Hunger und Zorn (eBook)
158 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31192-3 (ISBN)
Alice Renard, geboren 2002 in Paris, studierte mittelalterliche Literatur an der Sorbonne. Sie beschäftigt sich intensiv mit den Themen Neurodiversität und Hypersensibilität. Im Alter von sechs Jahren wurde Renard selbst als frühreif eingestuft, mit vierzehn Jahre begann sie zu schreiben. 2023 erschien ihr Debütroman Hunger und Zorn, der für den Prix Fémina, den Prix du Monde und den Prix des lectrices ELLE nominiert war und mit dem Prix Méduse und dem Prix littéraire de la Vocation ausgezeichnet wurde.
Alice Renard, geboren 2002 in Paris, studierte mittelalterliche Literatur an der Sorbonne. Sie beschäftigt sich intensiv mit den Themen Neurodiversität und Hypersensibilität. Im Alter von sechs Jahren wurde Renard selbst als frühreif eingestuft, mit vierzehn Jahre begann sie zu schreiben. 2023 erschien ihr Debütroman Hunger und Zorn, der für den Prix Fémina, den Prix du Monde und den Prix des lectrices ELLE nominiert war und mit dem Prix Méduse und dem Prix littéraire de la Vocation ausgezeichnet wurde.
Erster Teil
Mutter
Mein Küken, mein Kleines, ich habe dich im Rhythmus der Geheimnisse meines Bauches geschaffen und schließlich heranwachsen sehen. Trotz aller Widerstände. Ungeachtet all der unerklärlichen Dinge, die sich dir in den Weg gestellt haben.
Vater
Ich war nicht dafür gemacht, der Vater eines solchen Kindes zu sein. Heute, bald, in absehbarer Zeit ist sie gar kein Kind mehr. Sie wird langsam groß. Aber ich bin noch immer nicht dafür gemacht, ihr Vater zu sein.
Mutter
Ich knete den Kuchenteig und denke an dich. Deine trotzigen und unschuldigen Gesichter jeden Alters tauchen vor mir auf, legen sich übereinander und lassen mich nicht mehr los. Ich bin glücklich. Ich weiß, du bist hier, in diesem Moment, nur wenige Schritte hinter mir, auf dem grünen Sofa starrst du ins Licht, mit halb geschlossenen Augen. Und diese Momentaufnahme ist wie das Titelbild zu all meinen Erinnerungen, in denen ich gerade blättere.
Vater
Sie hatte schon immer eine Art Geistesschwäche, auch wenn es nie jemand gewagt hat, das wirklich auszusprechen.
Ob sie überhaupt begreift, dass wir froh sind, weil heute ihr Geburtstag ist? Wir, die so viele Opfer für sie gebracht haben …
Mutter
Ich als deine Mutter weiß es: Wenn deine Augen so durchdringend sind, wenn wir deinen Blick nicht zu fassen kriegen, dann, weil du Dinge begriffen hast, die wir niemals begreifen werden.
Vater
Begreifst du überhaupt, was dieser Tag für uns bedeutet? Diese bescheidene Freude, kannst du sie überhaupt mit uns teilen?
Fast jede Nacht träume ich davon, dass Maude wieder schwanger ist. Und dann wache ich schweißgebadet auf. Denn wenn ich meine Hand auf ihren Bauch legen will, erscheinen mir immer wieder deine Augen, Isor, die mich durch die Bauchdecke hindurch anstarren. Deine Augen, Isor, die die Farbe der meinen haben, aber nicht ihren Ausdruck. Nein, dieser Blick kommt ganz gewiss nicht von mir. Aber wo bin ich in dir? Wo?
*
Mutter
In deinen Zöpfen finden sich im Frühling immer unerwartete Dinge. Wenn du am Abend nach Hause kommst, nachdem du den ganzen Tag durch die Gegend gestromert bist, und dich auf den kleinen Hocker setzt, damit ich dir die Haare bürste, und meine Finger durch dein Haar gleiten, um die Zöpfe zu lösen, die sie am Morgen geflochten haben, sind zwischen den Strähnen jedes Mal kleine Schätze versteckt. Pollen, Löwenzahnblüten, Rindenstückchen, Grashalme und manchmal sogar ein kleiner Ohrenkneifer.
Wie schaffst du es nur, all diese Dinge aufzulesen, meine Kleine? Wie kommt es, dass sich alles an dich klammert, wenn du unterwegs bist? Selbst tief im Haar finden sich Sachen, die sich in deinen schwarzen Locken verzwirbelt haben. Anfangs war ich besorgt. Jetzt kann ich darüber lachen und zeige dir die Fundstücke, damit du mit mir lachst. Du antwortest mir stets mit einem Lächeln, als handele es sich dabei um die natürlichste Sache der Welt, und manchmal wirst du sogar rot, als zeigtest du mir dein Innerstes, das so schwer zu erreichen ist.
Vater
Vor allem ihre Tränen machen mir Angst und sind mir fremd. Sie sind einfach nicht zu begreifen, weder für mich noch für andere. Manchmal erscheinen mir ihre Tränen wie Säure oder Harz aus einem Feuer. Sie rinnen mit solchem Schmerz über ihr Gesicht und sind so unerklärlich und absurd, dass jeder Trost von vornherein zwecklos erscheint. Es sind keine Launen. Ich würde es schon fast als Trauer bezeichnen.
Diese Tränen lassen erahnen, welche Qualen sie erleidet. Ein unbeschreiblicher Schmerz, jenseits von allem. Nicht in seiner Intensität, nein. Er befindet sich einfach außerhalb der Grenzen gewöhnlichen Schmerzes. Tiefer, in einem entlegeneren Bereich, in einer anderen Schicht, fest verwurzelt. Jenseits jeder Wahrscheinlichkeit. Mit eisernen Schrauben in ihrem Wesen verankert.
Mutter
Sobald sie merkt, dass sie ihren Schmerz gezeigt hat, zieht sie sich schamvoll zurück und wird wie durch ein Wunder ihres Wesens gleich darauf fröhlich, getragen von einer aufrichtigen, strahlenden Freude. Eine Fröhlichkeit, die mit einer Art Entschuldigung beginnt, weil sie sich gezeigt hat, und in ein helles, fröhliches Kinderlachen mündet.
Vater
Oder sie weint wie von Sinnen und ist durch nichts und niemanden zu beruhigen. Tatsächlich wirkt sie in solchen Momenten beinahe erleichtert – sie scheint die Verwandlung von Schmerz in Traurigkeit durch und durch zu genießen, und im Schmerz wie in der Freude gibt sie sich ganz ihren Gefühlen hin, bis sie vollkommen leer ist.
*
Mutter
Manchmal beobachte ich sie beim Tanzen, ohne dass sie es bemerkt. Sie tanzt allein und ohne Musik. Sie steht auf und schiebt den ganzen Kram auf dem großen Teppich in ihrem Zimmer zur Seite. Mit einer Geste, die man für Nachlässigkeit halten könnte, die aber keine ist, schiebt sie ihre ganzen Schätze in eine Ecke. Und dann beginnen ihre kleinen Füße, mit einer unbegreiflichen Anmut auf den Boden zu stampfen. Das ist der Moment, in dem ich zu ihr gehe um zuzuschauen.
Vater
Obwohl sie schon dreizehn ist, sind Isors Bewegungen oft linkisch und unbeholfen. Sie hat nie gelernt, richtig nach Dingen zu greifen – ob Löffel, Stift, ein Stück Seife oder ein Schal –, sie macht alles auf ihre eigene Weise, wählt jedes Mal von Neuem aus einem unerschöpflichen Vorrat an Bewegungen, wie es ihr gerade passt. Normalerweise sind solche Bewegungsabläufe eindeutig, man schaut sie sich von anderen ab. Aber Isor ist dabei – wie bei allem anderen – nicht zum Lernen zu bewegen. Sie klammert sich eisern an ihre eigene Vorstellung von Bewegung, eine Bewegung ohne Moral und Vergangenheit, die sich nicht um die Jahrtausende der Zivilisation vor ihr kümmert. Sie übernimmt keine Gesten, die ihrem Alter oder ihrem Geschlecht entsprechen, und schert sich nicht darum, was angemessen oder nützlich ist.
Mutter
Wenn sie tanzt, wird sie von einem inneren Rhythmus ergriffen, der sie nicht mehr loslässt. Jede Bewegung geschieht im richtigen Moment, in perfekter Harmonie. Es ist weder Walzer noch Tango, weder Jazz noch Foxtrott. Ihr ganzer Körper wird zu Musik in ihrem Kopf. Und was für eine Musik das sein muss … Kaum auszuhalten. Als würden alle afrikanischen Rhythmen gleichzeitig auf den Trommeln der ganzen Welt geschlagen und Isor nach einer unausweichlichen, wahnsinnigen Arithmetik in alle Richtungen reißen. Ihr ganzer Körper ist in Bewegung, mal schwingt jeder Arm, jedes Bein auf seine eigene Weise, mal folgen alle demselben Schwung. Es ist wie bei den acht Armen einer Krake: Jeder hat sein eigenes Hirn, doch manchmal, wenn ein gemeinsames Verlangen sie vereint, werden sie alle vom Kopf aus gesteuert. Von einer Sekunde zur nächsten kann sich alles komplett verändern, und keine Minute gleicht der anderen. Durchs Zuschauen habe ich verstanden, dass jeder Tanz unweigerlich in einer Art Wiegen mündet. Keiner dauert länger als eine Stunde. Und jedes Mal beginnt sich bereits nach der Hälfte etwas abzuzeichnen. Ein Schimmer, der am Horizont aufsteigt und sich langsam verstärkt. Die Bewegungen werden fließender, regelmäßiger: Auf gewisse Art ist ihr Tanz ein Gebet, das seit Jahren in ihr wächst, Zeit hatte, zu reifen, zu werden, und nun schließlich an die Oberfläche dringt. Das Ganze mündet in einer eindringlichen, majestätischen Regelmäßigkeit, als hätte sie klassisches Ballett getanzt. Schließlich hört ihr kleiner Körper auf, und sie liegt reglos auf dem Boden, ein Lächeln im Gesicht.
Vater
Isor hat sich immer geweigert, irgendetwas zu lernen. Solange wir denken können. Sie wollte nicht sprechen lernen. Sie wollte unsere Namen nicht lernen. Nie hat sie uns wie andere Kinder aus der Wiege angelächelt, nie hat sie freudestrahlend »Papa« oder »Mama« gerufen. Nicht das kleinste Wort, das etwas bedeutet hätte oder an uns gerichtet war. Sie weigerte sich, anders als mit ihren Fingern zu essen, sie weigerte sich, etwas zu malen, ein Instrument zu spielen, zu reiten und was sonst noch alles. Es war völlig ausgeschlossen, sie zur Schule zu schicken (auch die Ärzte kamen zu dieser Einschätzung). Mit vier Jahren versuchten wir, sie zu Hause zu unterrichten, aber sobald wir ein Heft auf den Wohnzimmertisch legten und ihr einen Stift in die Hand drückten, damit sie ihren Vornamen schrieb, brach sie entweder in Gelächter aus (ein selbstsicheres Lachen, das zu sagen schien: »Das ist so was von lächerlich«), oder sie bekam einen unbändigen Wutanfall, der wie ein Gewitter über uns hereinbrach, und es dauerte Stunden, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Manchmal stand sie auch einfach auf und verließ den Raum, als wäre nichts geschehen oder als hätte sie nicht verstanden, was wir von ihr wollten.
Was also hat sie gelernt, mit ihren dreizehn Jahren? Eigentlich so gut wie nichts. Sie weiß nicht, dass die Erde eine Kugel ist, sie weiß nicht, was ein Adjektiv ist, sie weiß nicht, wie man die Uhr liest, sie weiß nicht, was ein Vater ist und dass wir über die Gene miteinander verbunden sind.
Daran denke ich oft und frage mich dann, wie sie es bloß schafft, so ganz ohne all das zu leben. In einer Welt, die ihr völlig sinnlos oder abwegig vorkommen muss. Ich dachte immer, dass sie gerade deshalb so wütend...
Erscheint lt. Verlag | 20.3.2025 |
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Übersetzer | Lena Müller |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La Colère et l’Envie |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Autismus • Elternschaft • Frankreich • Frau • Freundschaft • Hypersensibilität • Kindheit • Normalität • Sprachlosigkeit • Wut |
ISBN-10 | 3-293-31192-X / 329331192X |
ISBN-13 | 978-3-293-31192-3 / 9783293311923 |
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