Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt (eBook)
111 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78227-9 (ISBN)
Gibt es von uns Menschen und unseren Gefühlen unabhängige moralische Wahrheiten? Können wir sie erkennen? Und gibt es in der Menschheitsgeschichte einen moralischen Fortschritt hin zu diesen Wahrheiten? Das sind die großen Fragen, denen sich der weltberühmte amerikanische Philosoph Thomas Nagel in seinem neuen Buch widmet.
Nagel setzt sich mit aktuellen Forschungen der Moralpsychologie, der Kognitionswissenschaft und der Evolutionären Psychologie auseinander, die unseren Zugang zu moralischem Wissen sowie die Rolle, die Gefühle dabei spielen, empirisch untersuchen. Solche subjektivistischen und reduktionistischen Darstellungen der Moral können ihn jedoch nicht überzeugen - eine Alternative bietet der moralische Realismus. Dieser sieht sich allerdings mit dem historischen Wandel der Moral konfrontiert, die nicht die zeitlose Gültigkeit wissenschaftlicher Wahrheiten besitzt. Vielmehr sind moralische Wahrheiten auf ganz spezifische Weise mit historischen Entwicklungen verknüpft, wie Nagel in diesem ebenso konzisen wie tiefschürfenden Buch zeigt.
Thomas Nagel, geboren 1937, ist Professor Emeritus für Philosophie und Recht an der New York University. Er ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences und Corresponding Fellow der British Academy. 2008 wurde er mit dem Rolf-Schock-Preis für Philosophie sowie dem Balzan-Preis ausgezeichnet. Sein Buch <em>Geist und Kosmos</em> war ein internationaler Bestseller.
41
II
Moralische Wirklichkeit und moralischer Fortschritt
1.
Welche Art des Denkens über den moralischen Fortschritt ist richtig? Die Geschichte der Menschheit umfasst vielfältige Arten von (oft unterbrochenem oder wieder zurückgedrehtem) Fortschritt: wissenschaftlichen, technischen, künstlerischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt. Ich bin an der Form von moralischem Fortschritt interessiert, die als ein Vorankommen beim Verständnis oder bei der Erkenntnis betrachtet werden kann, und nicht bloß beim Verhalten. Ein Vorankommen dieser Art beinhaltet eine gewisse Form von Realismus im Hinblick auf die moralische Wahrheit – es beinhaltet, dass moralische Aussagen unabhängig von dem, was wir glauben, wahr oder falsch sein können und ein Wandel der moralischen Überzeugung folglich als objektiv richtig oder unrichtig beschrieben werden kann.[12] Eine Art des Fortschritts wür42de darin bestehen, eine falsche moralische Überzeugung zugunsten einer wahren Überzeugung aufzugeben. Eine andere Art bestünde darin, bei etwas, zu dem man zuvor keine Meinung hatte, weil sich die Frage vielleicht nicht gestellt hatte, zu einer wahren Überzeugung zu gelangen. Solche Veränderungen können entweder bei den Einstellungen eines Individuums oder bei den geteilten Einstellungen einer Gemeinschaft erfolgen. Aber was bedeutet es, einen solchen moralischen Wandel als Fortschritt – als ein Vorankommen in unserem Erfassen der Wahrheit – zu beschreiben?
Die Frage lässt sich zuspitzen, indem man moralischen Fortschritt mit naturwissenschaftlichem Fortschritt vergleicht. Einem realistischen Verständnis der Wissenschaft zufolge enthüllt naturwissenschaftliches Wissen die Wahrheit über eine natürliche Welt, die unabhängig von uns und unseren Überzeugungen über sie existiert. Eine wissenschaftliche Entdeckung in der Physik, Chemie oder Biologie offenbart etwas über die Welt, das lange wahr war, bevor wir es entdeckten, und auch dann wahr gewesen wäre, wenn wir es nie entdeckt hätten. Wenn die Menschen nie die Chemie entwickelt hätten – ja sogar dann, wenn die Menschen nie existiert hätten –, würde es dennoch wahr sein, dass Salz Natriumchlorid ist. Der wissenschaftliche Fortschritt besteht zumindest in den grundlegenden Naturwissenschaften in der Auffindung von Wahrheiten, die schon die ganze Zeit wahr gewesen sind, weil die Welt 43immer schon mit diesen grundlegenden charakteristischen Eigenschaften existiert hat. Bei der moralischen Wahrheit, falls es eine solche gibt, geht es allerdings nicht um die natürliche Ordnung – um die Struktur der Welt oder deren Zusammensetzung oder was in ihr passiert.
Worum geht es dann bei ihr? Wenn es sich um ein platonisches Reich handeln würde, in dem moralische Wahrheiten ihr Sein haben, ein Reich, das metaphysisch von der natürlichen Welt und den Menschen in ihr geschieden ist, zu dem wir aber irgendwie kognitiven Zugang haben, dann könnte daraus folgen, dass die moralische Wahrheit zeitlos ist und der moralische Fortschritt ebenso wie naturwissenschaftlicher Fortschritt die Entdeckung dessen ist, was die ganze Zeit schon wahr war. Doch Realismus im Hinblick auf die Moral, so wie ich ihn verstehe, impliziert kein solches metaphysisches Bild. Stattdessen sollten wir uns die Moral als einen Aspekt der praktischen Vernunft vorstellen: Sie betrifft das, wofür wir bestimmte Arten von Gründen haben, es zu tun und nicht zu tun. Wir sollten uns diese Gründe nicht ähnlich wie chemische Elemente vorstellen, die darauf warten, entdeckt zu werden. Tatsachen über Gründe sind vielmehr irreduzibel normative Wahrheiten über uns selbst und andere Personen, und der Realismus ist einfach die Position, dass deren Wahrheit nicht davon abhängt, ob wir sie glauben. Moralisches Wissen ist einer normativ realistischen Auffassung zufolge eine Sorte von Überzeugun44gen über unsere Handlungsgründe, die mit solchen Wahrheiten übereinstimmt.
Manchmal werden wir sagen wollen, dass der moralische Fortschritt darin besteht, zur Akzeptanz einer moralischen Überzeugung zu gelangen, die immer schon wahr war, oder zur Preisgabe einer Überzeugung zu gelangen, die immer schon falsch war; da es sich nun aber um Wahrheiten handelt, welche nicht die Ordnung der Natur betreffen, sondern die praktische Vernunft, muss sich unser Verständnis, wie dies vor sich geht, davon unterscheiden, wie es in dem naturwissenschaftlichen Fall dazu kommt. Wenn der normative Bereich ein Bereich der Gründe ist, muss der moralische Fortschritt einer gewandelten moralischen Einstellung gleichgesetzt werden, für die ein Grund besteht, sie zu übernehmen. Wenn dieser Grund schon lange Zeit existiert hat, bevor er erkannt wurde, können wir sagen, dass wir zu einer neuen moralischen Überzeugung gelangt sind, die immer schon wahr war. Dies wird aber nicht in jedem Fall zutreffend sein. Jeder Grund für einen Wandel in der moralischen Einstellung ist an die Personen und die Zeit in der Moralgeschichte geknüpft, für die er bestimmt ist. Die Existenz eines Grundes in der Gegenwart muss nicht bedeuten, dass derselbe Grund zu allen Zeiten existiert hat. Ob er in der Vergangenheit existiert hat, ist eine weitere Frage, deren Beantwortung von den damaligen Umständen abhängen wird und davon, welche Überlegungen den Personen zu jener Zeit verfügbar oder zugänglich waren.
45Es besteht ein starker Unterschied zur Naturwissenschaft. Im Jahr 400 vor unserer Zeit hätte niemand verstehen können, geschweige denn Grund gehabt zu glauben, dass Salz Natriumchlorid ist. Es sollte noch ein langer Weg in der wissenschaftlichen Theorie und im Experimentieren nötig sein, um zu den Vorstellungen von Elementen und chemischen Verbindungen zu gelangen, die es dann erlaubten, eine solche Aussage zu formulieren und zu bestätigen. Und doch war sie damals ebenso wahr wie heute.
Im Gegensatz dazu lässt sich die Wahrheit einer moralischen Aussage nicht davon unterscheiden, dass es einen Grund für die Menschen gibt, sich in der Weise zu verhalten, die sie vorschreibt. Darüber hinaus – und das ist entscheidend – bin ich wie Joseph Raz der Meinung, dass es einen solchen Grund nicht geben kann, bevor er denjenigen zugänglich ist, für die er gelten soll. »Moral ist inhärent verständlich«, sagt Raz, und »die Verständlichkeit der Moral erfordert es, dass die Moral den Menschen, für die sie gelten soll, im Prinzip zugänglich sein sollte.«[13] Mit anderen Worten, ein moralischer Grund kann nur dann für sie gelten, wenn sie Grund haben zu glauben, dass jener Grund existiert. 46Damit ist nicht gesagt, dass sie ihn tatsächlich erkennen müssen, damit er existiert: Das wäre mit dem Realismus unvereinbar. Die Menschen haben manchmal Gründe, nicht an die Existenz moralischer Gründe zu glauben, die wirklich existieren, oder sie haben Gründe, an die Existenz moralischer Gründe zu glauben, die nicht wirklich existieren – Gründe religiöser Autorität zum Beispiel. Wenn jedoch eine solche Situation gegeben ist, muss die moralisch richtige Position durch Gründe gestützt werden, die zugänglich sind – durch Gründe, bei denen dieselben Menschen irgendeinen Grund haben, sie zu akzeptieren, selbst wenn sie sie in dem Moment nicht anerkennen. Gründe können nicht vollkommen verborgen sein, wie die chemische Zusammensetzung von Salz in der fernen Vergangenheit. Ein Weg zu ihrer Erkenntnis muss für die Personen, für die sie bestimmt sind, zu jener Zeit verfügbar sein – nicht erst nach Jahrhunderten geschichtlicher Entwicklung.
2.
Was mich im Hinblick auf den moralischen Fortschritt interessiert, ist, ob wir solche Fortschritte im normativen Verständnis – die Entdeckungen von etwas darstellen, das immer schon wahr war, weil die relevanten Gründe längst zugänglich waren – von anderen Fortschritten unterscheiden können, die nicht so beschrie47ben werden können, weil die relevanten Gründe erst in jüngster Zeit zugänglich wurden.
Da mein...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2025 |
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Übersetzer | Karin Wördemann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Moral Feelings, Moral Reality, and Moral Progress |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Ethik |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuerscheinung • Ethik • Moral • Moral Feelings Moral Reality and Moral Progress deutsch • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Philosophie |
ISBN-10 | 3-518-78227-4 / 3518782274 |
ISBN-13 | 978-3-518-78227-9 / 9783518782279 |
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