Das Tor zum Himmel (eBook)
544 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-28674-3 (ISBN)
Auf der Suche nach seiner geliebten Nura gelangt Noam, der Zeitreisende, nach Mesopotamien. Hier erlebt er Unerhörtes: die Zähmung der Flüsse, die Bewässerung des Landes, die Gründung der ersten Städte, die Erfindung der Schrift und der Astronomie. Noam erreicht Babel, wo der Tyrann Nimrod einen unermesslich hohen Turm baut. Man erhofft sich dadurch die Entdeckung der Gestirne und den Zugang zu den Göttern - ein echtes »Tor zum Himmel«. Als Heiler kommt Noam mit allen in Kontakt: mit den Bauarbeitern und dem König, mit dessen Architekten und Sternenkundlern, aber auch zu den nomadischen Hirten, die die neue Welt ablehnen. Wofür wird sich Noam entscheiden? Für sein persönliches Glück oder für die Errungenschaften der Zivilisation?
Im zweiten Band der Saga »Noams Reise« verwebt Schmitt den Mythos vom Turmbau zu Babel mit den neuesten Erkenntnissen über den Alten Orient, um uns in eine brodelnde, aufregende Epoche eintauchen zu lassen, der wir bis heute so viel verdanken.
Eric-Emmanuel Schmitt, französischer Schriftsteller, Bühnenautor und Filmemacher, wurde 1960 in St.-Foy-les-Lyon geboren. Mit seinem Roman »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« (2001) wurde er zum Bestsellerautor mit großer Fangemeinde, auch in Deutschland. Seine Bücher wurden seither in 48 Sprachen übersetzt, seit 2016 ist er Mitglied der Académie Goncourt. Während einer Pilgerreise ins Heilige Land, die Schmitt im September 2022 auf Wunsch des Vatikans unternahm, entstand sein neuestes Buch »Jerusalem: Meine Begegnung mit dem Heiligen Land«.
PROLOG
Ein Schauer.
Wie oft ist Noam schon geflohen?
Er rennt bis zum Umfallen.
Die Flucht bringt keine Lösung, sie gibt eine Methode vor: weglaufen, nachdenken, handeln. Noam verlässt den Schlupfwinkel der Aktivisten. Drei Tage, ihm bleiben drei Tage … Wenn es Noam in dieser Zeit nicht gelingt, der Welt ihren Vernichtungsplan zu enthüllen, werden sie die Atomkraftwerke angreifen und eine Stromknappheit, eine Unterbrechung der Internetverbindung und eine allgemeine Panik auslösen. Und in diesem Durcheinander brauchen sie nur weitere Attentate folgen zu lassen, um die Zivilisation ins Chaos zu stürzen. Die radikalen Survivalisten hassen diese Gesellschaft, sie haben nur einen Gedanken: sie auszulöschen, um eine andere zu errichten, deren Herren sie sein werden.
Er rennt, so schnell er kann. Die Nacht erdrückt ihn schier, sie ist schwer von der Hitze des Tages. Nicht ein Hauch von Kühle. Alles erstarrt, die Bäume, die Gräser, die vertrocknet am Boden liegen, der schwarze, von mineralischen Sternen durchlöcherte Himmel, der gelbliche Mond. Nichts atmet. Kein Schrei durchlüftet den Hochwald, kein Gurren ist zu vernehmen. Noam läuft durch ein erstarrtes Bild, bleibt aber wachsam: Die Männer der Arche können jeden Augenblick hinter ihm auftauchen, und sie werden nicht zögern, ihn zu töten.
Er rennt. Die Angst verleiht ihm Kraft, lockert seine Knöchel, verstärkt den Blutzufluss in seine Schenkel, verhindert, dass er stolpert, wenn er auf Hindernisse stößt, Steine, Wurzeln, Buckel. Er stürmt die Flanke des Anwesens hinunter und wird bald die Straße erreichen.
Plötzlich hört er dumpfe Schläge und Pfeifen: Jemand verfolgt ihn! In Bedrängnis drückt er sich an eine Kiefer. Zwischen zwei zu geräuschvollen Atemzügen, die er nur mit Mühe zu beruhigen vermag, nimmt er irgendwo unterhalb etwas wahr. An den Stamm gedrückt, dessen Harz seine Handflächen klebrig macht, erlangt er die Kontrolle über seinen Atem zurück und erkennt deutlicher das unregelmäßige Hämmern. Woher dringt es zu ihm? Er inspiziert die Umgebung, blickt nach rechts, nach links und wird sich bewusst, dass die Schläge von seinem Herzen kommen und das Zirpen aus seinen Bronchien; er wurde nur von sich selbst verfolgt … Wütend über seine Kopflosigkeit rennt er weiter.
Die Umfriedungsmauer. An diesem Ort sind Sensoren und Kameras deutlich sichtbar.
Er hievt sich hinauf, steigt über die Scherben und landet in einem Graben, der die Straße säumt. Lebe wohl, Arche.
In seinem Rucksack rutscht ein entscheidend wichtiger Gegenstand hin und her, der Computer, den er den Fanatikern gestohlen hat und der die Verbindung zu der libanesischen Zelle und der Hauptorganisation enthält. Wenn Marmoud, Charly und Hugo den Diebstahl feststellen werden, wird sie eine Mordswut packen. Er hat keine Sekunde zu verlieren. Noam läuft zur abschüssigen Seite der Straße und rennt sie hinunter.
Ein Cabrio taucht auf. Die Musik, die aus ihm dringt, knattert lauter als der Motor. Ein Orchester aus Geigen und Blechbläsern, das einen schmalzigen Sänger begleitet, heitert die düstere Landschaft auf und überdeckt den Klang des Fahrzeugs, das trotzdem wie ein hungriger Löwe brüllt.
Noam stellt sich mitten auf die Fahrbahn.
Das Cabrio fährt unbeirrt weiter, mit wahnsinniger Geschwindigkeit.
Er schwankt.
Es wird nicht langsamer, rast direkt auf ihn zu.
Geblendet von den Scheinwerfern, die ihn mit grellem Licht einkreisen, bleibt Noam in der Mitte der Fahrbahn stehen, überaus wachsam, bereit, im letzten Augenblick in den Graben zu springen.
Der Wagen hält weniger als einen Meter vor ihm.
Eine spöttische Stimme ertönt: »He, Mann, genial. Was für ein Mut! Das lieb ich … Woher weißt du, dass ich meine Bremsen hab überprüfen lassen? Hast du mir die Rechnung geschickt?«
Nachdem er Motor und Radio ausgeschaltet hat, schält sich ein langer Lulatsch aus dem Cabrio, völlig begeistert. Eine krause Mähne umrahmt sein knochiges Gesicht mit Hakennase. Wild gestikulierend kommt er auf Noam zu; sein Körper schwankt, durchtränkt von Alkohol.
»Was machst du hier in dieser Wüste?«
»Ich will nach Beirut.«
»Kein Problem, ich nehm dich mit!«
Er geht zum Wagen zurück, bleibt in letzter Sekunde stehen, öffnet die Wagentür und deutet auf die Rückbank. Als er sich setzt, findet Noam sich neben einem jungen Blonden wieder, der sich an den Beifahrersitz klammert.
»Das ist Sören, ein Däne«, ruft der Fahrer. »Wir haben die Nacht, um den Libanon zu besichtigen. Ich bin Joseph.«
Der Motor heult auf, die Bohnenstange löst die Bremse, und das Fahrzeug macht einen Satz nach vorn. Josephs Freude ist äußerst geräuschvoll: Um seiner Fröhlichkeit Ausdruck zu geben, braucht er Dezibel, die seiner Ventile, die seines Radios und die seiner Stimme. Unermüdlich preist er die Schönheit und die Größe des Libanon, erzählt immer neue Anekdoten, prustet los, ergeht sich in Abschweifungen, verliert sich in ihnen, bricht erneut in Gelächter aus.
Während er seine großen Reden schwingt, erzählt der Däne, blass vor Schrecken, Noam, dass er, Kollege eines Abends während einer Konzerttournee, Joseph, den Beleuchter, nicht gebeten hatte, den Reiseführer für ihn zu spielen. Mit hundertfünfzig Stundenkilometern sind sie durch die Gegend gebraust, von Baalbek nach Tyros, vorbei auch an Beit ed-Din, dem Palast, der dem Präsidenten der Republik als Sommerresidenz dient und in den der Raser, vollkommen betrunken, sogar einzudringen versucht hat. Nichts bremst Josephs Hilfsbereitschaft, der seine generöse Begeisterung immer wieder neu entfacht, indem er jede Menge Bier säuft. Mehrfach wäre der Wagen beinahe in einer Schlucht gelandet oder hätte einen Pfosten gerammt, aber der Gott der Säufer wacht über Joseph.
»Leider«, sagt der Däne seufzend, Geisel der Nettigkeit, die den Libanesen entflammt, und er hat nur den einen Wunsch, aus diesem höllischen Coupé zu springen.
Die Gefahr missachtend, schließt Noam die Augen und versucht, eine Taktik zu entwickeln. Wen kann er kontaktieren? Er kennt fast niemanden, hat keine Ahnung, wie diese Gesellschaft funktioniert, in die er nach seinem letzten Winterschlaf, der Jahrzehnte gedauert hat, geraten ist. Ein Name fällt ihm wieder ein: Hassan.
Um neun Uhr entdeckt Noam im Viertel Achrafieh in der Rue Alfred Naccache Hassan, der dem Parkplatzwächter die Schlüssel seines Rennwagens aushändigt. Sobald er in seine Redaktion gegangen ist, stürzt Noam ihm nach.
Hassan wirkt nicht überrascht. Ohne Einleitung macht er Noam Vorwürfe wegen seines wenig freundschaftlichen Verhaltens, dass er ihre Beziehung missbraucht habe, indem er sich mit seinem Cousin in der Arche eingelassen habe. Noam protestiert, entschuldigt sich für seine Gutgläubigkeit und überredet ihn, etwas trinken zu gehen. Hassan schmollt. Dieser luxusversessene Journalist wählt eine uralte, heruntergekommene Bar mit grünlichen Wänden, wo sie sich auf klebrige Stühle setzen und einen Kaffee aus angeschlagenen Tassen trinken.
Noam erzählt, was er entdeckt hat: Die Arche, die Hassans Cousin, ein aufrichtiger Survivalist, als einfachen Unterschlupf für den Fall einer Katastrophe gedacht hatte, beherbergt eine Terroristengruppe, die mit einem weltweiten Netz in Verbindung steht. Er beschreibt den waffenstrotzenden Keller, gibt die Gespräche wieder, die er am Computer belauscht hat, auch das abschließende mit dem Anführer der Verschwörung. Es ist sinnlos, Hassan die Identität des Chefs zu enthüllen, der auf dem Bildschirm erschienen war, er kann ihm nicht begegnet sein, weil die den Menschen bewilligte Zeit nicht Dereks Unsterblichkeit ist. Noam bleibt hartnäckig, geht in die Details und überzeugt Hassan, dass die Katastrophe unausweichlich ist, wenn die gegen die Atomkraftwerke, die Staudämme und die Online-Datenspeicher gerichteten Kommandos nicht aufgedeckt werden. Die Katastrophe steht unmittelbar bevor.
»Drei Tage! Ist dir das klar? Die Zelle Zacharias in den USA wird in drei Tagen zuschlagen.«
Jetzt wird Hassan sich der Gefahr bewusst, aber der Pressemann gesteht seine Ohnmacht. Sein Magazin Happy Few, das monatlich auf Hochglanzpapier erscheint, verfügt weder über das Profil noch über die Schnelligkeit, die eine derartige Enthüllung verlangt.
»Ruf die Tageszeitungen an!«, beschwört Noam ihn.
Hassan schließt aus, dass eine ernsthafte Zeitung sich traut, über eine Angelegenheit solchen Ausmaßes zu berichten ohne ein Minimum an Recherche, die mindestens drei Tage erfordern würde.
»Bring mich mit den Behörden in Kontakt!«
Trotz des Ernstes ihrer Unterhaltung bricht Hassan in Gelächter aus. Als Libanese verfügt er über zwei Gewissheiten bezüglich der Politiker seines Landes: ihre Ineffizienz und ihre Korruptheit. Im vorliegenden Fall würden sie sich damit begnügen, die Sensationsnachricht bei den Amerikanern oder den Europäern zu Geld zu machen.
»Es ist mir egal, ob sie davon profitieren«, erwidert Noam. »Hauptsache, die Nachricht verbreitet sich.«
»Zu lang! Wenn sie ein Gespür für Dringlichkeit hätten, hätten unsere Politiker nicht zugelassen, dass unsere Nation den Bach runtergeht.«
»Die Geheimdienste?«
»Hm …«
»Dann tun wir also nichts und warten auf die Apokalypse?«
»Das habe ich nicht gesagt. Komm!«
Eine Stunde später kommen Hassan und Noam zu einem Lager, das direkt neben dem Hafen liegt. Auf einer Metallkonstruktion bilden graue...
Erscheint lt. Verlag | 20.11.2024 |
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Reihe/Serie | Noams Reise |
Übersetzer | Michael Killisch-Horn |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La Porte du Ciel |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2024 • Abenteuerroman • Altbabylonische Zeit • Astronomie • Babylon • Der Morgen der Welt • eBooks • Erfindung der Schrift • erwachen der wissenschaften • Geschichte der Menschheit • Historische Romane • Madame Pylinska und as Geheimnis von Chopin • Märchenbuch • Menschheitsgeschichte • Mesopotamien • Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran • Neuerscheinung • nimrot • noams reise • Nura • Oskar und die Dame in Rosa • Philosophie • Skaverei • Turmbau von Babel • Zeitreise |
ISBN-10 | 3-641-28674-3 / 3641286743 |
ISBN-13 | 978-3-641-28674-3 / 9783641286743 |
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