Jede Sekunde (eBook)
96 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-28404-3 (ISBN)
Ein Mann und eine Frau, nicht mehr ganz jung, angekratzt von den zermürbenden Routinen des Alltags - Arbeit, Familie, etwas Urlaub, so könnte das Leben dahingehen. Doch sie begegnen einander und Liebe erfasst sie mit der Kraft einer Naturgewalt. Sie sind zu überrascht, zu hungrig, um auch nur einen Moment zu zögern, und ab jetzt zählt jede Sekunde, in der sie zusammen sein können. Mit rückhaltloser Intensität schreibt Nicolas Mathieu die Chronik einer Leidenschaft, die alles andere in den Hintergrund drängt, und findet eine Sprache für das Begehren, das Glück der gestohlenen Stunden im Hotel, die Qual der Abwesenheit, die Eifersucht auf die 'anderen' im Leben der Geliebten und schließlich den Schmerz der Trennung. Dieses Buch ist die mitreißende Huldigung eines Melancholikers an das Leben und, ja, die Liebe.
Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren und lebt in Nancy. Seit 2014 arbeitet er als Schriftsteller. Mit seinem zweiten Roman 'Wie später ihre Kinder' gewann er 2018 den Prix Goncourt. 2020 erschien von ihm der Roman 'Rose Royal' und zuletzt sein Roman 'Connemara' (2022).
Ich sage dir, die Literatur kann in Wirklichkeit nichts ausrichten. Was das angeht, lügen alle. Und ich hasse ihren jahrhundertealten Wahn, diesen asthmatischen Traum, all ihre Kunstgriffe, um die Leichen zu kaschieren, ich hasse ihre einbalsamierenden Nacherzählungen. In Wahrheit gibt es weder die wiedergefundene Zeit, diese fixe Idee aus Literaturseminaren, noch die Wiederauferstehung. Alle Bücher sind Totenstädte. Kein Satz, kein Einschub wird mir die Berliner Nacht wiederbringen, unsere heimlichen Nachmittage, die Badener Duschen oder das unfassbare Glück deines Hinterns in meinen Händen. Unsere tausendstündigen Gespräche, die Linke, die Rechte, deine Arbeit, der Feminismus, meine Bücher, deine Kinder und meins, das Petroleum dieser weinseligen Abende brennt nicht mehr, und kein Wort wird etwas daran ändern. Die Literatur weiß nichts über deine Bewegungen, dein Lachen, den Flaum auf deinen Schenkeln, die erstarren, sobald sie erzählt werden, und ich würde ohne Zögern tausend Jahre Literatur gegen eine Sekunde deines Blickes eintauschen, gegen das Geräusch deiner nackten Füße auf dem Parkettboden auf dem Weg ins Bad, gegen das unruhige Klappern deiner Sandalen unter einem Gartentisch. Ich würde Homer tilgen und alles nach ihm, um diesen goldenen Armreifen an deinem Handgelenk wiederzusehen und eine einzige der Sommerstunden unterm Dach im Zentralmassiv noch einmal zu erleben. Schau mir zu, wie ich Sätze bilde, schau, wie ich deine Haut suche und nur die Seiten des Wörterbuchs zu fassen kriege. Schau, wie meine Finger sich abmühen, das Leben nachzuspielen und nur Leere finden an der Stelle, die du warst.
Früher hätten wir lange Briefe geschrieben, wir hätten unsere Erinnerungen danach sortiert, was wir verschweigen wollten und was sagen. Und später als alte Leute hätten wir milde lächelnd auf der Bettkante gesessen und die armseligen Papierfetzen noch einmal gelesen. Aber heute geht alles schnell. Jede Nachricht ist ein Lachen, ein Seitenhieb, ein Bedauern. Wir schicken uns Rasierklingen durch den digitalen Raum. Sie tun ihr hässliches, egoistisches Werk. Sie sagen: Denk an mich. Hör mir zu. Ich existiere, vergiss mich nicht. Sie sagen: Ich bin allein und will dich verletzen. Sie sind neue Falten auf unseren Gesichtern, unnötige Verletzungen. Man bräuchte mehr Zeit. Man bräuchte das Meer und müsste die Distanz überwinden. Man müsste Stille wagen.
Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, ihr diese Texte auf Instagram zu schreiben. So hatte ihre Liebesgeschichte ein Schaufenster. Es war ein Versuch, das Versteckspiel zu überwinden, sich selbst, aber auch den anderen eine Show zu bieten, das Spektakel einer beneidenswerten Beziehung. Ihre Liebe konnte sich am Zuspruch von Freunden nähren, die ins Vertrauen gezogen wurden, von unbekannten Lesern, von unwissenden, gebannten Passanten. Jeder Like brachte seine Fuhre Gips und stabilisierte ihr wackeliges Konstrukt. Ohne diese Vitamine wäre ihrer Verbindung vielleicht die Kraft ausgegangen. Er machte sich interessant, sie war geschmeichelt; die Nummer lief gut. Die Netzwerke dienten ohnehin allen als Falschmünzer. Jeder Tweet hatte seinen Hinterhof. Jede Landschaft trug eine Enttäuschung im Off in sich. Hinter jedem kleinen Ausbruch von Freude konnte man eine Verzweiflung erahnen. An diesem Tag aber mühte er sich nicht, versuchte nicht, zu gefallen. Er schrieb nur: Heute Abend werde ich da sein. Ich möchte alles. Mach dich bereit. Als sie das las, lächelte sie und konnte es dann kaum erwarten.
Er musste sich dieser unerfreulichen Wahrheit stellen: Sie lebte irgendwo ohne ihn, und dort sonnten sich andere in ihren Blicken, ließen ihre schlechten Wortspiele über sich ergehen, gaben ihr Feuer und diskutierten mit ihr. Dort bestritt sie ihr Leben. Sie stieg in Züge und Flugzeuge. Sie fiel abends müde ins Bett und schlief sofort ein, ohne sich abzuschminken. Er stellte sie sich vor, im Restaurant, hinterm Steuer, im Supermarkt und am Telefon, heiter, ehrgeizig, lebensfroh, rasant in ihrem Frauenbusiness, zugleich Mutter, Liebhaberin und Chefin. Aus der Ferne schmückte er diesen Alltag mit Vorzügen aus, die er sicher nicht hatte. Er vermutete andere Männer und dringendere Anliegen. Er dachte: Sie atmet irgendwo, und ich existiere nicht. Sie ist glücklich, und ich schaue Frankreich gegen Peru. Sie geht durch die Straßen, und die Leute sehen sie. Seine egoistische Sorge um dieses in der Ferne gelebte Leben stachelte seine Grausamkeit an. Es gab Momente, da wollte er sie sogar verletzen, sie verlassen, damit sie selbst einmal spürte, wie mies es war, allein zu sein. Und dann verjagte er mit einer Handbewegung diese armseligen Gedanken und schickte ihr eine kurze Nachricht, so einfach wie möglich: Wann kommst du? Ich will dich. Ich denke an dich.
Er dachte: Sie zu lieben, ist ein Fehler. Sie ist nicht zu greifen, und ich bleibe allein mit meinen Büchern, meinen schlechten Gewohnheiten und dem Sommer, der gerade erst anfängt. Zum Glück stellte sich bald eine gewisse Selbstgefälligkeit ein. Die Einsamkeit missfiel ihm eigentlich gar nicht so sehr. Er sah sich mit spröde-vergilbten Moravia-Romanen im Freibad liegen, in aller Ruhe, eine tonnenschwere Sonne auf der Brust, die Schönheit dieser immer neuen Jugend vor Augen, und verging langsam an einem Schmerz, an dem er schon immer gelitten hatte. Dann käme der September. Die Zeit wäre vergangen.
Die Jahre sind vergangen. Nie wieder werden wir dreißig sein, oder wenigstens vierzig. Wir kennen den Kummer, die Falten, wir haben die Blumen in uns abgetötet, sie knospen nicht mehr. Wir werden nie wieder Kinder sein. Erinnerst du dich an die Nächte mitten am Tag, die gestohlenen Minuten, den vorprogrammierten Streit und trotz allem die Zärtlichkeit und im Dunkeln dein Lächeln, das sagte: »Komm«? Erinnerst du dich manchmal an die bleierne Sonne auf dem ewigen Wasser des Mittelmeers, eine perfekte Insel, und wie wild wir waren in der klimatisierten Luft? Erinnerst du dich an den Sonntag und die Liegestühle unter dem alten Kirschbaum? Ich habe alles behalten, deine Hände, deinen Bauch, deinen Mund, das eine weiße Haar und dein Schmollen nach dem Aufstehen, das Meer, die Kreuzworträtsel von Perec, den Schnee, die Wölfe, den Rest. Ich habe eine genaue Erinnerung an deine Beine und deine Tränen, an gewisse sezierende Wörter und gewisse Blicke aus türoffenen Augen und deine Hand in meiner Hand eines Morgens vor dem Bahnhof. Ich habe jedes Detail abgespeichert, deine Zähne, den Duft deiner Haare, deine abgeknabberten Fingernägel, deine überall herumliegenden Kippen, eine Nacht, Weißwein und Meeresfrüchte, deine Raucherinnenstimme am anderen Ende der Leitung, wenn ich schrieb: »Ruf mich an«, deine gebeugte Gestalt in einer Buchhandlung, die Griffe deines Kleiderschranks, der Spiegel, vor dem wir uns zwischen zwei Seufzern alles trauten. Ich trage den immensen Schatz unserer Geschichte in mir, die Dolchstöße, unsere in Schweiß gebadeten Körper, das noch ordentliche Bettzeug und unsere sich verhakenden Finger, die Urlaube, den eilig getrunkenen Kaffee, ein Weihnachten voller Kinder und unsere Redegewohnheiten, unsere eigene Sprache, denn jede Liebe ist ein indigenes Volk mit seinen Riten, seiner Grammatik, seinen Feinden, seinen Opfern und der Aussaat, die einen neuen Frühling beschert. Und in mir trage ich diese Saat, die schwache Möglichkeit einer letzten Ernte. Ich behalte alles, mach dir keine Sorgen. Eines Tages werde ich mit jener perfekten kreisenden Handbewegung die Saat unserer verlorenen Stunden auf den zerpflügten Boden werfen. In der Zwischenzeit übe ich mich in der langsamen Geduld des Neubeginns. Ich warte auf dich und gebe mich ganz diesem schönen Schmerz hin, dem höllischen Schicksal, nur zu leben, um dich zu lieben.
Keine Stadt ist groß genug, um diesen Morgen in sich zu bergen. Der Kaffee schmeckte noch genauso wie am Vortag. Durch die halb geöffneten Fenster folgten die Straßen unermüdlich ihrer unendlichen Partitur. Ich zählte die Brotkrümel auf dem weißen Tischtuch. Es war heiß und schwül wie in einem Roman von Marguerite Duras. Dann kam dein Uber, und das war’s. Übrig bleibt nur die lange Geschichte der Zeit, die vergeht. Das Lachen und der Streit, Duschen spät in der Nacht, Ringe unter den Augen, dein Körper schwer wie Teig, deine Füße, die meine suchten. Jeden Tag machen wir weiter mit unseren unsicheren Karrieren, unserem fransigen Leben. Häuser, Kinderbücher, verregnete Sonntage, diese Millionen Stunden voller Zwänge, im Büro, am Strand oder hinterm Steuer. Überall müssen wir...
Erscheint lt. Verlag | 18.3.2025 |
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Übersetzer | André Hansen, Lena Müller |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Le ciel ouvert |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Affäre • Begehren • Eifersucht • Hotel • Kindheit • Lebensfreude • Leidenschaft • Liebe • Reisen • Sehnsucht • Sohn • Sommer • Vater |
ISBN-10 | 3-446-28404-4 / 3446284044 |
ISBN-13 | 978-3-446-28404-3 / 9783446284043 |
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