Das Narrenschiff (eBook)

600 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78209-5 (ISBN)
In seinem fulminanten Gesellschaftsroman lässt Christoph Hein Frauen und Männer aufeinandertreffen, denen bei der Gründung der DDR unterschiedlichste Rollen zuteilwerden, begleitet sie durch die dramatischen Entwicklungen einer im Werden befindlichen Gesellschaft, die das bessere Deutschland zu repräsentieren vermeint und doch von einem Scheitern zum nächsten eilt.
Überzeugte Kommunisten, ehemals begeisterte Nazis, in Intrigen verstrickte Funktionäre, ihre Bürgerlichkeit in den Realsozialismus hinüberrettende Intellektuelle, Schuhverkäufer, Kellner, Fabrikarbeiter, Hausmeister und selbst ein hoher Stasi-Mann erkennen auf die eine oder andere Art ihre Zugehörigkeit zu einer unfreiwilligen Mannschaft an Bord eines Gemeinwesens, das sie zunehmend als Narrenschiff wahrnehmen und dessen Kurs auf immer bedrohlichere historische Klippen ausgerichtet ist.
Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle Der fremde Freund / Drachenblut. Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. Seine Romane sind Spiegel-Bestseller.
2.
Heimkehr
Am ersten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig flog Karsten Emser mit weiteren zwölf Genossen von Moskau nach Berlin. Nach einem kurzen Zwischenstopp in Minsk landete die Maschine auf einem ehemaligen deutschen Feldflugplatz im Wald bei Calau, südwestlich von Frankfurt an der Oder, wo sie von Offizieren der Roten Armee empfangen wurden, die sie in einem Mannschaftswagen der Infanterie zum Hauptquartier des Obersten Kommandos brachten, dem Politischen Stab von Marschall Schukow, dem Oberkommandierenden der Ersten Weißrussischen Front.
Am Vortag war eine erste Gruppe von dem bei Moskau gelegenen Flugplatz Wnukowo mit einer Douglas-Maschine zum Feldflugplatz Calau geflogen worden, zehn deutsche Antifaschisten, die sogenannten Gruppe Ulbricht, die vier Tage zuvor den militärischen Befehl zu ihrer Rückkehr in die Heimat erhalten hatte.
Auch Karsten Emser war vier Tage zuvor die Anordnung des Verteidigungsministeriums übermittelt worden, dass er mit dieser ersten Gruppe nach Deutschland fliegen werde, und er wurde angewiesen, sich für den Heimflug vorzubereiten, der am dreißigsten April eine Stunde vor Sonnenaufgang starten würde. Allen wurde gesagt, dass nur ein einziges Gepäckstück erlaubt sei, nach Möglichkeit ein mittelgroßer Rucksack.
Am neunundzwanzigsten April wurde Emser unterrichtet, dass nicht er, sondern Richard Gyptner mit dem ersten Transport fliegen werde. Gründe für diesen Wechsel wurden nicht genannt, und er vermutete, dass Ulbricht darauf bestanden hatte, Gyptner mit an Bord zu nehmen und nicht ihn. Er hatte in den Moskauer Jahren gelegentlich bemerken müssen, dass der designierte Chef – wie auch andere Genossen in der Parteiführung – den Intellektuellen gegenüber misstrauisch und ablehnend war und sich demonstrativ gelangweilt gebärdete, wenn Emser sprach, und seine Antworten stets mit einem höhnischen der Herr Professor meint einleitete.
Nachdem sämtliche Bemühungen Moskaus, Ernst Thälmann aus dem deutschen Konzentrationslager freizubekommen, gescheitert waren, gelang es Ulbricht, die sowjetische Führung und selbst Stalin davon zu überzeugen, dass er und nur er an der Spitze des neuen, antifaschistischen deutschen Staates stehen sollte.
Der Offizier, der Emser über die neue Zusammenstellung der Heimkehrer informierte, unterrichtete ihn gleichzeitig, dass er einen Tag später, spätestens in den nächsten drei Tagen, rückgeführt werde.
Tatsächlich flog er dann mit den zwölf Genossen am ersten Mai. Das Flugzeug landete gleichfalls auf dem Feldflugplatz Calau, von dem aus man sie in ihr Quartier brachte, wo er jene Genossen antraf, die einen Tag zuvor ausgeflogen worden waren, jedenfalls neun von ihnen, denn Walter Ulbricht war am Vortag und unmittelbar nach der Landung des Flugzeugs zur sowjetischen Kommandostelle in Berlin gefahren worden.
Einen Tag später, am zweiten Mai, trafen noch zwei sowjetische Flugzeuge mit weiteren deutschen Genossen auf dem früheren Feldflugplatz der Wehrmacht ein und wurden umgehend zu den wartenden Vorauskommandos gebracht. Emser kannte sie, einige vom Sehen oder von einem kurzen Gespräch, mit anderen verband ihn der eine und andere Vorfall. Zumeist hatte er mit diesen Genossen problematische Entscheidungen zu besprechen, um eine Lösung zu finden oder auch nur um keinen Fehler zu begehen und um sich selbst abzusichern.
Als er den zwanzigjährigen Fuchs unter den neu angekommenen Heimgekehrten sah, ging er auf ihn zu: »Ah, der junge Fuchs, sei gegrüßt.«
Er hatte diese herzliche Anrede gewählt, da er seinen Vornamen nicht kannte. Er hatte mit dessen Vater viel zu tun gehabt, einem von ihm verehrten Freund, er hatte diesem vermutlich das Leben gerettet, als es ihm von Moskau aus gelang, ihn mit der Hilfe eines ukrainischen Genossen und eines gefälschten Passes aus dem Internierungslager Le Vernet zu befreien und wieder in das sichere sowjetische Exil bringen zu lassen. Und ein zweites Mal rettete er ihm vermutlich den Kopf oder doch die Freiheit, als er dafür sorgte, dass der Freund aus der gefährlichen Zentrale Moskau nach Krasnogorsk versetzt wurde, wo er deutsche Kriegsgefangene zu schulen hatte und nicht Gefahr lief, sich mit irgendeiner Entscheidung oder beiläufigen Äußerung als Diversant oder Hitlerist zu entlarven. Mit ihm und dessen Frau hatte er sich häufiger getroffen, die Kinder der beiden aber nur gelegentlich gesehen.
»Wofür bist du in Berlin vorgesehen?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde es erst erfahren, wenn die provisorische Regierung ernannt ist. Oder die neue Stadtleitung von Berlin.«
»Wir brauchen jeden aufrechten Antifaschisten, mein Junge. Wir sind in ein Land gekommen, wo die Mehrheit wohl noch immer ihren geliebten Hitler verehrt und bewundert, in ihm den wahren Führer sieht. Und wir, wir sind für diese Leute verächtliche Verräter, die mit dem Feind paktieren. Also sei vorsichtig. Es wird in Deutschland noch viele geben, die lieber uns hängen sehen als solche Kriegsverbrecher wie Hitler und Göring.«
»Ich weiß. Es wird schwer. Und gefährlich.«
Emser klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und wandte sich dem nächsten Neuankömmling zu.
Nach dem gemeinsamen Abendessen, der Koch hatte sich von zwei Bauern der Umgebung sechsunddreißig Schnitzel geben lassen und das Fleisch gegen drei Flaschen Wodka eingetauscht, saßen alle gemeinsam in der früheren Wartehalle des Flugplatzes und hörten sich an, was ihnen ein russischer Major über die militärische Lage mitteilte. Das sowjetische Oberkommando rechne damit, dass der letzte Widerstand der Wehrmacht in drei bis vier Tagen endgültig zusammenbreche und dass dann die Gruppe der deutschen Rückkehrer ins Berliner Zentrum gebracht werde, wo ein neu eingesetzter Bürgermeister die Arbeit verteilen werde. Fast eine Viertelstunde sprach er über die von Heinrich Himmler befohlene Organisation Werwolf, die er in der Nachkriegszeit als besonders gefährlich ansah. Es seien vor allem verführte Jugendliche, die einem verbrecherischen Führer und einem verlorenen Deutschland hinterhertrauern würden und sogar zu Selbstmord-Attentaten bereit wären. Der Major sagte, da die Rote Armee Berlin befreit habe, werde wohl von der Hauptstadt aus die Neuordnung Deutschlands erfolgen. Die Alliierten hätten zwar einen großen Anteil am Sieg über die Faschisten, aber die Rote Armee rechne damit, dass sie als Sieger in Berlin auch die weiteren Geschicke Deutschlands bestimmen werde und die Alliierten sich bei ihren Machtansprüchen zurückhalten müssten.
Alle hatten verstanden, dass sie in den nächsten Tagen auf dem Feldflugplatz Calau mit den behelfsmäßigen Betten – es waren übereinandergestapelte Matratzen ohne Kissen und ohne Bettwäsche – bleiben müssten. Sie würden vermutlich Tag für Tag Lageberichte erhalten oder auch Anweisungen der sowjetischen Offiziere, doch konnten sie gewiss ausschlafen und noch ein paar ruhige Tage genießen, bevor sie im Berliner Zentrum ein zwölf- oder gar fünfzehnstündiger Arbeitstag erwarten würde. Daher saßen sie an diesem Abend lange zusammen, rauchten, tranken und ergingen sich in Gesprächen über die Zukunft des Landes.
Die Ankunft in Deutschland, in einem Land, in dem sie zwölf Jahre zuvor mit Konzentrationslager oder Tod bedroht worden waren und nur mit Mühe ins Exil hatten entkommen können, erregte alle. Sie fieberten ihren neuen Aufgaben entgegen, begierig, aus der faschistischen Diktatur eine friedliebende Demokratie zu schaffen. Und sie waren glücklich, wieder in der Heimat zu sein.
»Ich liebe die russischen Wälder, die russkiye berozovye, aber ich liebe unsere Wälder noch mehr, die Tannen, den Mischwald. Ich freue mich jetzt schon darauf, durch unsere deutschen Wälder zu spazieren«, sagte ein fünfzigjähriger, schlohweißer Mann.
»Dann pass nur auf, dass du in deinen geliebten deutschen Wäldern nicht auf eine Mine trittst«, erwiderte sein Tischnachbar.
»Dort kannst du auf eine Tretmine treffen oder auf eine menschliche Mine. Du hast ...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2025 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | aktuelles Buch • BRD • Bücher Neuerscheinung • Bundesrepublik Deutschland • Bürgerlichkeit • Bürgertum • Das Wildpferd unterm Kachelofen • Deutsche Teilung • Deutschland • Geschichte der DDR • Gesellschaftsroman • Historischer Roman • Intellektuelle • Intrigen • Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen 2020 • Kommunisten • Mitteleuropa • Nazis • Neuerscheinung 2025 • neues Buch • Ostdeutschland • Ostdeutschland DDR • Ost-West-Gefälle • Prix du Meilleur livre étranger 2019 • Samuel-Bogumił-Linde-Preis 2019 • SPIEGEL-Bestsellerautor • Staatssicherheit • Stasi • Unterm Staub der Zeit • Wilhelm Pieck |
ISBN-10 | 3-518-78209-6 / 3518782096 |
ISBN-13 | 978-3-518-78209-5 / 9783518782095 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 2,4 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich