Für kurze Zeit nur hier (eBook)
208 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-31184-8 (ISBN)
María Ospina Pizano (*1977 in Bogotá, Kolumbien) studierte Geschichte und Kulturwissenschaft, promovierte an der Harvard University in Hispanischer Literatur, hat über Erinnerung, Gewalt und Natur in der zeitgenössischen kolumbianischen Kultur geforscht und kuratierte das Projekt und die Anthologie Cartas de la Persistencia zu zivilem Widerstand gegen Gewalt. Ihr Debütroman Für kurze Zeit nur hier wurde mit dem Premio Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet. Sie lehrt Spanisch und Lateinamerikastudien an der Wesleyan University in Connecticut.
María Ospina Pizano (*1977 in Bogotá, Kolumbien) studierte Geschichte und Kulturwissenschaft, promovierte an der Harvard University in Hispanischer Literatur, hat über Erinnerung, Gewalt und Natur in der zeitgenössischen kolumbianischen Kultur geforscht und kuratierte das Projekt und die Anthologie Cartas de la Persistencia zu zivilem Widerstand gegen Gewalt. Ihr Debütroman Für kurze Zeit nur hier wurde mit dem Premio Sor Juana Inés de la Cruz ausgezeichnet. Sie lehrt Spanisch und Lateinamerikastudien an der Wesleyan University in Connecticut.
Kati
Kati neigt den Kopf, stellt die Ohren auf und lauscht aufmerksam, wie immer, wenn sie versucht, ein Rätsel zu entschlüsseln.
»Lauf nach Haus, Süße«, befiehlt er in dem liebevoll barschen Tonfall, in dem er auch sonst mit ihr spricht. Gleichzeitig packen ihn die beiden Uniformierten unter den Armen und heben ihn hoch, er strampelt mit den Beinen in der Luft.
Sie legt den Kopf auf die andere Seite und bellt erneut. Wahrscheinlich weiß sie, dass sie schon zu Hause ist, auch wenn sie erst seit ein paar Tagen hier in diesem Park wohnen. Womöglich fragt sie sich, ob er die Gasse meint, in der sie bis vor Kurzem gelebt haben. Bevor sie und viele andere frühmorgens mithilfe von Wasserwerfern und Tränengas von dort vetrieben wurden.
Dass er so schreit, während die beiden Kerle ihn zu dem Transporter schleppen, macht sie offenbar nur noch wütender. Von dem heiseren Gebell, mit dem sie in den Lärm einstimmt, füllt sich ihr Maul mit Geifer. Sie will sich auf einen der Männer stürzen, hält aber zuletzt im Sprung inne, um dem Fußtritt auszuweichen.
»Pass auf dich auf, Katica, und wart auf mich zu Haus, ich bin bald wieder da«, bittet der Festgenommene, während sie ihn in den Laderaum des Transporters verfrachten. Das Blinklicht lässt blaue Funken auf die Straße regnen. »Dauert nicht lange, Kleine, ehrlich. Verlass dich drauf. Und jetzt ab, nach Haus!«
Kann sein, dass Kati ihn nicht mehr hört, als die Männer die Tür zumachen. Sie rennt auf den fortfahrenden Wagen zu und hetzt über zwei Querstraßen hinter ihm her, als glaubte sie, ihn durch ihren Mut aufhalten zu können; als wäre sie überzeugt, der Wagen zerfiele durch ihr Gebell in seine Einzelteile.
Als sie feststellen muss, dass sie auf die Dauer nicht mithalten kann, weiß sie offensichtlich nicht, wohin mit ihrer Wut. Sie kann gerade noch einem Motorrad ausweichen. Vom einsamen Bürgersteig aus bellt sie weiter. Ihr Nackenhaar sträubt sich, vielleicht vor Zorn. Womöglich verdichtet sich in ihren Backenzähnen auch die Gier, jemanden zu beißen. Sie knurrt, aber davon bekommt kein Mensch etwas mit, denn um diese Uhrzeit ist auf den Straßen im Zentrum so gut wie niemand unterwegs.
Ab und zu gibt sie noch ein zorniges Bellen von sich – innerlich ist sie weiterhin in Aufruhr –, aber dann scheint sie sich an seinen Befehl und sein Versprechen zu erinnern und kehrt zurück. In ihr jetziges Zuhause, am Fuß des jungen Guajakbaums im Park, wo er frühmorgens immer den Karren abstellt, die Plastikplanen ausbreitet und die Hütte aus Pappkartons aufbaut, in der die beiden der Müdigkeit und der eisigen Kälte trotzen.
Sie zieht die Füße an und rollt sich zwischen den Decken zusammen, als wollte sie sich an die Wärme klammern, die er dort hinterlassen hat, bevor sie ihn verschleppten. Sie schläft aber nicht ein, obwohl sie von dem gewohnten nächtlichen Umherstreifen müde sein müsste. Sie hechelt, an der Hitze jedoch liegt das wohl kaum. Sie hält den Blick wachsam auf die Ecke gerichtet, hinter der er verschwunden ist, als wollte sie den Moment, in dem er wiederauftaucht, keinesfalls verpassen. Mehrere Männer kommen mit ihren Karren von der Arbeit zurück und stellen sie in der Nähe ab. Auch sie mussten sich schleunigst davonmachen, als an jenem Morgen die Wasserwerfer angefahren kamen, um ihre Unterkünfte zu zerstören. Es sieht so aus, als würde die Hündin sie wiedererkennen. Auch die Frau, die immer um diese Uhrzeit ihren Maisfladen-Stand vor dem Hotel aufbaut, das immer geöffnet hat. Vielleicht nimmt Kati den Duft nach brauner Butter und Käse wahr und mag das. Das Geknatter der klapprigen Autobusse und der Staub, den sie aufwirbeln, kündigen den Tag an. Geruch nach Regen macht sich breit, nach durchsichtigen Wolken, die den Boden streifen, und Kati zieht sich ein Stück unter den Karren zurück, aber ohne die Ecke aus den Augen zu lassen, wo er mitsamt seinem Versprechen verschwunden ist.
Von früh auf hat sie gelernt, das Haus gegen Diebe zu verteidigen. Die Kartons und Dosen, die Decken, das Radio, die Brotbeutel, die Wasserflaschen, die Kiste, in der er die Essensreste für sie aufbewahrt, die Gummistiefel und den Regenmantel für plötzliche Güsse, das Werkzeug und die Schnur, die Säcke mit Recyclingmaterial und die Plastikplanen, die sie vor Kurzem bei einer Baustelle geschenkt bekommen haben. Sie weiß, wie man das Fell sträubt, die behaarten Lippen schürzt, die Zähne fletscht und bellt, um Gegner einzuschüchtern. Diesmal muss sie aber niemanden beißen. Die beiden Kerle, die den Karren umkreisen, entfernen sich, als sie merken, dass Kati aufmerksam Wache hält. Dann kommt der hinkende weiße Hund. Ein uralter Freund und Nachbar, der inzwischen auch in den Park umgezogen ist. Begeistert beschnuppern sie ihre Flanken und reiben sich aneinander, als wollten sie buchstäblich mit Haut und Haaren von den Abenteuern ihrer nächtlichen Streifzüge über den Asphalt berichten. Sein Anblick scheint sie ein wenig zu trösten. Gut möglich, dass er auf seine Weise wahrnimmt, was ihrem Kummer zugrunde liegt.
Am späteren Vormittag beißt Kati gierig die Tüte auf, in der der Mann das Essen aufbewahrt, das er von Restaurants und Läden für sie bekommt. Hastig verschlingt sie die zähe Pampe. Da ihr Trinknapf leer ist, macht sie sich auf den Weg zu einigen nahe gelegenen Pfützen. Am Fuß der Rutsche auf dem Spielplatz hat sich Wasser angesammelt. Nachdem sie ihren Durst gelöscht hat, kehrt sie eilig zum Karren zurück. Die Geschäfte haben bereits geöffnet. Das Geräusch vorbeifahrender Autos mischt sich mit den Stimmen der Straßenverkäufer, die sich auf den Gehwegen niederlassen und durch Lautsprecher darum bitten, dass man ihre Avocados, Pfirsichpalmfrüchte, Schlösser, Handy-Ladegeräte oder Hausschuhe zum Sonderpreis kauft.
Als der Abend kommt, die Berge sich verdunkeln und nicht mehr so viele Leute unterwegs sind, brechen die Männer aus dem Park mit ihren Karren auf. Kati springt auf ihr Gefährt, das in diesem Augenblick eigentlich von ihm gezogen werden müsste, und schnüffelt an den dort liegenden Tüten. Eine davon enthält Toastbrot – wahrscheinlich ist ihr klar, dass es eigentlich nicht für sie bestimmt ist. Vielleicht wundert sie sich, dass der Tag so ruhig zu Ende geht, wo es doch sonst in diesem Moment erst losgeht. Als sie wieder zwischen den Decken liegt, wird sie schläfrig, öffnet aber jedes Mal die Augen, wenn ein seltsames Geräusch den Motorenlärm, das Gehupe und die Musik unterbricht, die noch immer aus manchen Häusern dringt. Manchmal lässt sie den Blick wieder zu der Ecke wandern, möglicherweise in der Hoffnung, dass er endlich erscheint. Sie sieht dort während der ganzen Nacht jedoch nur einen Hund, der zwischen dem verstreuten Müll herumschnüffelt, vier Männer, die mit ihren voll beladenen Karren zurückkehren, und mehrere Leute, die das Hotel betreten oder verlassen. Womöglich vermisst sie das Umherstreunen auf der Straße, deren harte Oberfläche von ihren Pfoten abgefedert wird, oder das fröhliche Beschnuppern des Abfalls, den die Stadt an jeder Ecke anbietet. Es könnte aber auch sein, dass ihr etwas ganz anderes fehlt.
Gegen Mittag des nächsten Tages schüttelt sie sich und bricht auf, um eine Runde zu drehen, vielleicht ist sie hungrig, zu essen findet sie jedenfalls auf dem Karren nichts mehr. Wenn er sie sähe, würde er merken, dass sie nicht so mutig und entschlossen dahintrabt wie sonst, dass sich etwas Zurückhaltend-Zögerliches in ihre Bewegungen eingeschlichen hat. Wenn er sie sähe, würde ihm ihre steife Nase auffallen, vom Kranksein und vom Unglück ist sie rau und trocken.
Sie ergattert zwei Hühnerknochen in der Cafeteria gegenüber vom Park, wo er immer nach Resten für sie fragt. In einem anderen Moment hätte sie gewartet, bis sie wieder auf dem Karren ist und die Knochen dort in Ruhe abgenagt. Diesmal zerbeißt sie sie aber gleich an Ort und Stelle mit gierigen Zähnen. Dann biegt sie um die Ecke und läuft in Richtung der Berge, die das Straßengewirr, in dem die beiden normalerweise umherstreifen, begrenzen. Anders als sonst, wenn sie mit ihm unterwegs ist, scheuert sie sich diesmal nicht irgendwo an einer Ecke genüsslich den Rücken. Sie sucht nach den Resten, die der vorbeifahrende Müllwagen zurückgelassen hat, aber andere sind ihr zuvorgekommen und haben alles Essbare verzehrt.
»Kati!«
Munter läuft sie auf die Frau zu, die an der Ecke steht und fegt, um an der Tüte auf dem Boden zu schnuppern. Mit gieriger Begeisterung verschlingt sie die Knochen und den Reis, den die Frau ihr von zu Hause mitgebracht hat. Als sie fertig ist, beschnüffelt sie die Tüte noch einmal, als bäte sie um mehr.
»Du sagst ja nicht mal Guten Tag, bist du so hungrig? Na komm, zeig, dass du eine brave Hündin bist, und sag schön Hallo, wie es sich gehört.«
Die Straßenfegerin krault ihr den glänzenden Rücken, und Kati leckt an ihrem abgewetzten Handschuh.
»In der letzten Zeit treibst du dich gern ein bisschen rum, was?«
Kati wedelt mit dem Schwanz und drängt sich zwischen die Beine der Frau, die sie liebkost.
»Ja, meine Schöne, bist doch die Hübscheste von allen. Und wo hast du deinen Papi heute gelassen? Sag Luis, er soll nicht so faul sein, ich hab ihn schon seit Tagen nicht mehr gesehen!«
Von der liebevollen Zuwendung scheint es Kati gleich ein bisschen besser zu gehen. Sie setzt ihren...
Erscheint lt. Verlag | 20.2.2025 |
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Übersetzer | Peter Kultzen |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Solo un poco aquí |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amazonas • Amerika • Grenzen • Hunde • Indigene Völker • Käfer • Klima • Kolumbien • Lateinamerika • Migration • Natur • Nature writing • New York • Nordamerika • Tier • Umwelt • Vögel • Vogelzug |
ISBN-10 | 3-293-31184-9 / 3293311849 |
ISBN-13 | 978-3-293-31184-8 / 9783293311848 |
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