Die Zauberbinder (Band 1) - Das verschollene Relikt (eBook)
496 Seiten
Loewe Verlag
978-3-7320-2309-7 (ISBN)
Butterkeks
»Hast du mich gerade eine Ogerfürstin genannt?«
»Was?«
Ein Stuhl quietschte. »Ben, alles okay bei dir?«
»Mir geht’s gut.«
Draußen zwitscherte im nächstgelegenen Baum fröhlich ein Vogel und irgendwo weit entfernt auf dem Pausenhof prallte ein Ball auf. Rufe und Applaus. Eine Topfpflanze auf dem Fensterbrett des Schulleiters verdorrte nur wenige Zentimeter entfernt von einem vollen Krug Wasser.
Es gab keine Ogerfürstin. Das war nicht der Thronsaal eines Dungeons.
Ben gegenüber saß Mr Sandusky, der Schulleiter der Sweet Air Middle School, ein Mann mit viel zu vielen Fotos seines Hundes auf dem Schreibtisch. Es wirkte wie ein Schrein für einen pummeligen, vor sich hin glotzenden Mops namens Butterkeks. Ben kannte seinen Namen, weil Butterkeks auf den meisten Bildern teuer aussehende Pullis trug, auf denen sein Name stand.
»Du hast so abwesend gewirkt«, sagte Mr Sandusky mit einem Lächeln.
Ben blinzelte und schaute sich um. Das echte Leben, in all seiner langweiligen Eintönigkeit. Raum B12, das Büro des Schulleiters. Viertel nach drei an einem weiteren Freitag. »Ja, Entschuldigung«, sagte er und merkte, wie er rot wurde.
Die Kinder draußen schrien und lachten und er hatte sich noch nie so allein gefühlt.
»Sag mal, Ben …« Mr Sandusky lehnte sich auf die Ellenbogen gestützt vor. »Wie geht es dir wirklich?« Eine einzelne Haarsträhne verlief quer über seinen kahlen Kopf wie ein Riss in einer Eierschale. Auf einem seiner Regale stand ein Foto von Butterkeks in einem Kinderwagen. Der Schulleiter wirkte nett, aber es fiel manchmal schwer, ihn ernst zu nehmen.
Ben hätte sich lieber mit der Ogerfürstin auseinandergesetzt.
»Du bist jetzt seit sechs Monaten bei uns«, sagte Mr Sandusky, »und ich würde gern behaupten können, dass du angekommen bist.« Sein gekünsteltes Lächeln verschwand. »Aber ich habe mit deinen Lehrern gesprochen, Ben, und sie machen sich Sorgen um dich. Sie sagen, du passt im Unterricht nicht auf und sprichst in den Pausen nicht mit deinen Mitschülern. Stattdessen kritzelst du die ganze Zeit in deinen kleinen Notizbüchern herum.«
Ben versuchte, sich zu erklären: »Wenn mir ein Einfall kommt, muss ich ihn aufschreiben.«
»Und Freunde finden? Wie läuft das so?«
»Ich hab schon genug Freunde«, sagte Ben. »Aber die sind da, wo wir vorher gewohnt haben. Ich bin so was wie der Anführer, also derjenige, der die Gruppe zusammenhält. Na ja, war ich zumindest, bevor wir umgezogen sind.«
»Wer ist jetzt der Anführer?«, fragte Mr Sandusky.
»Das nennt man Spielleiter«, antwortete Ben. »Und das macht jetzt mein Freund, der große Barry.«
»Warum nennt ihr ihn so?«
»Weil er größer ist als der normale Barry.«
»Verstehe.«
Ben seufzte. »Ich muss hier gar keine neuen Freunde finden, weil wir nicht in Sweet Air bleiben werden.«
Mr Sandusky zog die Augenbrauen hoch. »Oh, ihr bleibt nicht?«
»Ich hab das Gefühl, dass das hier nur vorübergehend ist«, erklärte Ben und schüttelte den Kopf. Wenn er es nur oft genug sagte, würde er vielleicht selbst daran glauben.
»Nun ja …« Mr Sandusky räusperte sich. »Sechs Monate sind eine lange Zeit.«
»Vielleicht, aber warum sollte ich neue Freunde finden wollen, wenn ich doch schon eine tolle Gruppe habe?«
»Okay, das verstehe ich. Siehst du sie denn noch oft?«
Ben merkte, wie er rot wurde. »Ne. Zumindest gerade nicht. Also, es ist schon eine Weile her, seit wir abhängen konnten, aber heute treffe ich sie. Sie haben es versprochen.«
»Erzähl mal«, sagte Mr Sandusky. »Wenn ihr euch trefft, was unternehmt ihr da?«
»Wir spielen. Größtenteils Rollenspiele.«
»Rollenspiele? Also in andere Rollen schlüpfen, mit imaginären Freunden und so?«
Ben schaute ihn entsetzt an. »Nein, ich rede von Kingdoms of Forever, dem Fantasy-Spiel. Es wurde vor langer Zeit erfunden, neunzehnhundertirgendwas. Es ist ziemlich bekannt. Man spielt mit einer Gruppe von Freunden. Ähm, nicht mit imaginären, sondern mit echten.«
»Du spielst also Kingdoms of Forever mit ihnen?«
»Früher in meinem alten Zuhause, ja«, sagte Ben und zuckte dabei zusammen. Er merkte, dass er zu oft von seinem alten Zuhause sprach. »Wir haben jede Woche gespielt. Ich war der Spielleiter und wir sind gemeinsam auf Quests gegangen. Wir waren ein super Team.«
»Coolio! Teamwork ist stark!«
»Einmal wurde der Charakter meiner Freundin Wanda in Seetang verwandelt.«
»Aufregend!«, sagte Mr Sandusky, aber in diesem Tonfall, den Erwachsene benutzen, wenn sie dir ein gutes Gefühl geben wollen, obwohl sie etwas für Zeitverschwendung halten. »Vielleicht kannst du hier ein paar Leute kennenlernen, die auch spielen? Eine neue Spielgruppe starten?«
Ben schüttelte den Kopf. »Ich hab schon eine Gruppe. Wir nennen uns die Legendären Fünf.« Er beugte sich vor, öffnete den Rucksack und kramte darin. »Aber bis ich wieder zu Hause bin, arbeite ich an meinem eigenen Spiel, um nicht aus der Übung zu kommen.«
»Ein eigenes Spiel?«, fragt Mr Sandusky und schien hellhörig zu werden. »Wow, das ist supercool! Hat es einen Namen?«
»Noch nicht.« Ben holte ein großes Notizbuch aus seinem Rucksack und legte es auf seinen Schoß, wobei er versuchte, es im Gleichgewicht zu halten. Verirrte Papierschnipsel flatterten auf den Boden des Büros. Eine Sternschnuppe war in den Kunstledereinband geprägt.
Mr Sandusky zog seine Augenbrauen hoch. »Wow. Was ist das denn?«
Ben grinste. Das Notizbuch war ein Geschenk von seinem Vater gewesen und er trug es immer bei sich. Als er das letzte Mal nachgesehen hatte, waren 541 der 600 Seiten gefüllt gewesen. Darin hatte er sich alles zu seinem neuen Fantasy-Spiel notiert – all die Ideen, die ihm seit letztem Sommer gekommen waren. Karten, Monsterbeschreibungen, lange, coole Hintergrundgeschichten für Charaktere, komplexe Familienstammbäume und – das Wichtigste – alle Regeln für das Spiel. Es war mehr als eine Geschichte, es war eine ganze Welt – und es war der einzige Ort, an dem er das Gefühl hatte, die Kontrolle zu haben.
»Ich sehe, dass du mit Leidenschaft bei der Sache bist«, sagte Mr Sandusky und verzog das Gesicht so, dass er Butterkeks verblüffend ähnlich sah. »Aber du kannst nicht im Unterricht an deinem Spiel arbeiten und deine Lehrer ignorieren. Außerdem wirst du keine Freunde finden, wenn du die anderen Schüler meidest.«
»Ich meide sie doch gar …«
Lächelnd lehnte sich Mr Sandusky über seinen Schreibtisch. »Hör zu. Ich weiß, du bist neu hier, und ich weiß, wir kennen uns nicht so gut. Aber ich sehe, dass du ein kluger Junge bist. Sehr klug sogar. Du hast so viel Potenzial. Wie sollen wir dir beim Lernen helfen, wenn du immer abgelenkt bist, immer mit irgendetwas anderem beschäftigt? Du kannst im Leben nicht erfolgreich sein, wenn du es nicht manchmal ernst nimmst und dir Ziele setzt.«
Ben hatte schon genug solcher Gespräche erlebt, um zu wissen, was ihn erwartete. Vor allem, wenn der Schulleiter, die Lehrerin oder der Schulpsychologe Worte wie »Potenzial« und »Ziele« in den Mund nahmen. Er war zwölf. Sein Ziel sollte sein, mit Wanda und Dee Dee Lasertag zu spielen oder sich zu überlegen, wie man einen Eiszwerg am besten zum Schmelzen bringt – oder mit Fremden in Smash Royale online Truthähne zu jagen. Er sollte das Leben genießen, so wie Butterkeks in seinem kleinen Kinderwagen.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte er. »Es ist Freitag.«
»Hast du heute etwas Großes vor?«, fragte Mr Sandusky.
»Ich gehe zur Fantasy Fandom Convention in der Innenstadt. Da treffe ich meine Freunde. Wir machen das jedes Jahr.«
Er erwähnte nicht, dass Wanda, Dee Dee, der große Barry und Puh nicht auf seine Nachrichten geantwortet hatten. Wenn sie es doch taten, kamen immer nur einzelne Wörter wie »nice«, »vibe« oder »chill« und nichts weiter.
Obwohl seine letzten Nachrichten unbeantwortet geblieben waren, machte Ben sich keine Sorgen. Er und seine Freunde hatten jedes Jahr an der Fan Fan Con teilgenommen, seit sie in der vierten Klasse das erste Mal dort gewesen waren – zu Wandas zehntem Geburtstag, als die Filmreihe Toxic Freaks das gesamte Messegelände in ein funktionierendes Abwassersystem verwandelt hatte.
Der Besuch war ursprünglich Bens Idee gewesen. Er und sein Vater waren jedes Frühjahr dorthin gegangen, seit er ein kleines Kind war – damals, als sie noch eine Familie gewesen waren.
Die Fan Fan Con war das größte Treffen von Fantasy- und Spielefans im Mittleren Westen. Sie wurde 1982 gegründet; damals standen William Dalton und J. S. Profeten auf der Bühne, die Erfinder des legendären Rollenspiels Kingdoms of Forever. Ben hätte alles dafür gegeben, bei dieser ersten Convention dabei gewesen zu sein. Da sie allerdings dreißig Jahre vor seiner Geburt stattgefunden und noch niemand eine Zeitmaschine erfunden hatte, musste er sich wohl mit der aktuellen Version begnügen – immer noch der beste Tag seines Jahres.
Mr Sandusky stand auf. »Freut mich für dich, Ben. Ich hoffe, es macht Spaß. Aber tu mir einen Gefallen und versuche, nächste Woche nicht wieder hier zu sitzen....
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2025 |
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Reihe/Serie | Die Zauberbinder |
Illustrationen | Lisa K. Weber |
Übersetzer | Kanut Kirches |
Verlagsort | Bindlach |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre |
Schlagworte | Action Fantasy für Kinder • Baldurs Gate 3 Buch • Baldurs Gate für Kinder Buch • Bücher für Rollenspielfans • Das schwarze Auge Dungeons and Dragons Kinderbuch • dnd Bücher • Drachen Kinderbücher • Dungeons and Dragons Bücher • Dungeons and Dragons deutsch • Dungeons and Dragons Ehre unter Dieben Kinderbuch • Fantasyabenteuer ab 10 Jahren • Fantasy Kinderbücher ab 10 Jahren • lustige Kinderbücher ab 10 Jahren • Paper Rollenspiele • Pen & • pen & paper rollenspiele • Pen and Paper für Kinder erklärt • Pen and Paper Kinderbücher • Rollenspiele Kinderbücher • Spannende Kinderbücher ab 10 Jahren • Tabletop Kinderbuch |
ISBN-10 | 3-7320-2309-5 / 3732023095 |
ISBN-13 | 978-3-7320-2309-7 / 9783732023097 |
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