Der Schatten des Malers (eBook)
505 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-78188-2 (ISBN)
London Mitte des 19. Jahrhunderts. Bei ihren Recherchen zu einer Biografie über den berühmten, kürzlich verstorbenen Maler William Turner stoßen Walter Hartright und Marian Halcombe auf Widersprüche: Von den einen als ehrlich und zuverlässig, als großzügiger Förderer und Ehrenmann gelobt, wird Turner von anderen als verrückt und bösartig denunziert. Von Obsessionen getrieben, soll er sogar einen Mord begangen haben. Fast zwanghaft folgt vor allem Hartright den dunklen Spuren im Leben des Malers zwischen Galerien und Bordellen, Herrenhäusern und Armenvierteln. Immer tiefer verstrickt er sich in Turners Welt und bemerkt erst spät, dass er selbst Opfer eines niederträchtigen Komplotts geworden ist.
Ein großer historischer Roman um den Maler des Lichts und um die Schattenseiten des Menschen William Turner.
James Wilson,1948 in Cambridge geboren, studierte Geschichte in Oxford und lebt heute mit seiner Familie in Bristol.
XV
brief von walter hartright an laura hartright,
19. september 185-
Brompton Grove,
Dienstag
Meine innigst Geliebte,
ich fürchte, Du machst Dir schon Sorgen um mich, so lange ist es her, daß ich Dir zuletzt geschrieben habe. Doch die Wahrheit ist – ich hoffe, Du hast es Dir schon gedacht –, daß ich so in Kutschen und Eisenbahnwaggons durchgeschüttelt, zweimal beinahe aus einer Droschke geworfen wurde und zudem noch früh aufbrechen mußte (gerade an dem Morgen, als ich dachte, ich hätte endlich Muße, Dir zu schreiben), daß ich noch halb schlief. Alles in allem blieben mir kaum dreißig Minuten, in denen ich etwas zu Papier hätte bringen können. Aber hier bin ich nun, endlich wieder zu Hause, und habe von meinen Abenteuern kein schlimmeres Andenken als einen blauen Fleck oder zwei, und ein Paar Stiefel, aufgeschürft von Kreidefelsen in den Hügeln der Downs.
Die neue Eisenbahn nach Brighton ist ein Wunder an Geschwindigkeit und Bequemlichkeit (wie Du bald selbst sehen wirst; denn ich habe mir schon fest vorgenommen, wenn wir demnächst wieder in der Stadt vereint sind, Dich und die Kinder mit einem Ausflug ans Meer zu überraschen, hin und zurück an einem einzigen Tag!). Doch genau aus diesem Grund versetzte mich die Eisenbahn auch in schlechte Stimmung.
Mit jeder Meile schien nicht nur die Entfernung zwischen mir und London zu wachsen, sondern auch die zwischen mir und Turner; denn seine Reise mit Michael Gudgeon, damals, vor so vielen Jahren, muß etwas ganz anderes gewesen sein – ein rüttelndes, schüttelndes Schlingern von früh bis spät, von einer Herberge zur nächsten, über staubige Straßen, auf denen nichts zu hören war als das Klappern der Hufe und das Quietschen und Rattern der Räder und der einzige Dampf der war, welcher von den Flanken der Pferde aufstieg. Gerade eben noch, vor jenen ungeheuren Bildern in Marlborough House, hatte ich das Gefühl gehabt, etwas von seinem schwer faßlichen Wesen erhascht zu haben, und schon geriet er mir im Qualm und Getriebe der modernen Welt wieder aus dem Blick.
Aber nach unserer Ankunft wurde es besser. Am Bahnhof mietete ich eine Droschke, und schon nach zehn Minuten fuhren wir durch Straßen, die mit weißen, stuckverzierten Pensionen gesäumt waren, deren quadratische, freundliche Fassaden schon in Turners Tagen hier gestanden haben mußten; und nach weiteren zehn Minuten ging es schon in die Downs hinauf – die sich seit der Zeit, als Cäsar sie zum ersten Mal erblickte, ja noch weitere tausend Jahre zurückgerechnet, kaum verändert haben. In alle Richtungen dehnte sich ein wallender und wogender Ozean von Gras; und wenn ich zurückblickte, sah ich ganz in der Ferne das immer breiter werdende Band der silbrig glänzenden See.
Nach vielleicht drei Meilen bogen wir am Eingang eines kleinen Dorfes links in einen schmalen Pfad ein, der von Brombeerbüschen gesäumt war. Er verlor sich bald in einer bloßen Wagenspur, und hier kam es dann beinahe zum ersten Unfall. Einen Moment war der Kutscher wohl unachtsam, und das Pferd trottete auf dem holprigen Untergrund munter drauflos, strauchelte und fing sich mit einer heftigen Bewegung, wodurch eines der Räder mit einem furchtbaren Schlag in eine Furche geriet und die Droschke um Haaresbreite umstürzte.
Der Kutscher mußte sich quer über seinen Sitz werfen, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Im nächsten Augenblick hielt er an.
»Tut mir leid, Sir«, sagte er. »Weiter geht’s nicht. Noch so ein Schlag, und die Achse ist hin.«
»Ist es noch weit?« fragte ich.
»Keine halbe Meile«, sagte er, und zeigte in Richtung eines rauchenden Schornsteins hinter dem nächsten Hügel.
Also bezahlte ich ihn, nahm meinen Koffer und ging zu Fuß weiter, wobei ich sorgsam darauf achtete, nicht in die ausgefahrenen Wagenspuren zu geraten. Sanfter Wind strich mir übers Gesicht; und für einen Augenblick schien sich alles, was mich an die gewöhnliche Welt band, mit der entschwindenden Kutsche aufzulösen, und ich war allein mit dem Tritt und dem Knirschen meiner Stiefel und dem Tirilieren der Lerchen, die mich an eine große Aufgabe mahnten oder an einen schweren Kummer erinnerten, den ich im Getriebe des Alltags irgendwie vergessen hatte.
Als ich den Hügel überwunden hatte, erblickte ich unter mir etwas, was ich für einen kleinen Bauernhof halten mußte: ein morastiger Hof, an zwei Seiten von baufälligen Wirtschaftsgebäuden flankiert, während an der dritten ein langes, niedriges Haus aus gekalktem Stein stand, dem auf der Rückseite eine Reihe Bäume Schutz gaben. Es war so gar nicht das behagliche Landhaus, das ich erwartet hatte, daß ich im ersten Moment dachte, der Kutscher müsse mich am falschen Ort abgesetzt haben, und als ich am Tor ankam, war ich vollends überzeugt, es sei besser, ins Dorf zurückzukehren oder vielleicht sogar nach Brighton, um noch einmal ganz von vorne anzufangen.
Ein magerer schwarz-weißer Hund sprang auf und verkündete mit wildem Gebell und wie ein Kinderspielzeug am Ende seiner Kette auf- und abspringend meine Ankunft, worauf eine Schar Hühner, die auf dem Hof umherstolzierte, davonstob. Sogleich kam eine rotgesichtige Frau von etwa fünfundsechzig Jahren, die Ärmel bis zum Ellbogen aufgerollt, aus einem der Wirtschaftsgebäude und steuerte rasch auf mich zu. Sie bewegte sich mit dem schwankenden, übertriebenen Gang, mit dem gewöhnlich die komische Alte in der Komödie dargestellt wird, was mich zunächst denken ließ, sie sei betrunken; doch dann bemerkte ich, daß sie nur versuchte, sich im Gehen in ein Paar schwere Holzschuhe zu zwängen, die sie über den Schlamm hinwegtragen sollten.
»Guten Morgen«, rief ich. »Ich möchte zu Mr. Gudgeon.«
Die Kakophonie aus Gegacker und Gekläff muß meine Worte verschluckt haben; denn die Frau runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, um schließlich – nachdem sie die letzte Henne verscheucht und dem Hund lautstark Ruhe befohlen hatte – die Hand hinters Ohr zu legen, die Augenbrauen zu heben und den Mund zu öffnen, als wolle sie in einer Scharade den Ausdruck »Wie bitte?« darstellen.
»Mr. Gudgeon?« wiederholte ich.
»Sind Sie Mr. Hartright?« fragte sie mit einem weichen Sussex-Akzent; und als ich nickte, streckte sie mir umstandslos die Hand entgegen und sagte: »Ich bin Alice Gudgeon.«
»Guten Tag«, antwortete ich.
»Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer. Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir hintenrum gehen?«
Sie führte mich über den Hof in eine warme, dampfende Küche, erfüllt vom Geruch kochenden Specks und dem süßen, rauchigen Duft von Fleisch, das am Spieß brät. Wenn man die niedrige Balkendecke sah, den schwarzen Herd, auf dem dicht gedrängt Töpfe standen, die beiden Hasen in der halboffenen Tür der Speisekammer, hätte man annehmen können, daß dies das Haus eines wohlhabenden Bauern sei. Nur der Tisch fügte sich nicht ins Bild; denn unter dem alten Tuch, das über seine Platte gebreitet war, lugten vier feingedrechselte Mahagonibeine hervor, die ahnen ließen, daß er einst ein Speisezimmer geschmückt hatte, nun aber harte Zeiten durchmachte.
Wir traten in eine kühle Diele, die mit blankgescheuerten Fliesen ausgelegt war, wo Mrs. Gudgeon stehenblieb. »Vielleicht lassen Sie Ihre Tasche hier«, sagte sie und deutete zum Treppenabsatz, »und wir zeigen Ihnen Ihr Zimmer später?« Die Art, wie sie sprach – langsam und laut, den Blick auf eine gegenüberliegende Tür gerichtet –, ließ mich vermuten, daß sie dies eher für ihren Mann als für mich sagte. Nachdem sie ihm auf diese Weise meine Ankunft angekündigt hatte, schubste und zerrte sie einige Sekunden murmelnd meinen Koffer herum. Die Hände in die Hüften gestemmt, trat sie schließlich zurück und meinte: »So, nun wird sich niemand den Hals brechen.« Dann öffnete sie, ohne anzuklopfen, besagte Tür.
Was mir zuerst ins Auge fiel, waren die vielen Papiere, einzelne Blätter, locker geschichtete, von losen Bändern zusammengehaltene Stapel und alte Notizbücher, die zu wackligen Säulen aufgetürmt waren, die sicher beim kleinsten Luftzug umstürzten und die den gesamten Fußboden und die Möbel zu bedecken schienen. In der Luft lag der schwere Geruch von Stockflecken und altem Leder, und der Staub war so dicht, daß er wie ein Musselinvorhang vor dem Fenster tanzte. Hier, das war mein erster Gedanke, sah ich etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte: Ein Zimmer, in dem noch mehr Unordnung herrschte als im Boudoir von Lady Eastlake.
Doch dieser Eindruck verflog sofort, als ich mich Gudgeon selbst zuwandte. Vor mir stand ein schlanker, gutgekleideter, eher kleiner Herr mit bernsteinfarbenen Augen und einer weißen, von der Stirn in den Nacken gekämmten Mähne. Er trug eine schneeweiße Halsbinde (so weiß und breit wie die Brust eines Schwans) und einen gutgeschnittenen Kammgarnanzug, der ihn peinlich korrekt kleidete. Als er zur Begrüßung auf mich zutrat, lenkte er seine Schritte vorsichtig um die Papiere herum, wie ein General, der sich bemüht, die Aufstellung seiner Truppen nicht zu stören.
»Mr. Hartright?« sagte er und sah zu seiner Frau. Sie nickte, und er streckte mir seine Linke entgegen. »Wie freundlich von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Sir.«
»Die Freundlichkeit ist ganz auf ihrer Seite –«, begann ich, von seinem Ton überrascht; aber er unterbrach mich mit einem Kopfschütteln.
»Sie sind ein Engel«, sagte er. »Vom Himmel gesandt, um mich zu erretten.« Dabei machte er eine ausholende Geste mit der Hand, wie ein Landmann, der die...
Erscheint lt. Verlag | 18.11.2024 |
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Übersetzer | Rita Seuß, Thomas Wollermann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Dark Clue |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | aktuelles Buch • Belletristische Darstellung • Biographie • Bücher Neuererscheinung • Bücher Neuerscheinung • England • Geschichte 1855 • insel taschenbuch 5076 • IT 5076 • IT5076 • Joseph Mallord William Turner • Jubiläum • Krimi Neuerscheinungen 2024 • London • London Greater London • Maler • Meister des Lichts • Neuererscheinung • neuer Krimi • neuerscheinung 2024 • neues Buch • Page Turner • Sonder-Ausstellung • Spannung • Süd- und Südost-England • The Dark Clue deutsch • Vereinigtes Königreich Großbritannien • Westeuropa |
ISBN-10 | 3-458-78188-9 / 3458781889 |
ISBN-13 | 978-3-458-78188-2 / 9783458781882 |
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