Die Himmelsrichtungen (eBook)
199 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-32571-8 (ISBN)
Es ist der 2. Juli 1937, in ihrer Lockheed Electra fliegt Amelia Earhart hoch über dem Ozean. Die Schatten der Wolken sehen aus wie Inseln. Sie steht kurz davor, als erster Mensch die Welt zu umrunden. Dies ist die schwerste Etappe.
Jo Lendle erzählt die Geschichte einer Heldin, die keine Heldin sein will. Amelia fliegt, sie schreibt, sie setzt sich für Frauen ein - ein Vorbild. Doch sie hadert mit all den Zuschreibungen, weil sie sich selbst darin nicht findet, nicht zuletzt in den Kategorien von Frau und Mann. Also hebt sie ab und lässt alles hinter sich, ohne Kompromisse.
»Die Himmelsrichtungen« ist das Porträt eines ungeheuer mutigen, charismatischen, eigensinnigen Menschen. Es ist eine Liebesgeschichte mit wechselnden Beteiligten - manche erstaunlich, andere flüchtig wie Wolken. Und es ist ein Roman über die Erinnerung und wie sie sich allmählich entblättert. Jede Schicht zeigt die Vergangenheit in einem neuen Licht. Wie soll man diese Geschichte anders erzählen als rückwärts? Amelia weiß noch nicht, dass es der letzte Tag ihres Lebens ist.
Jo Lendle wurde 1968 geboren und studierte Literatur, Kulturwissenschaften und Philosophie. Bei der DVA sind seine Romane »Was wir Liebe nennen« (2013), »Alles Land« (2011), »Mein letzter Versuch, die Welt zu retten« (2009) und »Die Kosmonautin« (2008) erschienen, zudem 2021 bei Penguin »Eine Art Familie«.
Ich – denn darum geht es, um mein Dasein als Frau oder als Mensch, um die Fragen, die es aufwirft, und um die Furcht, meine eigene und mehr noch die der anderen – ich also war damit zugange, einen Kanister Flugbenzin in den Tank zu füllen, vorsichtig, um keinen Tropfen zu verschütten. Ich hatte die Handschuhe ausgezogen, es war heiß und das steifgetrocknete Leder machte die Sache nicht leichter, außerdem riechen deine Hände am Ende des Tages ohnehin nach Benzin, da kannst du dich anstellen, wie du willst.
Es war früh am Morgen und die Luft stand über dem Asphalt des Flugfelds wie Fieber. Die Männer schliefen noch. Seit Jahrhunderten schliefen sie. Ich wollte los.
Beim Start in Oakland hatte es eine Reihe von Fehlzündungen gegeben. Flammen waren aus dem Backbordmotor geschossen. Nichts Wildes. Jedenfalls nichts, was sich mit einem Feuerlöscher nicht beheben ließ. Der Flug selbst verlief bislang ruhig. Bis Miami blieben wir über Land und setzten dann über die karibische See nach Puerto Rico und Venezuela. Am Abend bezogen wir unsere Quartiere, morgens ging es weiter. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich einen Dschungel. Eindrucksvoll, aber als Landeplatz wenig verlockend. Wir folgten dem Verlauf der Küste bis an die östlichste Spitze Brasiliens. So verging die erste Woche.
War ich nervös? Ich hätte die Frage von mir gewiesen. Was ich war: gefasst. Entschieden. In Erwartung von allem, was kommen würde. In Natal lösten wir uns vom Kontinent und flogen hinaus auf den Ozean. Dem Flugzeug ist es gleich, ob du festen Boden unter dir hast oder nichts als Wasser. Einen Unterschied macht es nur für uns.
Aber das Navigieren wird schwerer. Über Land ist es leicht, die Geschwindigkeit zu bestimmen. Du wählst einen Punkt am Boden und schaust, wie schnell er zurückbleibt. Auf dem Ozean gibt es keine Punkte. Von Zeit zu Zeit stieß Fred die Flugzeugtür auf und warf ein Fläschchen Aluminiumpulver hinaus. Es zerbrach auf dem Meer und bildete einen kreisrunden, metallisch glitzernden Fleck. Nachts warfen wir Kanister mit Acetylen ab, das sich im Kontakt mit Wasser entzündet.
Wir flogen nach Osten, das machte die Tage kürzer. Zwei Stunden weniger Licht. Nicht schlimm, wenn alles nach Plan läuft, aber unweigerlich fliegst du der Dunkelheit entgegen. Nach dreizehneinhalb Stunden erreichten wir Land. Senegal, südlicher als von Fred erwartet, was mir nicht gefiel. Aus Saint Louis schickte ich eine Depesche nach Hause, bislang verlaufe der Flug ereignislos. An den Abenden erzählte mir Fred seine Geschichten und ich hörte ihm zu.
In Französisch-Äquatorialafrika war es so heiß, dass wir nachts tanken mussten. So viele Menschen, und alle waren bemüht, uns zu helfen. Ich schickte George die Namen, damit er jedem etwas zum Dank auf den Weg brachte. Dicht am Boden überflogen wir den Schari, im Fluss eine Herde Nilpferde. Später der Umriss eines Sees wie ein Embryo, der Wind ließ die Wellen glänzen. Hinter al-Faschir überflogen wir ein Gebiet, das auf unserer Karte vollkommen leer geblieben war. Ich legte meine gespreizte Hand aufs Papier und sie bedeckte nichts, keine Höhenlinie, keinen Wasserlauf, keinen einzigen mit einem Namen verzeichneten Ort. Aus der Luft gab es an diesem Befund nichts zu korrigieren. Da war kein einziger Gegenstand, an dem sich das Auge hätte festhalten können. Ein Niemandsland aus Entbehrung.
Khartum. Massaua. Wir wechselten Länder, ohne es zu bemerken. Die Idee der Grenzen ist ans Land gebunden, dort sind sie offensichtlich: Es gibt Straßen und Wege, Schlagbäume, Zäune, Zollstellen, Mautpunkte, es gibt Flüsse und Gebirge, und alle miteinander gewähren zumindest ein gewisses Maß an Kontrolle. In der Luft gibt es das nicht. Der Himmel hat keine Grenzen.
Über dem Hochland von Abessinien stieg heißer Wind auf und stieß uns kräftig herum. Hinaus aufs Rote Meer. Erst bei der Landung in Karatschi erfuhren wir, dass noch nie jemand hinübergeflogen war. Es gelang mir, eine Verbindung herzustellen. George war kaum zu hören. Ich brüllte ins Telefon, wir hätten eine gute Zeit. Irgendwann würden wir das alles einmal zusammen machen. Ich hoffte, er konnte mich verstehen. Am Abend ritt ich auf einem Kamel.
Über Indien lag Dunst, aber die Eisenbahnstrecken halfen bei der Orientierung. Nach Kalkutta flogen wir in einem Schwarm schwarzer Adler. Von dort schrieb ich George, es gebe personelle Probleme. Er kabelte umgehend zurück: Ich solle bleiben, bis alles geklärt sei. Weil die Startbahn schlammig war, ließen wir beim Weiterflug die Tanks halbleer.
Wir hatten unseren gesamten Flugplan gedreht, um dem Monsun auszuweichen. Und gerieten nun mitten hinein. In Burma wurde der Regen so stark, dass uns der Lack von den Flügeln platzte. Zwei Stunden im Blindflug, zum Glück hatte ich es geübt. Singapur, Java und hinüber an die australische Küste. Weit unten die Wolken. Schaum, Schaum. Unbeweglich und fest, ein hochaufgetürmter Schnee, der einfach nicht schmilzt.
Am nächsten Tag erreichten wir Lae. Wir querten Neuguinea auf ganzer Länge, stiegen auf ins Gebirge, glitten wie ein Raubvogel über den schroffen Gipfel des Mount Wilhelm und stürzten dann steil hinab zur Bismarcksee. In weiter Kehre flogen wir in die Bucht, dicht über dem Meer. In den Bergen hingen noch die Wolkenfetzen, die wir von oben gesehen hatten, darunter das Grün des Regenwalds. Im Näherkommen einzelne Palmen, verstreute Bungalows und dann öffnete sich direkt am Wasser die Linie der Rollbahn, als würde sie uns erwarten.
Wir blieben vorerst in Lae. Schlechter Wind, außerdem hatte Fred Probleme mit der Funkverbindung, so dass es ihm nicht gelang, seine Uhren richtig zu stellen. Wir brauchten die genaue Zeit, um mit Sonne und Sternen zu navigieren. Howland war winzig. Der kleinste Fehler und wir würden die Insel verfehlen. An George schrieb ich: FUNK SCHWIERIG. PERSONELLE UNZULÄNGLICHKEITEN HALTEN VORAUSSICHTLICH EINEN TAG AN.
Es wurden zwei Tage. Man kümmerte sich gut um mich. Ich fand dennoch keine Ruhe. Noch einmal sortierte ich alles aus, was für die letzte Strecke nicht mehr nötig war. Ansonsten unternahm ich kleinere Ausflüge ins Umland. Saß in heißen Quellen. Probierte fremde Früchte. Was man beim Warten so tut. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag geschlafen. Im Ort schienen vor allem Goldsucher und Paradiesvogeljäger zu leben. Sie waren äußerst herzlich.
Noch immer war es möglich, zum vierten Juli zurück zu sein. Es war nicht klug, mir auszumalen, wie es wäre, am Nationalfeiertag zu landen. Ich tat es trotzdem. Immerhin bekamen wir einen ganzen Tag geschenkt. Hier war Freitag, während zu Hause noch Donnerstag war. Beim Überqueren der Datumsgrenze würde ich denselben Tag noch einmal erleben. Als fiele man in einen Spalt.
Ich stellte den Kanister neben die Startbahn. Meine Handschuhe legte ich darauf. Dann stieg ich ein. Prüfte die Anzeigen, eine nach der anderen. Startete die Motoren. Langsam begannen die Propeller zu kreisen. Es war alles Routine, ich dachte nicht darüber nach, was ich tat. Um keinen Teil der Prozedur zu vergessen, flüsterte ich jeden Schritt einzeln vor mich hin wie ein Gebet. Wenn ich ehrlich war, hörte ich mir längst nicht mehr dabei zu.
Das Abheben ging leicht wie nie. Kein Wunder, ich war allein. Ich hätte mich viel früher dazu durchringen sollen.
Ich flog auf zehntausend Fuß, aber der Himmel zog sich zu. In den Wolken zu sein, schaltet nicht einfach die Sicht aus wie die Dunkelheit. Es ist eine vollkommene Beendigung der Sinne, als gäbe es nichts mehr zu empfinden. Alles wird dumpf und blass, du hörst sogar auf zu riechen. Ich weiß, wie es sich anfühlt: sofortiger Schwindel, Tränen, Übelkeit. Es heißt immer, das Fliegen enthebe einen aller Schwere. Festigkeit gebe es nur am Boden. Dabei ist es anders – bei freiem Himmel behältst du das alles, es gibt ja ein Oben und Unten. Erst in den Wolken verlierst du den Halt. Erst dort verlierst du dich aus den Augen.
Ich lasse mich auf siebentausend Fuß fallen. Hier ist freie Sicht bis in die Unendlichkeit, wo sich Himmel und Wasser berühren. Wenn es so bleibt, wird die Itasca von weitem zu sehen sein, sie haben versprochen, schwarzen Rauch auszustoßen. Bald überfliege ich die Datumsgrenze. Ich zwicke mich, um beim Navigieren daran zu denken, sonst weicht jede Berechnung ein Grad von der Wirklichkeit ab. Aber in welche Richtung? Ich bin noch nie über Datumsgrenzen geflogen, schon gar nicht allein. Unter mir die leere See. Falls sie die Antwort kennt, behält sie sie für sich.
Es ist die letzte große Etappe. Die einzige, auf die es ankommt. Ich weiß, das sollte ich nicht denken. Wie Großmutter immer sagte: Jede unserer Taten zählt.
Ich werfe niemandem etwas vor. Ich hätte es besser wissen müssen. Nicht alles wird leichter, wenn man sich auf andere verlässt.
Das Meer sieht aus wie der Rücken eines Elefanten, von Falten übersät.
Ansonsten mache ich, was ich immer gemacht habe: Ich fliege. Dies ist, was ich tue. Eine Insel suchen – ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas anderes getan zu haben. Als wäre ich schon immer hier gewesen.
Ich rede so vor mich hin. Am Ende macht es keinen Unterschied. Sie hören mich oder Sie hören mich nicht. Solange ich rede, bin ich am Leben. Solange ich fliege. Die letzte, einzige Gewissheit, die mir bleibt: Wenn ich niemals lande, werde ich...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Abenteuer • Amelia Earhart • divers • eBooks • erste pilotin • Feminismus • Feministisch • Feministische Literatur • Florian Illies • Frauenrechte • Goldene Zwanziger • hanser verleger • Herkunft • historisch • Historische Romane • Historischer Roman • Identität • Iris Wolff • Karen Duve • Katharina Adler • legendäre pilotin • Liebesgeschichte • michael köhlmeyer • Neuerscheinung • New York • nicht binär • Offene Beziehung • Pilotin • poetisch • Queer • queer Bücher • Roman • Romane • Selbstermächtigung • Starke Frau • Steffen Kopetzky • verschollene pilotin • wahre Begebenheiten • Weltumrundung |
ISBN-10 | 3-641-32571-4 / 3641325714 |
ISBN-13 | 978-3-641-32571-8 / 9783641325718 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 1,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich