American Mother (eBook)
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01844-0 (ISBN)
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Für den Roman Die große Welt erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.
Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen Der Tänzer und Zoli. Für den Roman Die große Welt erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York. Diane Foley ist die Mutter des Kriegsjournalisten James Wright Foley, der 2012 vom IS gekidnappt und nach langem Leiden 2014 vor der Kamera ermordet wurde. Foley wurde in der Folge eine leidenschaftliche Stimme der Angehörigen von Opfern politischer Entführung, sie trieb Gelder auf, betrieb Lobbying, gründete mehrere Organisationen. Ursprünglich hatte Diane Foley Pflegewissenschaften studiert; fast 20 Jahre lang arbeitete sie als Familienkrankenpflegerin. Sie steht seit deren Gründung der James W. Foley Legacy Foundation vor. Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem Colum McCann, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
Sie erwacht im dunklen Hotelzimmer. Ein Lichtschimmer durch die dünnen Vorhänge. Dort, in der Ferne, Washington, D.C. – Stadt der Wahrheiten, Halbwahrheiten, Doppelwahrheiten, Lügen. Eine sichere Wahrheit: Ihr Sohn ist seit sieben Jahren tot, und heute Morgen trifft sie einen seiner Mörder.
Diese Vorstellung löst Beklemmungen in ihr aus. Nicht nur, weil sie nicht weiß, was sie von ihm zu erwarten hat: Ebenso wenig hat sie eine Vorstellung davon, was sie von sich selbst erwarten kann. Eine Sinfonie der Verwirrung. Mitgefühl. Rache. Verbitterung. Barmherzigkeit. Verlust. Gnade.
In der Nacht hat sie gebetet, noch mehr als üblich. Die höchsten Mächte angefleht. Das Dunkle durchforstet und auch das Helle. Stundenlang darüber nachgedacht, wie sie ihn ansprechen soll. Alexanda. Alexe. Alex. Kotey. Mister Kotey. Nein. Nicht Mister. Ausgeschlossen. Schließlich ist sie mit ihren dreiundsiebzig fast doppelt so alt wie er.
Aber es gibt Umgangsformen. Anstand. Jeder verdient einen Namen, auch die, die anderen ihren Namen genommen haben.
Sie macht das Licht an. Das Hotelzimmer ist groß und spärlich möbliert. Sie öffnet den Schrank. Darin hängen ordentlich die Kleidungsstücke, die sie ausgewählt hat. Das lange, gemusterte Kleid. Ein grauer Rollkragenpullover für darunter. Ein schicker Schal, den Jim ihr vor vielen Jahren, nach seiner ersten Geiselhaft, aus Libyen mitgebracht hat. Die hochhackigen Schuhe, die weder zweckmäßig noch bequem sind. Auf der Ablage im Badezimmer liegen goldene Creolen und die goldene Halskette aus Ecuador, die sie tragen will: ein Amulett mit der heiligen Gottesmutter. Ein Rosenkranzarmband aus Kroatien. Geschenke ihrer Mutter.
Ihr Make-up ist dezent. Sie trägt einen Hauch Lippenstift auf. Ihr dunkles Haar gehört zu ihren letzten Eitelkeiten: Sie geht mit Händen und Bürste hindurch, fächert es zu den Seiten auf.
Sie begutachtet sich im Spiegel. Ihre Erscheinung besteht aus Schichten. Selbstsicher, elegant sogar, aber darunter ist sie dünnhäutig, angespannt, verletzlich. Wie soll sie vorgehen? Wie ihrem gepeinigten Herzen zu seinem Recht verhelfen? Wie den Schmerz unterdrücken? Wie ihm in die Augen sehen? Wie den Hass ausschalten? Wie die Maschinerie ihres Denkens steuern?
Sie geht zum Bett zurück, kniet sich noch einmal hin. Herr, mache mich zum Werkzeug deines Friedens. Lass mich barmherzig sein. Gib mir Kraft.
Der Raum im Gerichtsgebäude ist groß. Fensterlos. Das Licht kalt. Die Tische bilden zusammen ein großes Rechteck. Kotey sitzt allein im vorderen Teil des Raums, den Kopf gesenkt. Er ist Ende dreißig, breitschultrig, das Haar kurz geschoren. Borstiger, mittellanger Bart. Er trägt einen grünen Overall mit kurzen Ärmeln. Seine Füße sind gefesselt, die freien Hände liegen gefaltet auf dem Tisch. Sogar im Sitzen wirkt er groß und kräftig – viel kräftiger, als sie erwartet hat.
Sie geht sicheren Schrittes durch den Raum. Die Stühle sind so platziert, dass sie ihm gegenübersitzt. Keine Glasscheibe. Kein Gitter. Nur ein Konferenztisch. Die Corona-Abstandsregeln wurden eingehalten, sodass sie sich keine Sorgen darüber machen muss, sie könnte aus einem Impuls heraus über den Tisch langen, um ihm die Hand zu geben. Dieser Gedanke hatte ihr Angst gemacht: Sie wollte ihn nicht berühren. Sie nimmt die Maske ab: Alle im Raum sind geimpft. Kotey bleibt sitzen, den Kopf noch immer leicht gesenkt, die Hände unruhig. Seine Fingernägel, fällt ihr auf, sind lang und sauber.
Sieben weitere Menschen sitzen im Raum, um das Gespräch zu verfolgen. Drei von der Verteidigung. Drei von der Staatsanwaltschaft. Eine Freundin der Familie, die ihr bei den Fragen zur Seite stehen soll. Doch im Grunde sind da nur sie und er.
«Guten Morgen, Alexanda», sagt sie, als sie Platz nimmt.
Sie wirkt heiter, das tut sie immer, auch in den schwierigsten Zeiten. Das ist Teil ihrer natürlichen Tarnung. Man kennt sie für ihr Lächeln, ihre gewinnende Art, die ruhige Gelassenheit.
Sie betont seinen Namen in der Mitte, zieht die Silbe lang wie ein Gummiband. «Alex-aahn-da.» Ihr Akzent ist reines New England. Sie wollte ihn nicht Alexe nennen, der Name, den er bevorzugt und den die Verteidigung gebraucht, seit er vor vier Monaten nach Amerika gebracht wurde. Auch die Kurzform Alex, mit der ihn die Staatsanwaltschaft bei den Vernehmungen anspricht, wollte sie nicht verwenden.
Alexanda. Der Name, den ihm seine Mutter gegeben hat. Wenigstens das sollte man ihm zugestehen. Es liegt eine gewisse Würde darin.
Er hebt leicht den Blick, nickt kaum merklich. Seine Augen sind kompliziert, dunkelbraun, mit tiefen Ringen. Es ist schwer zu sagen, was sich darin verbirgt.
«Guten Morgen», sagt er.
Sie richtet sich noch einmal auf, zieht den Schal zurecht. Er soll sofort merken, dass sie sich nicht im Mindesten vor ihm fürchtet. Sie legt die Hände auf den Tisch: Ihr Armband klimpert. Er bewegt die Füße, und die Titanfesseln machen ein leises Geräusch. Armband und Fußfesseln.
Sie wird nicht weinen. Das letzte Mal hat sie am Tag von Jims Tod geweint. Vor sieben Jahren. Stattdessen lächelt sie: stählern und doch warm. Sie ist eine entschlossene Frau. Ihre große Leistung ist, dass sie ihren Schmerz nicht nach außen dringen lässt.
«Sie können mich Diane nennen.»
Er nickt, schiebt die Finger über den Handrücken: als ob seine Hände gleichzeitig offen und geschlossen wären. Er erscheint ihr wie ein dunkler Eingang: Irgendwo dort, direkt gegenüber, wartet ihr Sohn.
Er hat sich in acht Anklagepunkten schuldig bekannt, einschließlich der Verschwörung zum Mord an James Foley, Steven Sotloff, Peter Kassig und Kayla Mueller. Für jeden Anklagepunkt bekommt er eine lebenslängliche Freiheitsstrafe. Die heutige Begegnung ist Teil eines besonderen Deals zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung: Er sitzt in einem Gefängnis in Virginia und hat eingewilligt, vor der endgültigen Urteilsverkündung, falls gewünscht, mit den Familien der Opfer zu sprechen. Sie war die Erste, die den Wunsch geäußert hat, ihn zu treffen, und vielleicht bleibt sie am Ende die Einzige.
Doch sogar in ihrer eigenen Familie gibt es Zweifel, Unmut, Zorn, Enttäuschung. Warum Kotey ein Podium geben? Warum ihm unnötig Bedeutung verleihen? Hat er nicht schon gestanden? Warum ihn nicht in seiner Zelle verfaulen lassen? Warum sich gegenüber einem Terroristen öffnen? Warum ihm Zeit schenken? Ist jeder Funke Respekt nicht schon zu viel? Wissen wir denn nicht, was für ein Mensch er ist? Die schwarze Kapuze. Die Augen. Der Wüstensand. Der orange Overall. Die kniende Gestalt. Das Durchschneiden der Kehle. Dann der groteske Anblick des abgetrennten Kopfes auf dem Rücken ihres Sohnes. Warum die Qualen der Vergangenheit zurückholen?
Andere finden es mutig, dass sie sich mit ihm trifft, eine außergewöhnliche Tat. Aber es handelt sich nicht um Mut, nein, nicht für sie, ganz und gar nicht. Es handelt sich auch nicht um einen Gnadenakt oder um Vergebung. Nein. Vielleicht weigert sie sich einfach, Angst zu haben. Vielleicht ist das ihr Weg, ihm zu sagen, dass er ihren Sohn eigentlich gar nicht getötet hat. Vielleicht ist es tatsächlich so elementar: Ich bin seine Mutter, und du hast ihn nicht ermordet, und ich bin hier, um dir das zu sagen.
«Ich hoffe», sagt sie, «man behandelt Sie gut.»
Im Raum knistert die Spannung des Unausgesprochenen. Er nickt flüchtig.
«Ihr Name», sagt sie. «Alexanda. Das bedeutet ‹Beschützer des Volkes›.»
Später wird sie erfahren, dass sein Nachname, Kotey, aus Ghana stammt und ursprünglich «gute Seele» bedeutet.
Alexanda Kotey. Ehemaliger britischer Staatsbürger. Ehemaliger IS-Kämpfer. Ehemaliges Mitglied der Gruppe, die von der Presse die «Beatles» genannt wird. Ehemaliger Drogendealer. Jetzt in Haft. Staatenlos. Ein Mann, der den Rest seines Lebens in einem kleinen Raum verbringen wird, aus dem es kein Entkommen gibt.
Auch er lächelt. Es ist ein dünnes Lächeln, aber die frühzeitige Zuversicht darin entwaffnet sie. Dennoch behält sie ihr eigenes Lächeln bei, ihr stets höfliches, stählernes, warmes Lächeln. Es überdauert die Stille, in der sie ihre Notizen vor sich ausbreitet.
Immer wieder hat man sie gewarnt: Sieh dich vor, Diane, dieser Mann ist ein Lügner.
Sie hat ihn im Gerichtssaal gesehen, hier in Virginia, vor zwei Monaten, aus der Ferne. Die Todesstrafe war in den Verhandlungen zwischen der britischen und der US-amerikanischen Regierung ausgesetzt worden, mit Zustimmung der Opferfamilien. Er hatte sich in acht Anklagepunkten schuldig bekannt, unter anderem der Verschwörung zum Mord in vier Fällen. Damals hatte er nicht die geringste Regung gezeigt. Er hatte in ihre und die Richtung ihres Mannes John geblickt, aber da war nichts. Sein Geständnis war einstudiert. Er war ein zugefrorener See. Völlig unbewegt. Freunden hat sie anvertraut, dass sie nicht hier ist, um ihm zu vergeben oder sein Gewissen zu erleichtern. Nein – sie ist aus einem anderen Grund hier. Aus welchem, weiß sie selbst noch nicht genau. Es ist ein Gefühl tief in ihrem Bauch. Und alles Mögliche könnte passieren. Er könnte ihr ausweichen. Er könnte versuchen, sie mit Rhetorik und Spott zu verhöhnen. Sogar der Psychopath könnte aus ihm...
Erscheint lt. Verlag | 10.12.2024 |
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Übersetzer | Volker Oldenburg |
Zusatzinfo | Mit 4 s/w Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | amerikanischer Journalist • Angehörige • Ermordung Journalist • Extremismus • Geisel in Syrien • Geiselnahme • Gewalt gegen Presse • Irak • IS • Islamischer Staat • James Foley • James W. Foley Legacy Foundation • jim foley • Kriegsberichterstattung • Kriegsgefangener in Syrien • Politischer Gefangener • Tatsachenbericht • Terror • Terrorismus • Terror-Miliz Islamischer Staat • Terrororganisation • Vergebung |
ISBN-10 | 3-644-01844-8 / 3644018448 |
ISBN-13 | 978-3-644-01844-0 / 9783644018440 |
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