Leb wohl, Schwester (eBook)

624 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-30851-3 (ISBN)
Ein kleines Zelt, idyllisch am Waldrand, mit herrlichem Blick über die Hügel der Toskana. Dort verbringt das junge deutsche Paar Anne und Michael wunderschöne Urlaubstage. Bis sie eines Nachts grausam ermordet werden. Commissario Neri ist entsetzt. Geht wieder ein Liebespaarmörder um, wie einst das Monster von Florenz? Tatsächlich schlägt der Täter schon kurz darauf wieder zu. Zum Glück hat Neri bei seinen Ermittlungen tatkräftige Unterstützung durch eine neue junge Kollegin, Romina Roselli. Eine Spur führt die beiden schließlich in ein einsames Frauenkloster ...
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. Das Haus am Watt, Der Mörder und sein Kind, Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman »Der Kindersammler« war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen auf der Bestsellerliste.
1
MONTEBENICHI, TOSKANA
Es war zwei Uhr morgens, als sie leise aufstand. Stefano lag auf der Seite und schlief fest. Er atmete tief und gleichmäßig. Einen Moment zögerte sie, aber dann gab sie sich einen Ruck und verließ leise das Zimmer. Zog die Schlafzimmertür, die sich an manchen Tagen überhaupt nicht schließen ließ, unendlich langsam und vorsichtig ins Schloss, damit er um Gottes willen nicht erwachte.
Im Bad, wo sie ihre Sachen liegen gelassen hatte, zog sie sich schwarze Jeans, Hemd, Turnschuhe und ein schwarzes Kapuzenshirt über.
Dann schlich sie ins Wohnzimmer, verharrte bewegungslos und horchte. Kein Laut war zu hören. Alles war still.
Sie sah aus dem Fenster. Auch auf der schmalen Dorfstraße regte sich nichts. Kein Mensch war unterwegs. Selbst schräg gegenüber, wo die alte Tiziana wohnte, die sich vor der Dunkelheit fürchtete, daher tagsüber schlief und nachts fast immer am Fenster saß und auf die Dorfstraße starrte, um »Wache zu halten«, brannte in dieser Nacht kein Licht.
Es war alles in Ordnung. Konnte besser nicht sein.
Sie ging zu dem kleinen Sekretär neben dem Fenster, der dort schon gestanden hatte, als sie die Wohnung mieteten, der zum Inventar gehörte und ihr von der ersten Minute an gefallen hatte, nahm die Pistole samt Schalldämpfer aus der oberen Schublade – einen Schlüssel hatten beide Schubladen nicht –, steckte sie in die rechte Jackentasche und in die linke das prall mit Munition gefüllte Magazin.
Anschließend ging sie in den Flur, zog sich die Stirnlampe über den Kopf, die wegen der häufigen Gewitter und der damit verbundenen Stromausfälle dort ständig griffbereit am Haken hing, nahm leise ihr Schlüsselbund, zog die schwere Tür zu, die bereits morsch war und tiefe Risse hatte, und trat hinaus in die Nacht.
Stefano und sie bewohnten in Montebenichi ein altes, ziemlich heruntergekommenes Haus mit zwei Zimmern, einer Küche und einem vorsintflutlichen Bad mit gelb-bräunlichen Fliesen und einer Toilette, deren Wasserkasten an der Decke hing. Um zu spülen, musste man an einer Kette ziehen, die alle paar Tage riss und von Stefano immer wieder notdürftig repariert wurde. Die Dusche war verschimmelt, der Wasserdruck war äußerst gering, aber zumindest war das Wasser warm. Wenigstens etwas. Sie hatten keinen Balkon, keine Terrasse, aber einen Portico vor ihrer Tür. Von dort führte eine Treppe hinunter zur Dorfstraße, auf der – wenn überhaupt – nur alle paar Stunden mal jemand vorbeikam.
An warmen Sommerabenden saßen sie auf zwei wackligen Stühlen auf dem Portico, stellten ihre Weingläser in die Blumenkästen und schwiegen. Hofften auf ein wenig Unterhaltung, auf einen Nachbarn, der sich vielleicht auf ein Glas Wein einladen ließ, aber das passierte nur äußerst selten.
Die Miete für diese primitive Hütte war erschwinglich. Stefania und Stefano kamen finanziell einigermaßen über die Runden, aber sie waren nicht glücklich.
Sie existierten.
Stefania hielt vor dem Haus einen Moment inne, sah in den Himmel, und ein fast perfekter Vollmond leuchtete über den Dächern des kleinen Bergdorfes.
Sie sah sich um. Nirgends ein Mensch, kein Licht hinter einem Fenster, Montebenichi schlief.
Sie nahm nicht den Fiat 500, mit dem Stefano morgen früh zur Baustelle fahren würde, sondern stieg auf die Vespa, die Stefano und sie vor einem halben Jahr gebraucht, ziemlich verrostet, aber günstig erstanden hatten und die vor der Tür parkte, ließ sich bis zum Ortsausgang bergab rollen, startete den Motor erst, als auch das letzte Haus weit genug entfernt war, und fuhr los.
Das Knattern von Mofas, Vespas oder Motorrädern war auch nachts in dem kleinen Ort nichts Ungewöhnliches, aber jetzt, am Ortsausgang, konnte sie sicher sein, dass Stefano weder aufwachte noch das Geräusch der Vespa mit ihr in Verbindung brachte.
Im Dorf blieb es still. Niemand war so frühmorgens unterwegs.
Es war nicht weit bis zum Wald, bis zu der kleinen Lichtung, von der aus man am Tag einen herrlichen Blick über die Hügel der Toskana bis auf die gegenüberliegende Hügelkette nach Rosennano hatte.
Jetzt beleuchtete das Mondlicht gespenstisch die silbrig glänzenden Olivenhaine, den dunklen Wald und die sandigen Wege, die sich fast grell beleuchtet durch die Landschaft schlängelten.
Stefania arbeitete in der Osteria L’Orciaia in Montebenichi und wusste daher, dass momentan ein Paar auf dieser Lichtung zeltete. Vorn am Wald. So viel hatte sie aus den Gesprächen der beiden herausgehört, obwohl sie sich auf Deutsch unterhielten, denn immerhin hatte sie in der Schule drei Jahre Deutsch gelernt. Im Gymnasium konnte man sich zwischen Deutsch und Französisch entscheiden – sie hatte Deutsch gewählt, und bei den vielen deutschen Touristen wusste sie, dass das eine gute Wahl gewesen war.
Allerdings hatte sie es nicht mehr geschafft, Abitur zu machen. Anderthalb Jahre vorher hatte sie die Schule verlassen und aus ihrem Zuhause fliehen müssen. Aber immerhin konnte sie das Nötigste auf Deutsch sagen und verstehen.
Es war am Abend zuvor gewesen. Der junge Mann bestellte, und sie sah, dass er kräftig war, ein rundes Gesicht und mit dem rötlichen Haar etwas Ähnlichkeit mit Ed Sheeran hatte. Seine blonde Freundin wirkte dagegen schmal und schmächtig. Wie eine zarte Elfe neben einem massigen Stier. Die beiden waren jung, verliebt und glücklich. Das hatten sie ausgestrahlt, als sie in der Osteria aßen. Hatten sich unentwegt in die Augen gesehen und sich ständig an den Händen gehalten. Unter und über dem Tisch.
Stefania kannte die Stelle am Wald, wo die beiden zelteten, parkte jetzt ihre Vespa ganz in der Nähe, schob ihre Stirnlampe auf die Stirn, schaltete sie an und ging langsam und leise auf das kleine Zelt zu. Es war winzig, wirklich nur ein Schlafplatz für zwei Personen. Alles andere hatten sie offensichtlich in ihrem Wagen, der wenige Meter entfernt parkte.
Neben dem Zelt standen noch eine Schüssel mit schmutzigem Geschirr, eine leere Flasche Wein, und ein Paar Flip-Flops lag daneben.
Nichts regte sich, sie hörte nur leises Schnarchen.
Sie blieb stehen und hielt inne. Niemand wusste, dass sie hier war, niemand hatte sie gesehen, sie war unsichtbar. Es war ihr Schicksal, für alle Welt unsichtbar zu sein.
Und eine unsägliche, unbegründete und unerklärliche Wut erfüllte sie, die wie eine heiße Woge durch ihren Körper schoss.
Sie nahm die Pistole aus der Jackentasche, schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf, schob das gefüllte Magazin hinein, das mit einem Klacken einrastete, repetierte den Lauf, klemmte sich die geladene Pistole zwischen die Knie, zog mit einem lauten Ratschen den Reißverschluss des Zeltes auf, und dann geschah genau das, was sie erwartet hatte: Der junge Mann fuhr hoch und setzte sich auf. Er war überrascht und vollkommen irritiert.
Stefania konnte jetzt sowohl ihn als auch seine Freundin, die nur unter einer dünnen Wolldecke lag und sich in diesem Moment ebenfalls erhob, deutlich erkennen.
Sie schoss sofort, bevor einer der beiden irgendetwas sagen konnte. Zuerst dem massigen Stier ins runde Gesicht, der augenblicklich umfiel wie ein gefällter Baum, dann der Elfe in die Stirn, der das Blut aus den Augen lief. Anschließend schoss sie noch jedem dreimal in die Brust. Die Körper zuckten und bäumten sich auf, was sie wunderte, da sie doch eigentlich schon tot waren, aber jedenfalls war keiner der beiden dazu gekommen zu schreien.
Beide lagen bewegungslos auf ihren Isomatten, aber Stefania schoss jedem noch einmal in den Unterleib – dann war das Magazin leer. Sie wartete noch eine Weile, bis sich im Zelt absolut nichts mehr regte, und atmete erleichtert aus.
Das war ja einfach gewesen.
Aber jetzt musste sie noch etwas tun, was ganz und gar nicht einfach war.
Mithilfe ihrer Stirnlampe leuchtete sie den Waldboden in der Umgebung des Zelts ab und fand schnell, was sie suchte. Einen Stock. Zwei Daumen dick, an der spitz zulaufenden Seite nur einige dünne Äste und Blätter.
Perfetto.
Sie streifte sich Handschuhe über, hatte Angst und Horror vor dem, was sie tun musste. Es fiel ihr verdammt schwer, aber es war nötig. Sie musste sich zusammenreißen.
Einen Moment hielt sie inne, warf noch einen letzten Blick auf die beiden bewegungslosen Leichen, zog dann der jungen Frau die Decke weg und die bequeme Jogginghose, in der sie geschlafen hatte, herunter. Danach die Unterhose.
Es grauste ihr, und sie würgte, als sie der Frau den Stock in die Vagina rammte.
»Scusami«, murmelte sie, legte die Decke zurück über die Leiche, verließ das Zelt und schloss den Reißverschluss hinter sich.
»Scusami.«
Zurück in Montebenichi, schob sie die Vespa leise bergauf, stellte sie dann exakt dorthin, wo sie auch vorhin schon gestanden hatte, ging leise ins Haus, legte im Wohnzimmer die Pistole zurück in die Schreibtischschublade, zog sich im Bad wieder aus und kroch zu Stefano ins Bett. Schmiegte sich an ihn.
Er grunzte wohlig.
Sie schnupperte an seinem Nacken, genoss minutenlang seinen vertrauten Geruch und schlief schließlich entspannt ein.
Drei Stunden später saß sie am Küchentisch und trank einen Kaffee.
Stefano kam herein. Zerzaust, verschlafen, gähnend und sich unentwegt die Stirn reibend. »Was ist denn mit dir los? Warum schläfst du nicht?«
»Ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
Sie starrte ihn an, als...
Erscheint lt. Verlag | 26.2.2025 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | beste deutsche krimiautoren • Commissario Neri • Der Kindersammler • eBooks • Ermittler • Italienischer Krimi • Kloster • Neuerscheinung 2025 • Psychothriller • Serienmörder • Spannung • Spiegel Bestseller Autorin • Thriller • toscana thriller • Toskana • toskana thriller • Verbotene Liebe |
ISBN-10 | 3-641-30851-8 / 3641308518 |
ISBN-13 | 978-3-641-30851-3 / 9783641308513 |
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