Beerholms Vorstellung (eBook)
240 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07567-2 (ISBN)
Die Kraft der Zahlen und der Zauber der Karten, das Schleifen, Dublieren, Falschabzählen, Filieren, Palmieren - Arthur Beerholm, Zögling in einem Schweizer Internat, weiß früh um seine Begabung. Dennoch studiert er Theologie und landet erst über Umwege bei dem bewunderten Meister der Magie Jan van Rode. Mit seiner Hilfe beginnt Arthurs kometenhafter Aufstieg zum Zauberkünstler, zum weitum hofierten Publikumsliebling, der - auf der Höhe seines Ruhms - die Bühne unvermittelt wieder verlässt, weil ihm das Täuschen der Menschen nicht genügt.
Daniel Kehlmann war 22 Jahre alt, als 1997 Beerholms Vorstellung erschien. Rausch und Rationalität, Zauber und Wirklichkeit fügen sich darin zu einem frühen Meisterwerk.
Daniel Kehlmann wurde 1975 in München geboren, wuchs in Wien auf und lebt heute in Berlin und New York. Er erhielt u. a. den Doderer-, Kleist-, Thomas-Mann-, Hölderlin-, Wildgans und Börne-Preis und zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern weltweit. Zuletzt erschienen der Roman »Lichtspiel« (2023) und sein Porträt über »Leo Perutz« (2024).
Eins
Unsere seltsame Leidenschaft für erhöhte Standpunkte! Jede abgenützte Baukastenlandschaft wird passabel, wenn man sie von oben betrachtet. Sobald es einen Hügel gibt, drängen die Menschen hinauf. Verlangt jemand Eintrittsgeld, dann zahlen sie.
Deswegen gibt es Türme. Und an den Türmen Aussichtsterrassen. Und auf den Terrassen Tische und Stühle und Kaffee und belegte Brote und Kuchen zu überteuerten Preisen. Aber sie kommen. Man braucht sich nur umzuschauen: Alle Tische besetzt, Männer und Frauen, dicklich oder dürr, und dazwischen Kinder, viele, viel zu viele Kinder. Der Lärm! Aber man gewöhnt sich daran. Und sieh nur — wie nahe und dunkelblau der Himmel ist. Um die Sonne herum — nicht scharf hinsehen! — ins Weißliche und Unglaubhafte verfärbt. Darunter erstreckt sich die Stadt. Gemasert mit Straßen voller Autos, leuchtenden Ameisen. Da und dort schwingt sie sich zu glänzenden Türmen auf. Dazwischen Unmengen von Würfeln, matte und auch seltsam glitzernde. Aber damit kommt sie nicht weit. Schon der Horizont ist von hellgrünen Hügeln eingefasst; heute sieht man nicht sehr weit, es wird wohl regnen. Ich sollte mich beeilen.
Also fangen wir an. Wo? Am besten dort, wo alles anfängt. Und dann, Schritt für Schritt, an der Zeit entlang. Keine Erklärungen! Hätte ich die, wäre ich nicht hier, und wüsste ich etwas, würde ich nicht tun, was ich tun werde. Ich weiß noch nicht, wie lange das hier dauern wird, aber einmal, und bald, wird auch dies zu Ende sein. Also noch einmal: Fangen wir an.
Zunächst bloß Farben. Vor allem Orange, ein wässriges Grün, ein helles, sehr helles Blau. Und auf dem Grund ein reines, strahlendes Weiß. Sauberer als Neuschnee oder frische Vorhänge, eine gänzlich unirdische Farbe. Ich weiß: Man behauptet, dass Säuglinge farbenblind sind. Also gut; das mag stimmen! Die Farben sind wohl eine optische Täuschung meiner Erinnerung, oder auch eine Traumrückschau auf vergangene und kaum wirkliche Zustände vor dieser, vor jeder Existenz.
Und dann? Dann lange nichts. Welche weiblichen Wesen ließen sich dazu herab, mir mütterliche Attrappen zu sein, und in welchen weißen und desinfizierten Räumen? Ich weiß es nicht. In meinen frühen Erinnerungen findet sich keine Mutter, findet sich überhaupt kein menschliches Wesen. Alle Bilder auf den ersten verblassenden Seiten meines Gedächtnisses zeigen bloß mich, immer nur mich. Oder richtiger: Sie zeigen nicht einmal mich; aber alle Dinge sind überschattet von meiner Anwesenheit, blicken auf mich, sind durch mich, für mich. Das Gras, der Himmel, die freundliche, schattengefleckte Zimmerdecke. Als hätte es eine Zeit gegeben, in der ich der einzige Mensch auf der Welt war.
Da ist ein sonnenwarmes Frotteetuch, gelb in einer grünen, lichtduftenden Wiese. Sicher, da müssen Menschen in der Nähe sein, wer auch immer, aber sie sind nicht aufbewahrt. Nur das Tuch und der Rasen und die Luft. (Und noch heute betrachte ich die gut gewaschenen Tücher, die fette Hausfrauen in die Kamera der Fernsehwerbung halten, mit bestürzter Wehmut.) Dann wieder die Zimmerdecke, gelb auch sie, aber langsam färbt sie sich ins Graue. Ich liege in meinem Bett — der Kissenbezug zeigt einen verkrampft grinsenden rotnasigen Clown, den Kinder wohl mögen sollen, der mir aber unheimlich ist — und sehe zu, wie vor dem Fenster die Dunkelheit aus dem Himmel sickert. Aber ein dünner, länglicher Lichtstreifen in der Ritze der Tür spricht von Sicherheit, von Schutz. Natürlich, dieses Licht bedeutet die Anwesenheit anderer, aber mein Vertrauen scheint sich mehr auf das Licht selbst, seine Gegenwart und Macht, zu gründen. Das Licht — die Sonne. Der ungeheure brennende Ball; blickt man ihn an und schließt die Augen, glüht er in der Dunkelheit nach, und es dauert lange, bis die letzten kleinen Flammen ausgegangen sind. Ich muss ihn viel, viel zu viel, angestarrt haben. Er war immer da, und sei es nur in Gestalt eines Glimmens unter der Tür.
Dann ein Regenwurm, lang und rötlich, in brauner Erde unter farbigen, großen Blumen. Ich hebe ihn auf, betrachte ihn, wie er über meine Handfläche kriecht, und dann, mit seltsam mitleidlosem Interesse, nehme ich ihn an seinen Enden und reiße ihn entzwei. Ich lasse los, die beiden Hälften fallen auf die Erde und — kriechen weiter, zucken, winden sich, bewegen sich vorwärts, zwei selbständige Wesen, die einander nicht kennen und nichts miteinander zu tun haben. Ich fühle jetzt noch den Schreck, den kalten elektrischen Schlag und das Kribbeln auf meiner Haut wie von einer Reisegruppe hektischer Spinnen. Nicht ein Erschrecken vor dem Tod, im Gegenteil: vor dem Leben. Vor jenem niedrigen, sinnlosen Leben, das sich entzweispalten kann und wieder vereinen und teilen und das gliedlose Kreaturen aus Dreck formt. Vor dem Leben, wo es noch vielfältig ist und kriechend und krabbelnd und nahe am Boden im Feuchten und Schattigen. Vor dem Leben, wo es noch unberührt ist von Ordnung und Geist. Das Leben, und nicht der Tod, ist das Unvernünftigste; und nichts in der Welt ist erschreckender als reines, todloses Leben.
Es gibt noch andere Erinnerungen, aber sie widersprechen jeder Logik. Ich sehe mich verirrt in einem Wald, umringt von schwarzen, unendlich hohen Baumstämmen, und fühle mich laufen, laufen, stolpern, laufen, hinaus auf eine mondlichtgesprenkelte Wiese; wer verfolgt mich? Ich sehe mich fallen, immer wieder fallen, über Felskanten, Treppengeländer, in dunkle oder helle Abgründe; immer gibt irgendetwas nach und erweist sich als zerbrechlich, der feste Boden kippt und überlässt mich unerwartet der freien Luft, der sich unendlich schnell verkürzenden Tiefe, dem heranrasenden Erdboden. Dann wieder Insekten, dann wieder die Sonne, aber jetzt farbumlodert und unheimlich. All das kann sich nicht ereignet haben, zumindest nicht in dem Teil meines Lebens, der im Licht liegt und in der Vernunft. Er gehört auf die Nachtseite, zur Traumwelt, die mein Dasein und jedes Dasein umwuchert.
Und wann endete das alles? Zufällig weiß ich das genau. Ich saß auf dem Teppich und betrachtete einen jener pädagogischen Spielzeugkästen mit stern-, kreis-, drei- und viereckförmigen Löchern, durch die man geometrische Bausteine schieben kann. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, dass ein Stein nur durch jenes Loch wandern kann, das die gleichen Umrisse hat wie er selbst. Gut, ich nahm einen Kreis und versuchte, ihn in das Quadratloch zu stecken; es ging nicht; ich probierte das Dreieckloch; es ging nicht; ich probierte das Kreisloch … — es ging. Dann nahm ich ein Dreieck und sah den Baustein an und die Löcher und wieder den Baustein. Und auf einmal war alles anders. Ich sah, fühlte, wusste — jawohl, wusste, dass es eine Ordnung gab, die jedes bunte Ding auf seinen Platz, in seine Form wies, und dass irgendwo in einem unberührbaren Land ein Kreis lebte, ein Dreieck und ein Quadrat. Es mochte hier und dort und irgendwo und immerdar Kreise geben, es gab doch nur einen, einen einzigen, einen wahrhaften Kreis. So saß ich, ein zweijähriger Platoniker, auf dem Teppich und rieb mir die Augen. Eine lächelnde Holzfigur mit verformbaren Gliedern und ein dicker kleiner Plüschelefant lagen neben mir und starrten mich an, gierig nach Spielen. Aber danach war mir jetzt nicht. — Den Kasten habe ich danach nie wieder angerührt, natürlich nicht. Ich war hinter sein Geheimnis gekommen, jetzt war er langweilig. Er verschwand bald in einer Kiste in irgendeinem staubigen Keller. Doch ich verdanke ihm viel. Nicht, dass sich sofort etwas geändert hätte; aber heute glaube ich, dass ich damals, an diesem Nachmittag, zum Menschen geworden bin. Das, und nicht irgendein blutiger Moment voller Geschrei, Schmerzen und Scheußlichkeit war der Augenblick meiner Geburt.
Vor nicht ganz dreißig Jahren kam ich zur Welt, und zwar in einer mittelgroßen und mäßig hässlichen Stadt. (Unangenehm genug, aber sie hat mich kürzlich zum Ehrenbürger ernannt.) Ich kam zur Welt, um die Phrase zu wiederholen, als Sohn einer Mutter und keines Vaters.
Vor ein paar Jahren habe ich einige halbherzige Nachforschungen angestellt, aus Interesse, nicht aus innerem Bedürfnis, heftiger Seelenqual oder ähnlichem Unsinn. »Du musst«, sagten immer wieder Leute zu mir, »doch wissen wollen, woher du stammst!« Worauf ich nie etwas Besseres zu antworten hatte als: »Warum?« Nun, man behauptet, unsere Herkunft bestimme unser Leben. Ich halte das für dunkle Mystik, die versucht, den...
Erscheint lt. Verlag | 9.1.2025 |
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Nachwort | Daniel Kehlmann |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Bestseller • Debüt • Klassiker • Leo Perutz • Lichtspiel • Magie • Merlin • Österreich • Religion • Täuschung • Theologie • Zauberei |
ISBN-10 | 3-552-07567-4 / 3552075674 |
ISBN-13 | 978-3-552-07567-2 / 9783552075672 |
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