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Der Anruf (eBook)

Untersuchungen
eBook Download: EPUB
2025 | 1. Auflage
176 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-492032-0 (ISBN)
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Eines der großen Rätsel des 20. Jahrhunderts und das Lebensrätsel Ismail Kadares 1934: Moskau ist ein Labyrinth aus Angst und Verrat. Jeder kann jederzeit verhaftet werden. Auch Ossip Mandelstam, dessen gegen Stalin gerichtetes Gedicht keiner lesen darf, das aber alle kennen. Da ruft Stalin selbst Pasternak an. Drei Minuten dauert das legendäre Telefonat zwischen Diktator und Dichter. Stalin fragt, ob Pasternak Mandelstams giftige Verse kenne. Ja oder nein, jede Antwort führt in eine Falle und entscheidet über Mandelstams Leben oder Tod.  Bis heute ist es ein Rätsel, was Pasternak in diesen drei Minuten sagte: Warum konnte er Mandelstam nicht retten? In Moskau geriet Ismail Kadare während des Studiums in den Bann dieser Frage. Als albanischer Schriftsteller kennt er die dunklen Schatten der Macht und die Konfrontation von Politik und Kunst. Das Telefonat, das er wie in einem Kriminalroman bis in die kleinsten Details seziert, spiegelt ihm sein Lebensrätsel wider. »Die wohl ultimative mythische Anekdote aus der stalinistischen Ära« Slavoj ?i?ek

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana.

Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er galt jahrelang als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er war Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebte zuletzt in Tirana und Paris. Er starb 2024 in Tirana. Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 1970er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.

[...] eine eindringliche Meditation über das Verhältnis von Dichtung und Diktatur [...].

[...] ein herrlich ironischer Kommentar über das Verhältnis von Dichtung und Diktatur.

I


An der Haltestelle auf der rechten Straßenseite steigst du in den Trolleybus der Linie 3 und fährst bis zum Puschkinplatz, wo das berühmte Denkmal steht. Exegi monumentum, du weißt schon. Gehe rechter Hand daran vorbei und überquere die Gorkistraße. Ein paar Schritte weiter, an der Kreuzung, beginnt der Twerskoj-Boulevard.

Ab hier ist alles ganz einfach. Wieder auf dem rechten Bürgersteig erreichst du zu Fuß in weniger als einer Minute das Eingangstor zum Gorki-Institut. Vielmehr, es taucht vor dir auf. Verstehst du, es ist plötzlich da, obwohl man vielleicht gar nicht damit rechnet …

Aber ich rechne natürlich damit. Seit Jahren träume ich von diesem Ort. Keine Ahnung, vielleicht ist das gar nicht so gut, denn wenn man etwas zu sehr will, verliert es mit der Zeit seinen Reiz. Für mich gilt das aber auf keinen Fall! Ich habe mich unglaublich angestrengt, um diese Chance zu bekommen. Die Trolleybusse wiehern schrill, wie wilde Pferde. Man muss aufpassen, ständig tritt man in irgendwelche Löcher. Dann erblicke ich es endlich, das berühmte Denkmal. Wie mir gesagt wurde, gehe ich rechts daran vorbei …

Was für ein Denkmal, mein Junge? Das ist doch dummes Zeug, hier gibt es kein Denkmal … Wie, gibt es nicht? Das Puschkin-Denkmal? Ich war schon so oft hier. Eine optische Täuschung, nichts weiter, ein Denkmal gab es hier noch nie. Dass ich nicht lache, die ganze Welt kennt es: Exegi monumentum … Von wem außer dir sollte ich es denn sonst haben: Ein Denkmal schuf ich mir … Weiter, mein Junge! Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes … Ein nerukotwornyj monument, ein wundersames Monument also. Da bist du ihm aber schön auf den Leim gekrochen: Wenn nicht Hände, sondern Seelen es errichtet haben, kann es auch keiner sehen. Bloß ihr Dummköpfe, ihr Studenten des Gorki-Instituts.[1]

 

 

Nein, so sind wir nicht. Noch viel schlimmer seid ihr. Jeder versucht, den anderen vom Sockel zu stoßen, um selber hinaufzuklettern. Denk an das Pasternak-Meeting? Das war doch etwas ganz anderes … Warst du dabei, hast du ebenfalls Parolen gebrüllt? Natürlich nicht! Was tatest du dann, während die anderen stänkerten? Ich starrte ein Mädchen an, dem die Tränen über die Wangen liefen. Seine Nichte, dachte ich …

Hoffst du nach all den Jahren auf ein Wiedersehen? Glaubst du, das Meeting ist immer noch im Gange? Kann sein. Eigentlich spricht vieles dafür. Das erstickte Geschrei dort hinten weist einem besser den Weg als die Tafel am Tor. Es hört nie auf, dieses Getöse, egal ob in Moskau oder Tirana.

 

Dieser böse Traum setzt mir seit Jahren zu, in den verrücktesten Varianten. Quietschende Trolleybusse auf holperigen, mit Schlaglöchern übersäten Straßen. Ein verleugnetes Denkmal. Tränenüberströmte Wangen. Das verführerische Moskau.

Ich war so wild entschlossen, darüber zu schreiben, dass es mir manchmal so vorkam, als seien die Buchstaben, die ich brauchte, bereits in der Ecke aufgestapelt und warteten nur darauf, endlich Wörter zu bilden.

Häuften sich in meinen Träumen Reisen, war es ein sicheres Zeichen dafür, dass es bald so weit war. Die nächtlichen Erlebnisse wurden immer konfuser und unlogischer. Der Trolleybus der Linie 3 verweigerte manchmal die Arbeit, so dass man die Peitsche einsetzen musste. Das gab mir zu denken. Ich war seit Jahren nicht mehr in Moskau gewesen, bestimmt hatte sich in der Zwischenzeit so manches geändert, aber dass man jetzt schon Trolleybusse auspeitschte? Unglaublich!

In Tirana ging die Kampagne »Lernen wir das wirkliche Leben kennen!« weiter. Fast sämtliche Schriftsteller hatten inzwischen Defizite in der Vertrautheit mit der Lebenswelt der Fabrikarbeiter eingeräumt, ganz zu schweigen von den Verhältnissen in den landwirtschaftlichen Genossenschaften. Ohne jemanden einzuweihen, hatte ich inzwischen an meinem Moskauroman zu arbeiten begonnen, jedoch war keineswegs sicher, dass etwas daraus werden würde. Tagsüber schien die Fertigstellung so außer Reichweite zu sein wie Moskau selbst, denn seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen war die Chance, jemals wieder dorthin reisen zu können, gleich null. Zu später Stunde, ab Mitternacht, war es dagegen ein wenig anders. Beim Zubettgehen hoffte ich auf Träume, auch wenn sie sich immer seltener einstellten. Zudem wurden sie immer chaotischer, und ich wusste nicht genau, ob dieses Chaos meiner Unternehmung eher hinderlich oder nützlich war.

Es lief wohl auf einen Vorteil hinaus, denn anders als die Fabriken und Genossenschaften verlangte das Moskau meines Romans kein intimeres Kennenlernen.

In einem der Träume schleppte ich mich über den Puschkinplatz, um schließlich in einer Versammlung zu landen, an der die meisten Studenten teilnahmen. Obwohl ich eigentlich hätte vorbereitet sein müssen, war ich doch überrascht, als ich auf dem riesigen Transparent meinen Namen las. Dann begriff ich, dass das ganze Gebrülle und Gekeife gegen mich gerichtet war.

Zu den Schreihälsen gehörten auch einige Kurskollegen. Petros Antaios wusste nicht, wo er hinschauen sollte, und der Lette Stulpans, mein bester Freund, hatte sein Gesicht in den Händen verborgen.[2]

Euer oberster Chef hat dich also aus Tirana angerufen, schrie ein erboster Belorusse. Euer Stalin[3], du weißt schon, ich habe seinen Namen vergessen.

Ich nickte verlegen, aber er war nicht zu beruhigen.

Wie viele Versionen gibt es von diesem Gespräch?

Höchstens drei oder vier, nicht mehr, hätte ich gerne beschwichtigend gesagt, aber ich konnte mich nicht mehr entsinnen, und außerdem wachte ich auf.

Der Anruf von Enver Hoxha[4] hatte tatsächlich stattgefunden. Es war gegen Mittag, ich hielt mich wie üblich im Gebäude des Schriftstellerverbands auf, als der Chefredakteur der Zeitung Drita mir den Telefonhörer hinhielt. Jemand wolle mich sprechen.[5]

»Ich bin Haxhi Kroi«, sagte eine Stimme. »Genosse Enver will mit Ihnen reden.«[6]

Ich sagte danke, mehr brachte ich nicht heraus. Hoxha gratulierte mir zu einem Poem, das eben in der Zeitung abgedruckt worden war. Ich bedankte mich erneut. Es habe ihm sehr gefallen. Ich bedeutete den anderen im Raum, endlich still zu sein, bevor ich das nächste »Danke!« gleich zweimal hervorstammelte.

»Viermal Dankeschön«, sagte einer der Redakteure. »Seit wann benimmst du dich so manierlich?«

Es fiel mir keine bessere Warnung ein, deshalb beließ ich es bei einem erneuten Winken, das für sie schwer zu deuten gewesen sein muss.

»Das war Enver Hoxha.« Mehr brachte ich nicht heraus, als der Hörer wieder auf der Gabel lag.

Ach wirklich? Er selbst? Persönlich?

»Ja«, antwortete ich.

Also wie? Was wollte er denn? Und du? Du hast ja gar nichts gesagt.

»Ich weiß auch nicht.«

Etwas anderes fiel mir nicht ein, konsterniert, wie ich war.

Schließlich erzählte ich von dem Glückwunsch, und außer einem, der Verständnis äußerte, weil es einem in solch großen Momenten leicht die Sprache verschlage, kritisierten mich alle, da ich nichts Gescheites herausgebracht hatte.

Idiot, beschimpfte ich den Belorussen aus dem Traum.

In der Kampagne gegen Pasternak[7] wurde sein Telefongespräch mit Stalin nach Mandelstams[8] Verhaftung dazu benutzt, ihn in ein schlechtes Licht zu rücken. Das galt besonders für die Stelle, an der Stalin seine Meinung über Mandelstam wissen will. Fünf oder sechs Versionen waren im Umlauf, von weiteren wurde getuschelt, und eine war übler als die andere.

Idiot, schalt ich erneut den Belorussen, mehr aber noch mich selbst, weil ich solche Dinge träumte.

Das hinderte mich aber nicht daran, über weitere Varianten nachzudenken.

Genosse Enver will mit Ihnen reden … Was halten Sie von Mandelstam, ich meine, von Lasgush Poradeci?[9] Oder Dhimitër Pasko[10] und Petro Marko?[11] Sie sind gerade wieder aus dem Gefängnis heraus, können aber leicht wieder dort landen. Beziehungsweise, wie denken Sie über Agolli[12], Qiriazi[13], Arapi[14], die bisher noch ums Gefängnis … herumgekommen sind. Oder fragen wir ohne Umschweife: Was hältst du von dir selbst?

Was den Letztgenannten anging, also mich selbst, war die Antwort recht einfach: Ich möchte das wirkliche Leben schildern, wie wir alle. Allerdings gibt es eine noch unveröffentlichte Novelle über das Studentenleben in Moskau, die Anstoß erregen könnte, vor allem auch bei Genossin Nexhmije[15]. Obwohl, der Ort, wo alles spielt, ist weit entfernt, ein Schriftstellererholungsheim in Dubulti an der baltischen Küste.

Was halten Sie von Pasternak?

Die Frage fühlte sich überraschend an, obwohl sie es absolut nicht war. In Wahrheit hätte mir keine ungelegener kommen können.

Pasternak? Mit dem hatte ich nie etwas zu tun. Vielleicht einmal ein Blick von weitem in Peredelkino[16]. Wenn er in der Novelle erwähnt wird, dann nur wegen der Kampagne, vor deren Hintergrund die Handlung stattfindet. Im Gorki-Institut studierte eine Verwandte von ihm. Eine Studentin im zweiten Jahr, die ständig weinte. Die Gründe kann man sich denken.

Ich war entschlossen, mich möglichst lange bei Nebensächlichkeiten aufzuhalten, um der unvermeidlichen...

Erscheint lt. Verlag 29.1.2025
Übersetzer Joachim Röhm
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte action • Anspruchsvolle Literatur • Boris Pasternak • Detektivgeschichte • Diktatur • Ein Buch von S. Fischer • GULAG • Herrschaft • Josef Stalin • KGB • Nobelpreis für Literatur • Ossip Mandelstam • Russland • Sowjetunion • Stalinismus • Telefon • Weltliteratur
ISBN-10 3-10-492032-X / 310492032X
ISBN-13 978-3-10-492032-0 / 9783104920320
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