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Trauma und Justiz (eBook)

Juristische Grundlagen für Psychotherapeuten - psychotherapeutische Grundlagen für Juristen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
270 Seiten
Schattauer (Verlag)
978-3-608-12282-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
57,99 inkl. MwSt
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Anzeigen? Anzeigen! Fachübergreifend: Von einer Juristin und einem Psychotherapeuten Eingänglich: Juristische Grundlagen verständlich aufbereitet Anwendungsbezogen: Mit realistischen Praxisbeispielen Dieses vollständig überarbeitete Referenzwerk stattet Psychotherapeut:innen mit juristischem Grundwissen aus, sodass sie ihren Patient:innen fundierte Empfehlungen geben können, ob eine Anzeige sinnvoll ist oder eher retraumatisierend wirkt. Weiterhin geht es um Aspekte wie Gutachten, Zeugenaussagen von Therapeut:innen, Akteneinsicht und Kooperation. Für den Fall einer Anzeige vermitteln Kirsten Böök und Ulrich Sachsse wichtige Hilfestellungen für die weitere psychotherapeutische Behandlung während des Strafverfahrens und danach. Die Neuauflage ergänzt das Werk um aktuelle Gesetzesänderungen (psychosoziale Prozessbegleitung, Opferentschädigung) und nimmt Stellung zur vieldiskutierten Problematik der vermeintlichen Konkurrenz zwischen Traumatherapie und Gerichtsverfahren, Suggestion und Glaubhaftigkeit. Ein notwendiges Buch sowohl für Psychotherapeut:innen als auch für Jurist:innen - und ein gesellschaftspolitischer Diskussionsbeitrag.

Kirsten Böök, geb. Stang, Juristin, Leitende Ministerialrätin im Niedersächsischen Justizministerium, Leiterin der Referatsgruppe für Prävention und Opferschutz.

Kirsten Böök, geb. Stang, Juristin, Leitende Ministerialrätin im Niedersächsischen Justizministerium, Leiterin der Referatsgruppe für Prävention und Opferschutz. Ulrich Sachsse, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Psychotraumatologie (DeGPT); Asklepios Fachklinikum Göttingen.

Einleitung


Der Artikel vom 1. März 2005, den Bettina Thoenes in der »Braunschweiger Zeitung« schrieb, ist immer noch aktuell: Unter der Überschrift »Jungen 300-mal sexuell missbraucht« konnte man lesen:

»Vor dem Saal 125 im Landgericht wartet still ein junger Mann. Er wirkt angespannt, beteiligt sich kaum am Gespräch seiner Familie. Drinnen, vor der Jugendschutzkammer, wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit gerade der Mann vernommen, der ihn über sechs Jahre hinweg immer wieder sexuell missbraucht haben soll. 300 Fälle sind aufgelistet. Sie reichen lange zurück – in die Kindheit des 21-Jährigen. 1988, er war knapp sechs Jahre alt, soll ihn der Fremde am Inselwall zu einer Paddeltour eingeladen und sich fortan ›das Vertrauen der Familie erschlichen‹ haben, wie es in der Anklage der Staatsanwaltschaft heißt. Der heute 42 Jahre alte Alleinstehende galt den Ermittlern zufolge als kinderfreundlicher ›Patenonkel‹, der dem Jungen Nachhilfestunden gab und ihn großzügig beschenkte. An Wochenenden soll es in der Wohnung des Angeklagten und auch während einer gemeinsamen Urlaubsreise nach Gran Canaria zu den sexuellen Übergriffen gekommen sein. Die Eltern waren arglos. Bis ihr Sohn 16 Jahre später sein Schweigen brach: Er offenbarte sich der Polizei erst, als er hörte, dass sich der Täter einem anderen Kind genähert haben soll. Die Polizei war dem Mann zu diesem Zeitpunkt bereits auf der Spur: Die Kripo München hatte den Hinweis gegeben, dass der Angeklagte möglicherweise kinderpornografische Bilder über das Internet verbreitet habe. Während einer Durchsuchung der Wohnung entdeckten Ermittler private Videoaufnahmen. Ein gefilmter Junge hatte ›frappierende Ähnlichkeit‹ mit dem Kind auf den pornografischen Abbildungen, wie Polizeibeamte feststellten. Sie machten den Namen (…) ausfindig. Der schwieg zunächst. Monate später aber erstattete er Anzeige. Auf seine Aussage stützt sich wesentlich die Anklage gegen den 42-Jährigen, der seit vergangenem September in Untersuchungshaft sitzt. Vor Gericht äußerte sich der Beschuldigte gestern in nichtöffentlicher Verhandlung erstmals zu den Vorwürfen. Der Prozess wurde daraufhin unterbrochen. Eine Sachverständige soll nach seiner Aussage ein ergänzendes psychiatrisches Gutachten erstellen.«

Dieser Artikel führt mitten hinein in Fragen, Meinungen, Vorurteile und Missverständnisse der Justiz gegenüber. An fast jeden Satz dieses Artikels könnte im Rahmen eines Gesprächs unter Nicht-Juristen eine Frage angeschlossen werden:

»Wieso wird das Verfahren gegen einen 42 Jahre alten Mann vor der Jugendschutzkammer geführt? Der Angeklagte ist ja nun wohl sicher kein Jugendlicher. Und auch das Opfer ist jetzt 21 Jahre alt. Jugendkammern verhängen bekanntlich ja immer besonders milde Urteile und schonen kriminelle Jugendliche. Was hat dieses Verfahren vor dieser Kammer zu suchen? Welche Kammer, welches Gericht ist eigentlich wofür zuständig? Das ist völlig undurchschaubar, finde ich.«

»Wieso wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt? Wieso darf der Täter unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen? Warum wird ihm dieser Schutz gegeben? Andererseits: Eigentlich gehen diese Sachen im Einzelnen die Öffentlichkeit ja auch alle gar nichts an. Das sind sehr intime Ereignisse und Geschehnisse. Warum wird da die Öffentlichkeit nicht generell immer ausgeschlossen? Warum finden solche Verfahren überhaupt vor Zuhörern und Zuschauern statt?«

»Der junge Mann hat 16 Jahre nach der Tat sein Schweigen gebrochen. Dann ist so was aber doch eigentlich schon längst verjährt. Wie sind eigentlich die Verjährungsfristen? Warum verjähren Straftaten überhaupt? Manche Sachen verjähren doch angeblich gar nicht. Warum dann so was?«

»Die Anklage stützt sich auf die Aussage des jetzt 21-Jährigen. In diesem Fall gibt es ja wohl auch Videoaufnahmen. Was wäre aber, wenn die Aussage des Opfers einfach nur gegen die Aussage des mutmaßlichen Täters stehen würde? Gilt dann nicht grundsätzlich: Im Zweifel für den Angeklagten, in dubio pro reo? Hat man dann überhaupt eine Chance mit einer Anzeige? Wird dann nicht jeder Täter, der frech weg alles leugnet, grundsätzlich freigesprochen, weil einfach nur Aussage gegen Aussage steht? Ist so was denn gerecht? Da werden doch die Täter krass bevorzugt!«

Heute kommen die Fragen hinzu:

»Das Opfer hat doch sicher schon eine Therapie gemacht, bei den Vorwürfen. Dann glaubt ihm doch kein Gericht mehr. Wird nicht generell Therapeuten vorgeworfen, sie würden suggestiv arbeiten?«

»Deutschland hat ja offenkundig ein krass täterbezogenes und täterzentriertes Strafrecht. Als Täter kommt man immer besser weg, als wenn man Opfer gewesen ist.«

»Und was kommt am Ende als Urteil dabei raus? Wie immer wahrscheinlich viel zu wenig.«

»Das weiß man doch: Opfer werden von der Justiz erneut traumatisiert. Andererseits: Einige vertreten vehement, ein Strafprozess helfe bei der Bewältigung des Traumas. Was stimmt denn nun?«

So oder ähnlich könnte ein Gespräch über den oben ausführlich zitierten Zeitungsartikel in jeder Kantine, an jedem Stammtisch oder bei Social Media ablaufen. Dies könnte aber durchaus auch der Gesprächsverlauf einer Diskussion im Kreise von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sein.

Immer dann, wenn Vermutungen, Unterstellungen, Vorurteile und Halbwissen dominieren, können Information und Wissen nicht schaden. An den meisten Unterstellungen und an vielen lockeren Sprüchen ist was dran. Aber was genau? Was stimmt, was ist falsch?

Was für alle Menschen gilt, stimmt natürlich auch für die Juristen: dass sie weder allwissend noch Hellseher sind. Da Juristen Menschen sind, können sie sich irren. Wo Menschen entscheiden, hat es auch immer wieder Fehlentscheidungen gegeben. Unser Rechtssystem macht es den Juristen aber schwer, Fehler einzugestehen. Und die Gesellschaft hätte auch gerne unfehlbare Juristen. Keine Fehlurteile, keine Justizirrtümer, kein schlechtes Gewissen der Gesellschaft! Die Gesellschaft hätte natürlich auch gerne unfehlbare Ärzte und unfehlbare Fußballschiedsrichter und unfehlbare Politiker. Und wir alle regen uns immer wieder darüber auf, dass dieser unser Wunsch nach Unfehlbarkeit unter Menschen unerfüllbar ist.

Juristen haben so ihre eigene Sprache. Das wird in unserem Buch immer wieder deutlich werden. Ein Wort heißt im juristischen Kontext oft etwas anderes als im umgangssprachlichen Kontext oder im Psycho-Kontext. Es hat eine andere Bedeutung. Dies gilt allerdings umgekehrt auch für Psychiater und Psychotherapeuten. Wenn die ihr Gutachten erstatten, tun Juristen auch immer wieder gut daran, ganz genau nachzufragen: Wie verwenden Sie diesen Begriff eigentlich? Verstehen wir darunter das Gleiche?

Psychotherapeutinnen lernen und trainieren in ihrer Aus-, Weiter- und Fortbildung eine gewisse soziale Empathie. Sie werden geschult, ihren eigenen Kontext zu verlassen und denjenigen anderer Menschen empathisch aufzusuchen. Psychotherapeutinnen nähern sich ihren Patientinnen immer wieder wie Ethnomedizinerinnen einer ihnen fremden Ethnie: Sie begegnen einer fremden Kultur, müssen zumindest partiell innerlich an dieser teilnehmen und teilhaben und können sich dann über Rückfragen und Einfühlung wenigstens teilweise in diese Welt hineindenken, hineinfühlen, hineinfantasieren.

Das gilt ausdrücklich nicht für juristisches Denken. Psychotherapeutinnen werden nirgends darin geschult, juristisch zu denken. Bei Psychiaterinnen ist das etwas anders, weil diese häufiger juristisch relevante Gutachten schreiben müssen und die Schulung in den Grundlagen juristischen Denkens mit zur Weiterbildungsordnung gehört. Psychiaterinnen müssen eine gewisse Anzahl von Gutachten erstatten, zumindest im Bereich des Sozialrechts.

Psychotherapeutinnen haben genau wie Juristinnen ihre eigene Sprache. Was das Ganze noch erschwert: Unterschiedliche Schulen, unterschiedliche Richtungen haben unterschiedliche Sprachen. Bekanntlich gehört es zum Phänomen der Gruppenbildung und der Institutionalisierung dazu, erst mal eine eigene Sprache zu entwickeln. Das lernt jeder, der die erste Unterrichtsstunde im Tennis nimmt: Im Tennis gilt ein ganz anderes System des Zählens als sonst auf der Welt. Wo sonst gilt die Reihenfolge: 0 – 15 – 30 – 40?

Auch Juristen haben unterschiedliche Sprachen und unterschiedliche Denkweisen, zumindest dann, wenn sie aus verschiedenen Staaten und damit aus unterschiedlichen Rechtstraditionen kommen. Unser Rechtssystem ist nicht das einzige auf der Welt. Und Dinge, die in unserem Rechtssystem richtig sind, sind in anderen Rechtssystemen falsch. Während wir zum Beispiel den Faktor Alkohol strafmildernd werten, werten ihn Richter in Großbritannien stets als strafverschärfend. Das nur mal als Beispiel. Wichtig ist dieser Gesichtspunkt dann, wenn sich Menschen an Kinofilmen orientieren. Unser Strafprozess und unser juristisches Denken sind völlig anders als dasjenige in den Vereinigten Staaten. Sehr viele Kinofilme kommen aber aus den USA und Opfer oder Zeugen gehen dann in einen deutschen Prozess mit der Erwartung hinein, dort auf ein ähnliches Verhalten zu treffen wie in amerikanischen Filmen. So sind unser Prozess und unser Rechtssystem nicht aufgebaut. Wir werden darauf noch zu sprechen...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2024
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Traumatherapie
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Ermittlungsverfahren • Forensik • Forensische Psychiatrie • Forensische Psychotherapie • Gerichtsverhandlung • Häusliche Gewalt • Missbrauch • Opferschutz • Sexualisierte Gewalt • Strafverfahren • Trauma • Traumatherapie • Traumatisierung • Vergewaltigung • Zeugenaussage
ISBN-10 3-608-12282-6 / 3608122826
ISBN-13 978-3-608-12282-4 / 9783608122824
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