Der Wolf im dunklen Wald (eBook)

448 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30910-7 (ISBN)
Nach einer großen Gesellschaftsjagd im Wendland wird einer der Teilnehmer vermisst. Wenig später wird der Mann grausam ermordet auf einer Lichtung aufgefunden. Das Opfer wurde mit sieben massiven Messerstichen getötet, wovon bereits der erste tödlich war. Die Heftigkeit, mit der die Tat ausgeführt wurde, lässt Carla Seidel ein Verbrechen aus Rache vermuten. Unterdessen hat Carlas Tochter Lana andere Sorgen: Warum hat ihr Schwarm Fabian sie in der Nacht vor dem Mord mit in den Wald genommen? Weiß er mehr, als er zugibt? Noch bevor sie ihn zur Rede stellen kann, geschieht ein weiterer Mord. Während Carla fieberhaft nach dem Täter fahndet, hat dieser bereits sein nächstes Opfer im Visier. Und Lana kommt ihm dabei gefährlich nahe ...
Sia Piontek ist das Pseudonym einer ehemaligen Verlagsprogrammleiterin, die bereits mehrere Romane veröffentlicht hat. »Die Sehenden und die Toten« ist der Auftakt ihrer im Wendland angesiedelten Kriminalromanreihe um die Ermittlerin Carla Seidel. Wenn sie nicht gerade schreibt, arbeitet Sia Piontek als Schreibcoach und freie Lektorin. Sie lebt mit ihrer Tochter in Hamburg und im Wendland.
KAPITEL 1
Mit Schwung warf Carla ihre durchgeschwitzten Sachen in die Sporttasche und fuhr sich mit der Hand über das noch nasse Haar. Als sie beim Nacken ankam und die ausrasierten Spitzen fühlte, hielt sie inne. Wann würde sie sich endlich daran gewöhnen?
Knapp zwei Monate war es nun schon her, dass sie Mandy’s Schnittchen in Dannenberg betreten hatte, weil sie ihr schulterlanges, in glatten Strähnen herabhängendes Haar in etwas »Frischeres« verwandeln wollte. Sie hatte dabei auch an »femininer« gedacht und vielleicht »flotter«, das aber nicht gesagt. Mandy, eine kräftige, von den Handgelenken bis zum Hals tätowierte junge Frau mit hellrosafarbenen Locken, die auch etwas mehr Kontur hätten vertragen können, hatte wissend genickt und was von »fresh look« gemurmelt. Spätestens da hätte Carla stutzig werden und den Salon direkt wieder verlassen müssen. Doch sie hatte sich nicht getraut. Stattdessen hatte sie sich auf den Stuhl mit dem rissigen Kunstlederbezug gesetzt und abgewartet.
Herausgekommen war etwas, das man neutral als »asymmetrischen Kurzhaarschnitt« beschreiben konnte und das sie selbst ein bisschen an einen Punk erinnerte. Aber ihre Freundin Swantje, der sie ein Foto geschickt hatte, fand den neuen Look viel »selbstbewusster und dynamischer«. Und Lana, ihre bald 18-jährige Tochter, hatte nach einem prüfenden Blick anerkennend genickt. Maximalreaktion für die eher mürrisch in sich gekehrte Spätpubertierende.
Also beließ sie es dabei und rasierte sich die kurze Seite alle zwei Wochen nach.
Carla schulterte ihre Tasche und verließ das Kampfsportstudio am nördlichen Rand der Dannenberger Innenstadt. Nach dem grausamen Mord an dem jungen Mann im August, bei dessen Aufklärung sie selbst fast noch Opfer der psychopathischen Täterin geworden wäre, trainierte sie wieder regelmäßig. Boxen, Taekwondo und ein bisschen Tai-Chi. Das tat ihr mental gut, aber sie fühlte sich auch körperlich besser.
Es war noch früh. Die ohnehin nie besonders stark frequentierte Hauptstraße war menschenleer. Carla sah nach oben in den hellblauen Himmel und zu den Kronen der Kastanien, deren Blätter sich an den Rändern bereits braun färbten. Überall lagen die glänzenden braunen Kugeln mit dem weißen Fleck herum – ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Herbst Einzug gehalten hatte, selbst wenn es tagsüber noch so warm war wie sonst im Hochsommer und sie auch jetzt nur mit kurzärmligem T-Shirt und dünner Strickjacke unterwegs war. Über den Feldern, die direkt hinter der Jeetzelallee begannen, verdichtete sich der Frühnebel zu weißen Schwaden. Erst um die Mittagszeit hatte die Sonne genug Kraft, die aufsteigende Feuchtigkeit über den Wiesen verdunsten zu lassen.
Carla atmete mit geschlossenen Augen einmal tief ein und aus, bevor sie den kurzen Weg zur Polizeistation einschlug. Ihren Polo – den sie noch immer nicht gegen ein neueres Modell eingetauscht hatte, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte – ließ sie auf dem Parkplatz des Sportstudios stehen.
Normalerweise war die kleine Wache an den Wochenenden nicht besetzt, aber Constantin Becker, Leiter der Station und offiziell ihr Vorgesetzter, hatte sie gebeten, an diesem Vormittag ausnahmsweise vor Ort zu sein. Die Jagdsaison hatte begonnen, und Heiko von Boenning, vielleicht aber auch sein Schwiegervater, Maximilian von Boenning, so genau wusste man das nicht, hatte im Dragahner Forst zu einer groß angelegten Gesellschaftsjagd eingeladen. Carla kannte sich damit nicht aus, aber Becker wusste zu berichten, dass es bei solchen Drückjagden doch immer wieder zu Zwischenfällen kam, bei denen die Polizei gefragt war. Manchmal verirrten sich Treiber im Wald, ein Spaziergänger, der die vorgeschriebenen Warnschilder nicht gesehen hatte, rief bei ihnen an und musste beruhigt werden. Meistens nichts Gravierendes.
Da der Dragahner Forst und auch das Gut Karwitz des Freiherrn von Boenning buchstäblich um die Ecke lagen, hatte Becker um Notbesetzung gebeten. Für alle Fälle. Und nur bis um zwölf. Carla hatte sich bereitwillig gemeldet.
Zu Hause wurde sie nicht gebraucht – Lana würde sich nicht vor Mittag nach unten bewegen, und mit Mailo, ihrem ungarischen Vorstehhund, den sie im August adoptiert hatten, war sie bereits vor dem Training eine kleine Runde gegangen.
Im Café Zwei Schwestern holte sie sich noch schnell ein Croissant und einen Cappuccino to go, bevor sie vom Schlossgraben auf den Marktplatz abbog und vor dem Eingang der kleinen Polizeistation haltmachte. Das alte rot verputzte und mit Efeu bewachsene Gebäude war ein recht lauschiger Ort dafür, dass man es drinnen andauernd mit Diebstahl, Einbruch und Betrug zu tun hatte. Allerdings auch mit wenig Schlimmerem. Die meisten Protokolle, die Carla in den letzten Monaten geschrieben hatte, waren auf Straßenkriminalität, Sachbeschädigung oder geklaute Fahrräder zurückzuführen. Ab und an gab es mal eine Kneipenschlägerei, aber sonst zum Glück wenig Gewaltverbrechen. Auch das war ein Grund gewesen, warum Carla sich gut zweieinhalb Jahre zuvor aus dem Hamburger Morddezernat ins friedvolle Wendland hatte versetzen lassen.
Der andere war Lanas Vater, Sören Arp. Aufstrebender charmanter Arzt am Klinikum Barmbek in Hamburg. Sie hatte sich damals sofort in ihn verliebt. Sie war so jung gewesen mit ihren Anfang zwanzig. Er hatte sie um den Finger gewickelt, und Carla hatte es geschehen lassen. Ein paar Jahre ging es gut. Doch dann setzte sich die Spirale aus Dominanz, Wut, Bestrafung, Ohnmacht, Versöhnung, Erniedrigung und wieder Versöhnung in Gang. Immer schneller wechselten die Phasen, immer brutaler wurden die Übergriffe. Bis zu dem Tag vor fünf Jahren, als Lana sie blutüberströmt am Fuß der Treppe ihres Einfamilienhauses gefunden hatte. Carla war nicht sicher, ob sie den Angriff ohne die Hilfe ihrer damals 12-jährigen Tochter überlebt hätte. Und dieser Punkt markierte den Beginn ihres Ausstiegs aus dem zerstörerischen Beziehungskarussell. Jahrelange Therapie, gerichtlich erwirktes Kontaktverbot, was sie selbst anging, ein ausgesetztes Umgangsrecht für Lana und schließlich der Umzug ins Wendland waren die folgenden Schritte gewesen.
Hier hatten sie beide, sowohl Lana als auch sie, ein wenig zur Ruhe kommen können.
Bis zu Carlas erstem Mordfall im August. Da hatte sich Sören wieder in ihr Leben gemischt. Subtil, unauffällig. Nur ein Anruf. Ein Glückwunsch zu ihrem ersten Ermittlungserfolg im Wendland. Aber Carla wusste genau, was das heißen konnte.
Und auch deswegen hatte sie den Dienst an diesem Morgen so bereitwillig übernommen. Um vom gesicherten Netzwerk des Polizeicomputers aus ein wenig zu recherchieren: In fünf Tagen wurde Lana volljährig. Und damit endete das Umgangsverbot! Wenn Sören wollte, konnte er danach ungestraft Kontakt zu seiner Tochter aufnehmen. Wie Lana zu dem Ganzen stand, hatten sie noch nicht besprochen. Das musste Carla dringend tun.
Sie legte ihre Tasche auf den Schreibtisch, fuhr den Computer hoch und drehte die Heizungen auf. In den alten Mauern war es morgens doch schon ganz schön frisch. Den Pappbecher in der Hand, setzte sie sich an ihren Platz und beobachtete einen Moment den blau blinkenden Cursor. Dann gab sie das Suchwort ein: Sören Arp. Sie hatte es lange nicht getan. Ihre Hände zitterten leicht.
Sofort poppten ein paar Bilder auf, die ihren strahlenden Ex-Mann zeigten, das blonde, leicht gewellte, nach hinten gekämmte Haar, die wachen blauen Augen. Carla spürte einen Stich in der Magengegend, den sie nicht genau zu deuten wusste. Sören auf einem Ärztekongress im August in Flensburg, während einer Preisverleihung in Hamburg, auf dem Regattaball des Ruderclubs. Und wie es schien, hatte er weiter Karriere gemacht. Er leitete nun die Fachabteilung für Hand- und Mikrochirurgie des BG Klinikums Bergedorf. Wie es schien, genoss das Krankenhaus hier internationales Renommee. Sören, der Spezialist für Hände, die er selbst nicht unter Kontrolle hatte … Carla fuhr mit dem Finger über die kleine Erhöhung an ihrer Oberlippe. Die Narbe erinnerte sie jeden Morgen daran, wozu dieser Mann fähig war. Sie sollte die Seiten einfach schließen und nach Rezepten für einen Sonntagsbraten googeln. Das wäre ihrem Seelenheil zuträglicher. Stattdessen holte sie sich ein Glas Wasser und betrachtete die Bilder genauer. Auf mindestens drei meinte sie im Hintergrund dieselbe Frau zu erkennen. Klein, zierlich, brünett. So wie sie. Seine Neue? Sie hoffte für die Frau, dass dem nicht so war.
Carla öffnete ein weiteres Fenster und rief gefühlt zum hundertsten Mal das Gesetz zum »Schutz vor Gewalttaten und Nachstellungen« auf. Da stand es schwarz auf weiß. Es war Sören verboten, sich auch nur in ihrer Nähe oder an Orten, die sie oft besuchte, aufzuhalten. Dafür hatte sie einen gültigen gerichtlichen Beschluss. Aber dieses Kontaktverbot galt nur für sie. Lana schützte es nur bedingt … Erneut fühlte Carla die innere Unruhe in sich aufsteigen, die ihr zuletzt immer häufiger zu schaffen machte. Sie holte ihr Handy aus der Tasche. Kurz nach neun. Sie schrieb Lana eine WhatsApp: »Hallo Schatz. Bin noch auf der Wache und gegen Mittag zurück. Alles o. k.? Wünsche fürs Essen?«
Carla wartete, bis die Nachricht gesendet war, und wunderte sich über den einen Haken. Normalerweise hatte Lana ihr Telefon um diese Zeit bereits eingeschaltet. Mit einem unterdrückten Seufzer legte sie das Handy zur Seite, schloss nun wirklich alle auf dem Bildschirm geöffneten Reiter und widmete sich den Internetbetrügereien, die sich im Landkreis zuletzt gehäuft hatten.
Um kurz nach elf war sie auch damit durch. Nachdem sie...
Erscheint lt. Verlag | 19.3.2025 |
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Reihe/Serie | Ein Carla-Seidel-Krimi |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | carla seidel • eBooks • Heimatkrimi • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Mutter-Tochter-Beziehung • Nele Neuhaus • Regionalkrimi • weibliche Ermittlerin • Wendland |
ISBN-10 | 3-641-30910-7 / 3641309107 |
ISBN-13 | 978-3-641-30910-7 / 9783641309107 |
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