Von allgemeiner Gültigkeit (eBook)
120 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78199-9 (ISBN)
Auf einer verlassenen Farm in Yorkshire wird ein Mann mit einem Goldbarren fast totgeschlagen. Für die junge Londoner Journalistin Hannah ist es nicht bloß eine Geschichte mit Potenzial, sondern ihre letzte Hoffnung, nicht abzurutschen: in berufliche Bedeutungslosigkeit, Armut, Provinz. Sie recherchiert - mit letzter Kraft - und bringt einen moralisch bankrotten Investmentbanker, eine antiwoke-Kolumnistin und eine radikale anarchistische Bewegung mit dem Goldbarren in Verbindung. Was sie dann schreibt, geht viral, big-time, und bringt Hannah zurück ins Gespräch, mit Freundinnen, Redakteuren, einer Netflix-Produktionsfirma. Doch ihre spektakuläre Reportage und der sich einstellende Erfolg werfen schnell eine grundsätzlichere Frage auf: Was ist von allgemeiner Gültigkeit in diesem zerbrochenen Land?
In ihrem neuen Roman stellt Natasha Brown ?Macht? und ?Wahrheit? als Rhetorik bloß. Mit voyeuristischer Lust und einmaliger Brillanz vermisst sie unsere Worte und das, was wir sagen. Von allgemeiner Gültigkeit wird so zu einem verdorbenen Freudenfest der Sprache und ihrer ungeheuren Gestaltungskraft. Und zur gnadenlosen Familienaufstellung einer Gesellschaft, die jeden Halt zu verlieren droht.
Natasha Brown arbeitete nach ihrem Mathematikstudium an der Universität Cambridge zehn Jahrelang im Londoner Finanzsektor. Mit ihrem Roman <em>Zusammenkunft</em> gelang ihr eines der erfolgreichsten literarischen Debüts Englands der letzten Jahre. Er stand auf der Shortlist des Folio Prize, des Goldsmiths Prize und des Orwell Prize und wurde in 17 Sprachen übersetzt. Natasha Brown gehört zu den alle zehn Jahre ernannten Granta?s Best of Young British Novelists.
EDMONTON
Nachdem sie sich minutenlang gefragt hatte, ob sie das Huhn vorher waschen müsse, wusch sie es notdürftig und massierte anschließend zerstoßene Fenchelsamen und Meersalz in die kalte, pickelige Haut ein. Danach füllte sie es, indem sie mit der linken Hand die Höhle offen hielt und mit der rechten frischen Oregano hineinstopfte. Links von dem Huhn warteten sechs pflaumengroße Biotomaten in einer von Klarsichtfolie umhüllten Pappschale, alle noch am Strunk. Sie riss die Folie auf, zupfte die Tomaten einzeln von den kurzen, grünen Stielen, zerteilte sie und drapierte sie um das Huhn herum, mit der Schnittseite nach oben. Sie wischte sich die Finger an einem karierten Geschirrtuch ab und warf einen Blick in das Rezept auf dem Handydisplay. Sie brach zwei Knoblauchzehen aus der Knolle im Gewürzregal, halbierte sie (der Länge nach, mit Schale) und verstreute die vier Hälften über Huhn und Tomaten. Sie holte Butter aus dem Kühlschrank, zog die metallische Folie ab und legte den Block auf das Schneidbrett. Vorsichtig drückte sie ein stumpfes Messer hinein, bis es das harte Holz berührte. Sie wiederholte den Vorgang und zerteilte die Butter in immer kleinere, weichere Stücke, die sie zuletzt wie angegeben um das Huhn herumlegte. Dann hielt sie inne und trocknete sich abermals die Hände am Geschirrtuch. Sie schob den restlichen Oregano zu einem Haufen zusammen, zerhackte die Blätter grob und warf sie auf das Backblech wie Konfetti. Sie fotografierte das Huhn aus verschiedenen Perspektiven, zunächst von der Seite und dann mit ausgestreckten Armen von oben. Zuletzt öffnete sie den vorgewärmten Ofen und schob das Blech auf der mittleren Schiene hinein.
Als eine Stunde später die Gäste eintrafen, briet das Hühnchen immer noch langsam vor sich hin. Hannah hatte sich zweimal umgezogen und einmal neu geschminkt. Das Huhn roch süßlich, goldbraun, köstlich.
»Hannah, meinst du wirklich, dass es da draußen sicher ist?«
Mit diesen Worten löste Martin den Verschluss an seinem Helm. Er war ganz offensichtlich entsetzt. Nach einem skeptischen Blick auf die vielen Riegel und Ketten neben der Wohnungstür fragte er: »Also zu einhundert Prozent, absolut sicher, ja?«
»Ach, nun komm«, winkte Guin gespielt vorwurfsvoll ab. »Du bist von dem Ding ja geradezu besessen.«
Sie fegte durch den kurzen Flur wie ein Wirbelwind aus feinem Haar und weichem Stoff, durchquerte die Küche und fand sich auf der Terrasse wieder, einer kleinen, gepflasterten, von Grasbüscheln durchsetzten Fläche, gerade groß genug für einen Campingtisch und vier Klappstühle. Hannah hatte Auflaufförmchen voller Nüsse und Oliven auf die weiße Tischdecke gestellt, und eine Flasche Biowein von M&S.
»Sehr hübsch«, sagte Guin gönnerhaft.
John saß bereits am Tisch. Er nahm die Weinflasche in die Hand und studierte stirnrunzelnd das Etikett, während Guin neben ihm Platz nahm.
»Weißt du, dafür gibt es jetzt eine App«, sagte Martin. »Es ist gar nicht nötig, diese Runen zu entziffern.« Er setzte sich den beiden gegenüber und zog das Hosenbein aus der Socke.
John rümpfte die Nase, musterte die Flasche ein paar Sekunden länger und gab sie dann an Martin weiter. Hannah kostete den Moment aus; sie war froh und auch erleichtert, dass der Abend lief wie geplant. Freundschaften zwischen Erwachsenen sind instabil, das hatten die vergangenen zehn Jahre eindrücklich bewiesen. Aufgrund unterschiedlicher Lebensumstände und Wohnbezirke waren ihr diese Leute – ihre strahlenden, geistreichen Freunde – beinahe entglitten. Der Erfolg ihrer Reportage hatte sich als Rettungsboje erwiesen, als ein Grund, abermals Kontakt aufzunehmen. Sich zu melden und Hallo zu sagen in dem Wissen, dass die Annäherung willkommen wäre. Martin entkorkte den Wein demonstrativ umständlich und schenkte ihnen ein, dann ließen alle ihr Glas gegen Hannahs klirren, ein klingelndes Willkommen zurück.
Hannahs Reportage und die geplante TV-Verfilmung waren das erste Gesprächsthema. Nach ein paar höflichen Gratulationen wollte Martin wissen, welche Details die Produzenten zu ändern gedachten.
»Na ja, das Ganze wird viel diverser aussehen … Zunächst einmal wird es eine Liebesgeschichte zwischen der Hippie-Anarchistin und der Journalistin geben.«
Guin zog eine Augenbraue hoch.
»Zwischen dir und dieser China?«
»Indiya.«
»War es denn so?«
»Ihr dürft nicht vergessen, dass die Figuren nur vage mit den echten Protagonisten verwandt sind. Abgesehen davon … nein, natürlich nicht. So was würde mir niemals passieren, ich bin Journalistin.«
»Und ein vollendeter Profi.«
Hannah ignorierte Martins Spott und fuhr fort: »Und für Jake suchen sie einen schwarzen Schauspieler.«
»Da haben wir’s«, sagte John.
»Was?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und was ist mit Lenny?«, höhnte Martin. »Ist sie eine Sista?«
Guin schnaubte.
»Lenny kommt eigentlich gar nicht vor. Die wollen, na ja, wahrscheinlich werden wir aus Jakes Mutter Spencers Haushälterin machen statt eine Nachbarin. Sie ist mehrere Figuren in einer.«
»Oh, das ist aber eine große Veränderung, oder?«, fragte Guin stirnrunzelnd.
»Ich bin mir ohnehin nicht sicher, wie gut Lenny sich als Filmfigur machen würde«, sagte Hannah mit Bedacht. Zwar wurde die Verfilmung tatsächlich gerade geplant, aber der Gedanke daran erschien ihr heikel, irgendwie zerbrechlich.
»Fairerweise muss man dazusagen, dass sie schon geschrieben kaum verständlich war. Nimm es mir nicht übel, Han, es hat ganz bestimmt nichts mit deinem Stil zu tun. Ich weiß, wie sehr du sie schätzt, aber diese Lenny ist wirklich … ein bisschen seltsam, oder? Gar nicht so leicht, in ihren Äußerungen so etwas wie eine kohärente Ideologie zu finden.« Martin schmunzelte. »Es sei denn, ihre Ideologie ist die Inkohärenz.«
In wenigen Monaten würde Martin Lenny bei einer öffentlichen Veranstaltung zu ihrem neuen Buch befragen. Die flüchtige Google-Recherche hatte ihn wenig beeindruckt: eine weitere alternde Populistin, die sich blökend gegen den Bedeutungsverlust stemmte. Wahrlich keine Ausnahmeerscheinung in Großbritanniens ermüdender Medienlandschaft. Normalerweise hätte er Zeitmangel vorgeschützt und die Anfrage abgelehnt, doch er wollte unbedingt auf diesem Festival auftreten. Dafür könnte er sich doch kurz die Nase zuhalten und eine dumme Frau interviewen? Hannah drehte den Stiel ihres Weinglases. Mit ihrem kleinen Karriereschub hätte er nie gerechnet. Eigentlich hatte er Hannah schon vor Jahren abgeschrieben. Sie war nicht für die Branche gemacht. Wie war ihr dieser Coup bloß gelungen? Er runzelte die Stirn, während Hannah neben ihm nichtsahnend an ihrem Wein schnupperte.
»Warum also … nein, Guinnie, die Frage muss erlaubt sein …, warum zwingst du Identitätspolitik da hinein? Warum muss es eine schwarze Hauptfigur sein? Jake gibt es wirklich, ist dir das klar? Und er ist weiß, oder darf man das jetzt nicht mehr sagen?«
»Wahrscheinlich vergrößert es die Zielgruppe«, warf Martin ein.
»Genau«, sagte Hannah, bemüht darum, das Gespräch in friedlichere Gefilde zurückzusteuern. »Auf diese Weise fühlen sich mehr Leute von der Geschichte angesprochen. Der Ausgangstext war, und ich glaube, das darf man immer noch sagen, lieber John, ziemlich weiß.«
Sie lachte munter, aber John grummelte weiter.
»Weil er in England spielt, verdammt noch mal.«
»Ja, aber so eine Verfilmung muss international funktionieren. Wenn man sich ein großes Publikum wünscht, braucht man einen Ansatz wie bei Fast and Furious. Ob es dir gefällt oder nicht, die Leute wünschen sich auf dem Bildschirm mehr Abwechslung, vor allem bei so einem Thema. Nein, im Ernst. Die Produktionsfirma hat das alles analysiert. Wahrscheinlich liegen ihnen die Streamingdaten vor. Keine Ahnung. Die können das nicht einfach dem Zufall überlassen. Abgesehen davon muss ich als Autorin zugeben, dass es tatsächlich funktioniert. Es räumt ein paar Widersprüchlichkeiten in Jakes Figur aus. Ich weiß auch nicht, es ist schwer zu erklären, aber Jake ist einfach schlüssiger so, seine Probleme und sein Entwicklungsbogen sind überzeugender, wenn man weiß, er ist...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2025 |
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Übersetzer | Eva Bonné |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | UNIVERSALITY |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | aktuelles Buch • Anarchie • Angriff • Armut • Ausschreitungen • bedeutungslosigkeit • Bücher Neuerscheinung • Diskursmechanismen • England • Feminismus • Goldbarren • Granta‘s Best of Young British Novelists • Hoffnung • Investment-Banker • Journalistin • Klasse • Klassismus • London • London Greater London • Macht • Medienkritik • Neuer Roman • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Nord- und Nordost-England • Provinz • Recherche • Reportage • Sprachkritik • Süd- und Südost-England • Überfall • UK • universality • UNIVERSALITY deutsch • Vereinigtes Königreich Großbritannien • Viral • Wahrheit • Westeuropa • Yorkshire • Zusammenkunft |
ISBN-10 | 3-518-78199-5 / 3518781995 |
ISBN-13 | 978-3-518-78199-9 / 9783518781999 |
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