dabei zu, wie sie die Gegend auskundschaftete, Schwert und Staubpeitsche stets griffbereit. Als sie selbst eine junge Frau gewesen war, hatte sie ihre Haare häufig ebenso farbenfroh färben lassen – wer hatte das in diesem Alter nicht? Seit einer gewissen Zeit blieb sie jedoch bei ihrem natürlichen Blond, in das sich immer häufiger Spuren von Grau einschlichen. Sie musste das nicht mehr verbergen. Wenn man so viel erlebt hatte wie sie, dann kümmerte man sich nicht mehr so sehr um solche Dinge, wenngleich sie ihre Kleider nach wie vor zunächst mit dem Auge und erst danach mit dem prüfenden Handgriff wählte.
Gewiss hätte sie eine Frau wie Kindraza früher attraktiv gefunden. Sie war mit ihren weichen Bewegungen, den eng anliegenden Kleidern aus Wolle und Leder und ihrem angestrengten, aber klaren Profil ein Blickfang in dieser stürmischen Landschaft, in der sonst nur harte Dinge existierten. Aber das markante Äußere war nicht der einzige Grund. Es hatte etwas an sich, wenn Menschen sich den Gefahren des Meeres aussetzten. Seefahren war in gewisser Weise ein Glückspiel, so wie eine Wette mit Sturm und Ozean. Es war für die alte Frau ein Nervenkitzel gewesen, nicht zu wissen, ob sie vielleicht die letzte Geliebte eines Steuermannes oder einer einfachen Matrosin gewesen war.
Etwa einen halben Zwitekt landeinwärts stieg der Schnupfen in die Nase und die Augen begannen unweigerlich zu tränen. Dennoch stellte die alte Frau bald fest, dass dieser karge Streifen Sturmlandes doch nicht ganz unbewachsen war.
Zvarngras.
Vor ihnen erstreckten sich große Flächen und es schien überall darauf zu wachsen. Fast bis zu ihren Köpfen hätten die salbeifarbenen Gräser gereicht, wenn sie einmal aufrecht gestanden hätten. Stattdessen flatterten sie auf Hüfthöhe im Wind, wie eine Fahne hoch über einer Burg oder dem Tor einer Stadt. Es handelte sich um die gleiche Sorte langer Halme, aus der auch Kindrazas Peitsche hergestellt war, sowie der Gegenstand in der Tasche der alten Frau, den sie im Gehen permanent durch ihre feuchten Finger gleiten ließ und der so voller verwaschener Erinnerungen steckte.
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gewächsen sind die Zvarngrashalme robust und dehnbar genug, um den Winden standzuhalten, erkannte sie.
»Wir müssen das Feld umgehen«, rief Kapitän Kindraza keuchend. Sie ging ein Stück voraus und beschrieb mit den Armen einen großen Bogen.
»Wie?«, rief die alte Frau zurück. »Willst du dir etwa nicht gerne den Arsch wundpeitschen lassen?«
Ein Witz, um die Nerven zu beruhigen. Er war notwendig, denn sie hatte in diesem Augenblick etwas anderes entdeckt, das in der Ferne hinter dem Zvarngras aufgetaucht war: Eine kleine Hütte, von der dünner Dampf aufstieg.
Das muss es sein. Wenn ich ihn jemals finde, dann heute.
»Ein anderes Mal vielleicht.« Nachdem Kindraza kurz gezögert und vermutlich überlegt hatte, ob eine allzu kokette Reaktion wohl unangemessen wäre, zeigte sie so etwas wie ein Grinsen.
Unter dem durchfeuchteten Mantel fror die alte Frau, als der Wind von der Seite gegen sie prallte, doch sie bemerkte es kaum. Sie konnte nur an ihn denken und daran, dass sie ihm gleich begegnen könnte.
Urplötzlich hatte sie eine vielversprechende Nachricht erhalten und war unverzüglich auf das Boot gestiegen. Und nun stand sie hier im Sturm zwischen peitschenden Gräsern, als wäre seitdem keine Stunde vergangen.
Das Zvarngras war viel zu schnell umrundet.
Für den kleinen Holzbau, der sich nun direkt vor ihr an einen Felsen schmiegte, schien das Wort Haus eher unangebracht. Es sprang nicht ins Auge, wie er aussah, sondern was alles daran fehlte. Kein Weg, keine Umzäunung, keine Fenster, nur ein kantiger Klumpen wackligen Holzes mit einem Latrinenhäuschen daneben. Dass er den Stürmen mitten im Meer überhaupt standhalten konnte, war eine wundersame und zugleich seine einzige Qualität. In einer Nische auf dem Dach nistete ein taubenähnlicher Vogel mit auffällig feuerrotem Gefieder, dessen rhythmisches Piepsen das Pfeifen des Windes überlagerte.
Kindraza rümpfte die Nase und näherte sich vorsichtig der Tür. »Ich werde hineingehen und sicherstellen, dass keine Gefahr …«
»Nein!«, schnitt die alte Frau ihr das Wort ab. »Ich gehe alleine rein.«
»Das kann ich nicht …«
»Wirst du aber. Schließlich befehle ich es dir!« Sie erschrak ein wenig über die Dringlichkeit ihrer eigenen Stimme. Jeder Partikel ihres Körpers war so gespannt, dass sie bei jeder Gelegenheit aus der Haut fahren konnte.
»Wenn euch etwas geschieht, dann brauche ich diese Insel nicht mehr zu verlassen«, protestierte die jüngere Frau.
»Ich bin nicht diejenige, der etwas geschehen wird«, sagte die Ältere. Sie sprach mit der Stimme der Anführerin, die sie sich vor Jahren angeeignet hatte und die jedes Widerwort im Keim zu ersticken vermochte. Gleichzeitig fühlte sie den Griff ihres Schwertes.
Kindraza senkte den widerwilligen Blick, machte einen Schritt rückwärts und deutete ein Hereinspaziert mit ihrem Arm an.
Die alte Frau zögerte, bevor sie an die Tür klopfte. Sie war weit darüber hinaus, wegen eines Treffens nervös zu werden. Eigentlich war sie das nur bei ein paar Gelegenheiten wirklich gewesen und da waren meist wilde Bestien beteiligt gewesen. Aber das hier war anders. Möglicherweise erwartete sie hinter dieser Tür der bitterste Teil ihrer Vergangenheit und das ließ ihr die Knie schlackern wie einst die Reifeprüfung im Kivkhaus.
Ihre Faust fand die Tür und … es geschah nichts.
Noch immer stieg Rauch aus dem kleinen Loch im Dach. Es musste jemand dort sein. Ein zweites Mal klopfte sie, ein zweites Mal gab es keine Reaktion. Oder doch? Da war etwas ganz Leises, ein Summen – nein, ein Pfeifen. Es kam eindeutig aus …
Rumms!
Ein metallisches Rumpeln und ein gellender Schrei drangen durch die Tür, dann ein gedämpftes Fluchen und Murmeln. Der exotische Vogel flatterte vom Dach empor. Kapitän Kindraza nahm ihr Schwert in die rechte und die Peitsche in die linke Hand.
Erstaunt stellte die alte Frau fest, dass die Tür nicht verriegelt war und sich unter einem Quietschen einen Spalt öffnen ließ, bis sie auf einen Widerstand stieß.
In der Hütte war es im Vergleich zur stürmischen Umgebung ziemlich stickig, was vor allem daran lag, dass die Luft von aufgewirbeltem Staub durchsetzt war, der sofort im Rachen kratzte. Durch einige Ritzen in den Wänden drang Licht. Ein knisternder Ofen an der Querseite sonderte den Rauch ab, den sie schon aus der Ferne erblickt hatte.
Mit bedachten Bewegungen zog sie ihr Schwert unter dem Pelzumhang hervor und zwängte sich in den Raum.
Jemand sprach mit einer vom Alter piepsig-heiseren Stimme. »Besucher! Wir haben Besucher, Gudo. Lange hatten wir keine Besucher mehr. Keine Besucher seit Langem.« Dieser Jemand war dürr, in eine karierte Decke eingewickelt und hatte seine langen, verklebten Haare offensichtlich selbst gestutzt, und das nicht gerade filigran. Vor...
Erscheint lt. Verlag | 16.12.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
ISBN-10 | 3-7693-3402-7 / 3769334027 |
ISBN-13 | 978-3-7693-3402-9 / 9783769334029 |
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