Wie schwer wiegt ein Schatten (eBook)
208 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1078-0 (ISBN)
CHRISTIANE WIRTZ, 1970 geboren, studierte Rechtswissenschaften in Berlin. Sie arbeitete als Journalistin für die Süddeutsche Zeitung und den Deutschlandfunk. Als freie Journalistin war sie ein Jahr in Tel Aviv tätig. 2014-2016 war sie stellvertretende Sprecherin der Bundesregierung. Danach wechselte sie als Staatssekretärin ins Bundesjustizministerium. Seit 2020 ist sie wieder freie Journalistin und Autorin. Christiane Wirtz lebt in Berlin. www.christiane-wirtz.de
7
Nach und nach nahm ich die Wohnung in Besitz. Bei Leah, die seit 1947 unter Ionel Corpus gewohnt hatte und sich als Hausmeisterin verstand, hatte ich inzwischen fünfzig Schekel für die Reinigung des Treppenhauses und die Bewässerung des Mispelbaums in unserem Vorgarten bezahlt. Ich hatte die Fenster und den altersschwachen Kühlschrank geputzt, auf dem Kunstmarkt einen großblumigen bunten Stoff für das zerschlissene Sofa gefunden.
An die Wand im Flur hatte ich mit Stecknadeln Fotos und Zeitungsschnipsel gehängt. Eine zweispaltige Meldung aus der Haaretz: »Moses was tripping at Mount Sinai«, ein Psychologie-Professor von der Hebrew-University stellte die These auf, der Prophet habe unter Drogen gestanden, als Gott ihn beim Namen rief. Daneben ein Artikel mit der Überschrift: »What will the Rabbis do?« Er beschäftigte sich mit der Frage, ob religiöse Juden Organe spenden durften. Auf Post-its schrieb ich Empfehlungen und Fundstücke: Giraffe, eine Nudelbar an der Ibn Gabirol. Hanoch Piven, Collage-Künstler aus Tel Aviv. Hukok Beach am See Genezareth. Café Fortuna in Jaffa. Das Restaurant Suzana in Neve Tzedek, Martin hatte mir geraten, bei Sonnenuntergang auf die Dachterrasse zu gehen.
Zwischen die bunten Zettel heftete ich die Skizze, die ich bei den Briefen meiner Mutter gefunden hatte, der Weg nach Ein Harod.
Jetzt lag sie in einer Klarsichthülle neben mir auf dem Beifahrersitz des Mietwagens.
Ich fuhr von Tel Aviv in Richtung Norden bis Afula, das war die eine Linie gewesen, von dort nahm ich die Bundesstraße 71 in Richtung Bet Sche’an, das war die andere. Eine Woche zuvor hatte ich Ruth eine Mail geschrieben, kurz darauf hatte sie geantwortet und mich zu Pessach eingeladen. Am Telefon hatte sie bestätigt, dass es die Tankstelle an der 71 noch gebe, dort der Abzweig zum Kibbuz sei. Linker Hand lagen die Fischbecken, die sich aus dem Harod speisten. Nach ihm war der Kibbuz benannt. Ein Harod hieß so viel wie die Quelle des Harod. Er mündete in den Jordan.
»Ruf an, wenn du am Tor bist«, hatte sie gesagt. »Ich hole dich ab.«
Sie kam in einem dieser Wagen, mit denen Golfer übers Green fuhren.
»Mia!«, rief sie schon von Weitem. »Schön, dass du da bist!«
Ihre grauen Locken waren kinnlang, fielen ihr dicht ins Gesicht. Sie trug einen dunkelroten Lippenstift. Meine Mutter war Jahrgang 44, also musste auch Ruth in ihren Sechzigern sein.
Sie stieg aus und schloss mich in die Arme.
»Lass dich mal ansehen«, sagte sie, legte die Hände auf meine Schultern und schob mich ein Stück zurück. »Du siehst ihr ähnlich.«
***
Am nächsten Morgen ging ich durch die ruhigen Straßen, vorbei an dem Schweinestall und den Kühen auf der Weide. Ruths Atelier lag am Rande des Kibbuz. Von außen sah es aus wie ein Bunker, ein flacher Bau, rechteckig, um den sich ein Streifen Oberlichter legte. Eine Treppe von acht Stufen führte zum Eingang, einer Tür aus schwerem Metall. Ich drehte mich noch einmal um und sah zurück zum Kibbuz, der Kuhdung stieg mir in die Nase. Mir schien es ein friedlicher Ort zu sein.
Ruth stand in dem großen Raum und betrachtete ihre Zeichnungen. Sie hingen an den Wänden, großformatige Arbeiten, sie zeigten abstrakte Landschaften oder architektonische Skizzen, so genau konnte ich das nicht erkennen.
»Störe ich?«, fragte ich.
»Gar nicht«, sagte sie. »Willst du einen Kaffee?«
Neben zwei Hockern, die von Farbklecksen bedeckt waren, standen ein Wasserkocher und einige angeschlagene Becher, daneben ein halb volles Glas Nescafé. Ich hörte das Wasser, das sich brodelnd erhitzte, und ging durch den Raum, blieb vor dem leeren Blatt an der Wand stehen. Es war vielleicht einen Meter zwanzig mal zwei Meter groß und hatte die Farbe von hellem Lehm.
Ruth kam zu mir.
»Es ist immer wieder ein Kraftakt. Ich bin neugierig, was passiert, wohin mich das Blatt führt, und gleichzeitig habe ich Angst.«
»Angst, wovor?«
»Es ist ein unbestimmtes Gefühl, diffus, ich fühle mich im freien Fall. Da ist nichts, was mich hält, nur der Pinsel in meiner Hand«, sagte sie. »Als hätte ich nie zuvor etwas gewusst oder getan.«
»Hört das nie auf?«
»Die Angst?«
»Du machst das doch schon so lange.«
Sie überlegte. »Weißt du, ich habe hier eine gute Freundin gefunden, Nurit, sie beschäftigt sich mit altem Wissen, mit der Kabbala, dem Buddhismus«, sagte sie. »In der Kabbala jedenfalls sieht man in der Angst eine positive Kraft, um sein volles Potenzial zu entfalten.« Sie lachte. »Oder um es einfacher zu sagen: Irgendwann habe ich mir selbst versprochen, der Angst nicht nachzugeben und mich von der Neugierde leiten zu lassen.«
Sie ging zum Wasserkocher, um den Nescafé aufzugießen.
»Milch?«
»Gerne.«
Ich setzte mich zu ihr auf einen der Hocker.
»Zeichnest du?«
»Früher als Kind, aber irgendwann habe ich aufgegeben, ich war nie sonderlich gut. Stattdessen habe ich Collagen gemacht und so kleine Schaukästen. Darüber konnte ich die Zeit vergessen. Ich saß auf dem Boden und schob Passfotos, Glanzbilder, Kinokarten und Beipackzettel über den Teppich«, sagte ich, spürte, wie sich die Sehnsucht einschlich, schon seitdem ich das Atelier betreten hatte, sich mit dem Geruch von Terpentin und Farbe verband. Ich ließ meinen Blick über den Tapeziertisch in der Mitte des Raumes gleiten, Spuren schwarzer Farbe, Pinsel in einer verbeulten Lebkuchendose, Rollen von Kreppband. »Seit Jahren sammele ich Zeitungsschnipsel, getrocknete Blüten und Visitenkarten. Immer hoffe ich auf den Moment, in dem ich sie neu ordnen, Collagen daraus machen kann. Bis sie beim nächsten Umzug im Altpapier landen.«
»Es sei denn …« Sie sah mich an. »Hier ist Platz für zwei.«
»Vor einigen Wochen, während ich mit Paul die Mendelstraße ausgeräumt habe, kam mir tatsächlich mal wieder eine Idee.«
In der Handtasche meiner Großmutter hatte ich eine Postkarte gefunden, sie war in der Mitte gefaltet, das Papier schon weich, die Farbe verblichen. Eine Lufthansa über den Wolken. Auf die Rückseite hatte ich in großen Buchstaben geschrieben: »Ich habe Dich lieb. Deine Mia«. Als Kind war ich häufig nach London geflogen, ein »unaccompanied minor«, mit einem Brustbeutel in Lufthansagelb um den Hals. Ich besuchte meinen Vater in Oxford. Anfangs hatte ich Angst vorm Fliegen, daran konnte ich mich erinnern, an die schlaflosen Nächte davor, aber meine Großmutter ließ jede meiner Reisen zu einem Abenteuer werden. In ihrer Tasche hatte ich auch einen Handspiegel gefunden. Vielleicht konnte ich eine Installation daraus machen, sodass beide Seiten der Karte sichtbar waren.
»Es könnte eine schöne Erinnerung werden«, sagte ich.
Ruth reichte mir den Kaffeebecher und sah mich an. »Wie ging es ihr zuletzt?«
»Sie lebte in der Mendelstraße allein, eine Nachbarin hat täglich nach ihr gesehen, ich bin, sooft ich konnte, aus Berlin gekommen. Es war nicht leicht. Zum Schluss konnte sie kaum noch laufen, die Knie machten ihr zu schaffen, dabei bewegte sie sich für ihr Leben gern«, sagte ich. »Aber sie hat sich nie beklagt, wollte immer wissen, was in meinem Leben vor sich ging.« Wenn ich am Mikrofon saß und moderierte, hatte sie in ihrem Sessel neben dem Radio gesessen. Sonntags hatte sie sich am Telefon nach meinem Dienstplan erkundigt, meine Sendungen mit einem Kugelschreiber im Programmheft markiert. Es lag auf dem Tischchen neben dem Radio. »Eines Nachts ist sie im Bad gestürzt, Oberschenkelhalsbruch, dann ging es ganz schnell.«
»Ist sie zu Hause gestorben?«
»Im Marienhospital.«
»Warst du bei ihr?«
Ich nickte und dachte an das Zimmer auf Station Elisabeth, die Wände und Vorhänge, Bettlaken und Federbetten, alles makellos weiß. Nur über dem Bett hing ein schlichtes Kreuz aus Holz. Über Stunden hatte ich ihre Hand gehalten, das Ave-Maria gesprochen und das Vaterunser, mitunter hatten sich ihre Lippen bewegt. Bis Schwester Karmelita schließlich ins Zimmer kam. Sie legte den Arm um meine Schulter, führte mich hinaus. Wir gingen nur einmal um den Block, das rote Backsteingebäude, auf der Kaiserstraße fuhr die erste Straßenbahn. Als wir zurückkamen, war meine Großmutter tot.
»Sie ging in dem festen Glauben, alle wiederzusehen.«
»Eine schöne Vorstellung«, sagte Ruth.
»Darf ich mir ein Glas Wasser nehmen?« Ich deutete auf eine Flasche, die am Boden neben einer der Säulen stand.
»Sicher.«
»Du auch?«
Ich stand auf, goss zwei Gläser ein, reichte ihr eins. »Wie kam es eigentlich, dass du damals hiergeblieben bist?«
»Uri«, sagte sie, »die Liebe. Sie ist wie eine Naturgewalt über uns hereingebrochen. Ich war als Freiwillige hergekommen, ein Jahr wollte ich bleiben und dann in Düsseldorf an der Akademie Kunst studieren. Ich hatte sogar schon einen Platz. Dann kam Uri, ich war auf dem Feld, das muss im Herbst gewesen sein, jedenfalls ernteten wir gerade die Orangen. Uri war zu der Zeit in der Armee, und solange sie nicht in den Krieg mussten, halfen die Soldaten in den Kibbuzen. Er kam ja selbst aus einem. Jedenfalls sah er mich an, da draußen in dem Orangenhain, und wandte den Blick nicht mehr ab.«
»And the rest is history.«
»Ach was, wir waren zusammen und wieder getrennt. So ging das einige Jahre hin und her. Du hast ihn gesehen, er ist ein echter Kibbuznik.« Als ich ihn am Abend zuvor zum ersten Mal gesehen hatte, stand Uri am Grill, er drehte sich zu mir und strahlte mich an. Ich mochte ihn auf den ersten Blick. »Und ich träumte von Kandinsky, davon, eines Tages selbst eine große Künstlerin zu werden. Auf keinen Fall wollte ich mein Leben lang mit...
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2025 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Beckett • Depression • Gazastreifen • Heimat • Journalismus • Kibbuz • Lebensfreude • Liebesbeziehung • Mutterliebe • Negev-Wüste • Neuanfang • Radio • Selbstmord • Suche • Suizid • Vertreibung |
ISBN-10 | 3-7558-1078-6 / 3755810786 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1078-0 / 9783755810780 |
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