Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-02012-2 (ISBN)
Sarah Lorenz wurde 1984 in Eckernförde geboren, lebt und schreibt auf St.?Pauli. Sie ist gelernte Buchhändlerin und studiert zurzeit Soziale Arbeit. Seit 2023 schreibt sie in der taz die Kolumne PMS-Ultras. Im Internet bringt sie unter dem Pseudonym Buchi Schnubbel allabendlich eine Kleinstadt an Menschen zu Bett (ca. 14.000 Follower). «Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken» ist ihr Debütroman.
Sarah Lorenz wurde 1984 in Eckernförde geboren, lebt und schreibt auf St. Pauli. Sie ist gelernte Buchhändlerin und studiert zurzeit Soziale Arbeit. Seit 2023 schreibt sie in der taz die Kolumne PMS-Ultras. Im Internet bringt sie unter dem Pseudonym Buchi Schnubbel allabendlich eine Kleinstadt an Menschen zu Bett (ca. 14.000 Follower). «Mit dir, da möchte ich im Himmel Kaffee trinken» ist ihr Debütroman.
Unter fremdem Dach
Nachts hör ich den Regen
Unter fremdem Dach.
Regen … Regen …
Wie hältst du mich wach
Unter fremdem Dach.
So rauschte der Regen
In jenem Jahr …
Durch singende Birken
In triefendem Haar,
In meiner Heimat
Fontänen.
Nun rauscht er mir nimmer
Von Quelle und Bach.
Nun rauscht er mir immer
Von Tränen.
Regen … Regen …
Unter fremdem Dach
Hab ich zu lang,
Zu lang gelegen.
Ach, Mascha, weißt du, welcher Gedanke mich seit Stunden begleitet? Es ist jener, dass du in einer Stadt, die dir nie Heimat war, unter einem Stein begraben liegst. Weit entfernt von deinem Ehemann Chemjo, weit entfernt von deinem Sohn Steven. Drei Gräber auf drei Kontinenten. Fremde Dächer über euch. Schweizer, israelisches, nordamerikanisches Gestein und darunter schon lange nicht mehr ihr. Welch herzloses Sinnbild für das Leben einer, die 67 Jahre lang auf der Suche nach einem vertrauten Dach war. Ich wünsche dir, dass du, dass ihr im Danach ein Heim gefunden habt. Dass du jeden Dachziegel, auf den du den Regen prasseln hörst, mit Ankunft und Heimat verbinden kannst.
Ich kann dir so viel erzählen vom Existieren unter fremden Dächern. Weißt du zum Beispiel, was ich liebe? Ganz, ganz doll liebe? Kleine Häuser.
Ich sehe die und bin überzeugt, so schlecht ist alles nicht, ich bin sicher in diesem unendlichen Universum, solange es kleine Häuser gibt. Was du auch nicht wissen kannst: Ich habe in solchen gelebt. Es waren zwei Stück. Was muss ich mich dort sicher gefühlt haben.
Das größte Haus, in dem ich je gewohnt habe, war auch das kälteste. Und sicher war man dort auch nicht. Es war nach einer biblischen Figur benannt. So viele schöne Namen, und dann muss es einer aus der Bibel sein. Vielleicht liegt es daran, dass die Kirche die Miete gezahlt hat und den Strom und die Heizung und die Gehälter und das Schweigen. Das große Haus war ein eigener, nahezu hermetischer Kosmos. Sowas ist gefährlich, da fehlen Kontrollinstanzen, Korrektive.
Elf Jahre war ich alt, als ich von der Sicherheit kleiner Häuser in die Kälte des Riesenhauses geworfen wurde. Schwer zu begreifen, dass dafür gerade mal elf Jahre ausreichten. Schwindlig wird einem da. Du musst dich jetzt entscheiden, hat sie gesagt, dein Vater oder ich? Zu wem willst du Kontakt haben?
Das Eingangstor reichte mir bis zur Brust, aber bevor ich es durchschreiten konnte, musste ich eine Entscheidung fällen. Zu dir, zu dir. Da konnte sie noch so kalt sein, ich wollte immer zu ihr. Nachdem meine Mutter und ich durch das Tor gegangen waren, standen wir auf einem großen Parkplatz. Für Autos, aber im großen Haus wurden dann die Kinder geparkt. Alles ein Parkplatz. Aber immerhin Platz, zu Hause war ja keiner mehr für mich, hier schon. Jugendhilfeeinrichtung heißt das, das Haus gibt es immer noch. Sollte verboten werden, Mascha, wirklich.
Gesprächs-, Familien- und Bewegungstherapien hatte das große kalte Haus im Angebot. Aber bei Tränen gab es nur Taschentücher, keine Arme, keine Gespräche. Ich wusste gar nicht mehr, wie das ist, in den Arm genommen zu werden. Dabei lag ich in so vielen Armen, bevor alles anders wurde. Bei meiner Mama, bei meinem Papa, bei meinen Großeltern, bei meiner Tante. Es gab eine Zeit, da hatten all diese Menschen offene Arme für mich. Aber jetzt, im großen kalten Haus, wusste ich nicht mehr, wie das ist, getröstet zu werden.
Meinen Trost hab ich mir also selbst gesucht. In Büchern. Die kleine Bibliothek in der mir verhassten Stadt hat mich gerettet. Jeden zweiten Freitag hab ich mich dort mit Büchern eingedeckt, um das sogenannte Eltern-Wochenende zu Hause zu überstehen. In diesen Geschichten hatten die Kinder auch Sorgen, die Kinder eigentlich noch gar nicht haben sollten. Ich las von Missbrauch, von Magersucht, von Mobbing, von alkoholkranken Eltern, von am Leben verzweifelnden Eltern. Ich las aber auch von Erwachsenen, wie sie eigentlich im großen kalten Haus hätten arbeiten sollen. Von Lehrer*innen, Sozialarbeiter*innen und Nachbar*innen, die sich der Sorgen der Kinder annahmen. Diese Bücher brachten mir die tröstliche Gewissheit, dass zu Problemen immer Lösungen gehören. Auch wenn es noch ganz schön viele Jahre dauern sollte, bis ich das erworbene Wissen umsetzen konnte. Bevor sie mich im großen kalten Haus abgab, besorgte auch meine Mutter mir manchmal Lesestoff. Diese Vorstellung meiner Mutter als Kundin einer Buchhandlung rührt mich über alle Maßen. Wie sie sich umsieht in dieser ihr fremden Welt. Wie sie den Neuheiten-Stapel betrachtet, in der Hoffnung, dort direkt ein passendes Buch für ihre Leseratte zu finden. Um Hilfe bitten möchte sie nicht. Im Alltag weiß sie sich zu behaupten, im Supermarkt Preise zu monieren, auf Flohmärkten noch um die letzten 20 Pfennig zu feilschen, das alles beherrscht sie. Doch in einer Buchhandlung, da gelten andere, ihr gänzlich unbekannte Regeln. Ich glaube, sie dachte, Buchhandlungen seien für jene mit Abitur und mit Eltern, die aus dem Stegreif fünf aktuelle Titel nennen könnten. Sie, die selbst in einem großen kalten Haus aufgewachsen ist und niemals auch nur in die Nähe eines Abiturs kam, hätte da nichts zu suchen, würde auffliegen, ja, ich glaube, das dachte sie. Und doch hat sie diese eigentlich den anderen vorbehaltene Welt dann und wann für mich betreten. Das letzte Buch, das meine Mutter mir überraschend auf den Schreibtisch legte, trägt den Titel Ein Sehnen nach Etwas. Jetzt, in diesem Zug von Zürich nach Hause in meine gemütliche Wohnung, zu meinem Einen sitzend, sehne ich mich – mal wieder – nach der Frau, die vor 30 Jahren unsicher, aber mit dem festen Willen, ihrer Tochter von ihrem wenigen Geld ein Buch zu kaufen, eine Buchhandlung betritt.
Eltern-Wochenende, bindungsfördernd. Meine Mutter war ein fremder Mensch für mich geworden. Mit meinem ganzen Sein sehnte ich mich nach ihr, nur gab es sie nicht mehr. Und der Mensch, den ich an diesen Wochenenden besuchte, war ein Mensch, bei dem ich nicht sein wollte. Keine Stunde, keinen Tag, erst recht kein Wochenende.
Undankbar fand sie mich. Schließlich hätte ich doch alles. Das Hochbett mit angebautem Schreibtisch aus dem Neckermann-Katalog, coole Poster, meine Cola- und Fanta-Dosensammlung, einen Kleiderschrank mit einem Spiegel als Tür, in den ich kaum guckte, weil ich mich nicht mehr gerne ansah, und alles immer ganz sauber. Ich hatte doch alles. Nur keine Wärme. Also die Heizung ging, bitte nicht falsch verstehen. Es gab nur keine Arme, die für mich geöffnet wurden, und keine Ohren, die mir zuzuhören gewillt waren. Aber ich hatte doch alles. So, so undankbar, oder?
Meine Mutter war mal so warm, Mascha, ihre Wärme ließ einen Heizkosten sparen. Kann man sich gar nicht vorstellen, nach dem, was du jetzt gehört hast, oder?
Das passiert wohl, wenn Hilferufe ins Leere hallen. Wenn niemand reagiert. Wenn die Zahl derer, die reagieren könnten, ohnehin schon überschaubar ist und die sich dann auch noch dagegen entscheiden. Welche Ohren und Arme waren denn für sie geöffnet? Keine. Und irgendwann hat sie dann zugemacht.
Scheiße für mich, wirklich. Aber trotz aller Scheiße verständlich. Es heißt ja Kraft tanken, und zum Tanken braucht man Tankstellen. Sie hatte keine. Und hat dennoch weitergemacht, jeden einzelnen Tag.
Jeden einzelnen Tag hat sie mein Bett gemacht, das Kissen aufgeschüttelt und einmal die Woche die Bettdecken zum Lüften über die Balkontür gehängt, die Kuscheltiere drapiert, die Wohnung geputzt, eingekauft, gekocht, mir Überraschungen mitgebracht, mir zugehört, mich gelobt, mich in den Arm genommen, mich getröstet, ist unterbezahlter Arbeit nachgegangen, hat die Wohnung gemütlich eingerichtet, mir Kindergeburtstage organisiert, mich an einer Schule angemeldet, mich in einem Hort angemeldet, sich meiner Ängste angenommen, mich zu Ärzt*innen gebracht, mich geliebt.
Wahrscheinlich ist dann irgendwann nach Jahren des Funktionierens ihre Wärme erstarrt. So nennt man das, den Übergang vom flüssigen Aggregatzustand in den festen. Wärme ist für mich flüssig, weil sie überallhin reicht, keinen Anfang und kein Ende kennt. Doch um weiter funktionieren zu können, brauchte sie Kraft. Und Kraft, die ist für mich starr, die muss begrenzt sein, damit sie ihren Zweck erfüllt. Ergibt das Sinn, Mascha?
Wenn sie sich doch einfach ihre Liebe bewahrt hätte. Die hätte sie so viel besser schützen können. Ich wäre hier. Wäre immer da. Begonnen hat dieser Erstarrungsprozess wohl, als der Tod das erste Mal in ihr Leben trat, um ihre Schwester zu stehlen. Diese Schwester war der einzige Mensch gewesen, der verstand, was meine Mutter als Kind erst unter heimischem Dach, dann in einem großen kalten Haus durchleiden musste. Sie war der einzige Mensch, der um jede Tages- und Nachtzeit an ihre Seite geeilt kam. Und sie war der erste Mensch, den der Tod ihr genommen hatte.
Um Schicksalsschläge auszuhalten, braucht es ein Fundament. Braucht es einen Halt, am besten in Form eines Netzes aus verschiedenen Menschen. Doch das hatte sie nicht. Sie hatte eigentlich nur mich. Aber irgendwann wurde auch ich ein Mensch mit eigenen Bedürfnissen, ihren konträr, mit eigenem Willen, ihrem konträr, und dann hatte sie also nicht mal mehr mich....
Erscheint lt. Verlag | 11.3.2025 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alena Schröder • Befreiung • Berlin • Bildungsaufsteigerin • Bildungsroman • Bücher • Buch für eine Zugfahrt • Buchhandlung • Buchischnubbel • Buch Liebe • Christian Baron • Coming of Age • Debütroman • Deutschsprachige Gegenwartsliteratur • Familie • female empowerment • Feminismus • Frauenleben • Frauenpower • Frauenschicksal • Freundschaft • Große Gefühle • gute unterhaltung • Hamburg • harte Kindheit • Heilung • Herkunft • Hoffnung • Irmgard Keun • Jugend • Junge deutsche Literatur • Kindheit • Klassismus • Köln • Krankheit • Leben • Lebenskraft • Lebensretter • Liebe • Liebesbeziehung • Literatur neu 2025 • Mareike Fallwickl • Margarete Stokowski • Mascha Kaleko • Mut • Mutter-Tochter • Neue Sachlichkeit • Partnerschaft • Poesie • Resilienz • Romane • Sozialer Aufstieg • Trost • Trostbuch • Trost in der Literatur • Trostspender • Unterhaltende Literatur • Vater-Tochter • Zeitgenössische Literatur • Zugehörigkeit |
ISBN-10 | 3-644-02012-4 / 3644020124 |
ISBN-13 | 978-3-644-02012-2 / 9783644020122 |
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