Ich warte noch immer auf eine Entschuldigung (eBook)
318 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-6460-5 (ISBN)
Anna, Italienerin und in Paris lebend, arbeitet als Journalistin beim Radio und unterrichtet parallel an der Uni. In den Nachwehen von #MeToo beginnt sie, über ihre eigenen Erfahrungen mit Machtverhältnissen und Sexualität nachzudenken, und darüber, was dies mit ihrem anerzogenen Rollenverständnis als Frau zu tun haben könnte.
So brillant wie zugänglich geschrieben, hält dieser Roman keine einfachen Antworten bereit. Stattdessen stellt er viele kluge Fragen, denen es gelingt, ein inzwischen allgegenwärtiges Thema unkonventionell und aus ethischer Perspektive zu beleuchten - und so auch den Leser:innen erhellende neue Perspektiven aufzuzeigen.
<p><strong>Michela Marzano</strong> wurde 1970 in Rom geboren. Sie hat in Pisa studiert und lebt seit 1998 in Paris, wo sie an der Université Paris Descartes Moralphilosophie lehrt. Sie schreibt regelmäßig u.a. für <i><strong>LA REPUBBLICA</strong></i> und <i><strong>LA STAMPA</strong></i> und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Mit <i><strong>FALLS ICH DA WAR, HABE ICH NICHTS GESEHEN</strong></i> war sie für den <i><strong>PREMIO STREGA</strong></i> nominiert und erhielt den renommierten <i><strong>PREMIO MONDELLO</strong></i>.</p>
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Bin ich geflohen? Vielleicht. Zumindest erkläre ich mir heute so meine Entscheidung, nach Paris zu ziehen, wo meine Großmutter herstammte, obwohl ich mir geschworen hatte, nach den desaströsen Praktikumsmonaten am Method Acting Center nie mehr dorthin zurückzugehen: Ich bin vor mir selbst geflohen. Wobei. Zumindest wollte ich ein paar tausend Kilometer zwischen mich und diese Idiotin bringen, die alles glaubte, was Männer ihr sagten, die sie ins Bett kriegen wollten. Aber dann habe ich Anna doch mitgebracht, tief im Gepäck verstaut. Auch in einem anderen Land kann man sich selbst nicht entkommen.
Es war alles nicht ganz so gelaufen, wie ich als Kind gehofft hatte, wie meine Mutter es sich vorgestellt hatte, die so stolz auf ihre Klassenbeste gewesen war, auch wenn die sich nach der Schule gleich für Geisteswissenschaften eingeschrieben hatte, ach Gott, was macht man damit überhaupt, kannst du nicht Jura studieren wie dein Vater und später bei ihm in der Kanzlei einsteigen? Oder Ärztin werden, Medizin fandst du doch mal so toll, Jura oder Medizin, da stehst du immer gut da, aber Geisteswissenschaften? Und hinterher, wie soll’s dann weitergehen? Wenn du schreiben willst, von mir aus, aber das kannst du ja auch nebenbei machen, wenn du eine richtige Arbeit hast, vom Schreiben kann heutzutage kein Mensch leben – wie, Journalistin? Das ist doch keine richtige Arbeit! Wart’s ab, du endest noch wie ich, nach der Hochzeit hab ich alles aufgegeben, und jetzt? Du weißt, was dein Vater immer über mich sagt, oder? Obwohl ich ja schon gern mal wüsste, was er gemacht hätte, wenn ich mich nicht um den Haushalt, euch Kinder, seine Geschäftsessen und die Ferien gekümmert hätte.
Es war alles nicht so gelaufen, wie es hätte laufen können. Aber nicht aus den von meiner Mutter genannten Gründen. Wobei. Dass vom Schreiben keiner leben kann, stimmte wahrscheinlich, aber das war nicht das Problem, das Problem war ich, die ich zunehmend den Glauben an mich selbst verloren, tausend Dinge angefangen und dann wieder geschmissen hatte, Malen, Theater, sogar die Filmhochschule, ich, die sich auf diverse mehr oder weniger unmögliche Affären mit miesem Anfang und noch mieserem Ende eingelassen hatte, falsche Masken, falsche Abenteuer, aber wirklich falsch war letzten Endes vielleicht doch nur ich selbst. Wäre ich doch nur wie meine Mutter gewesen, langweilig, okay, besonders witzig war sie nie, aber eben immer aufgeräumt, immer vernünftig, und außerdem, entschuldige mal, Papa, wenn sie wirklich so abgetakelt ist, wie du immer sagst, wieso bleibst du dann bei ihr? Ist doch klar, dass du sie nicht verlässt, natürlich hältst du an ihr fest! Mein Vater hatte sich ganz bewusst eine wie meine Mutter ausgesucht, das exakte Gegenteil seiner eigenen Mutter, die ihren Mann mit ihren Launen in den Wahnsinn getrieben hatte, eitel und chronisch miesepetrig wie sie war, ich will dies, ich will das, eine Pfeife bist du, ein Versager.
Als ich nach Frankreich kam, war ich frisch verheiratet.
Nein, geliebt habe ich ihn nicht. Ich weiß schon, dass Sie das gleich fragen wollten, aber die Antwort ist simpel: Ich habe ihn nicht geliebt. Genau genommen hat er mir nicht mal gefallen. Meine beste Freundin Carlotta sprach deshalb kein Wort mehr mit mir. Das hält doch eh nicht!, hatte sie gesagt und einfach aufgelegt, als ich ihr am Telefon erzählte, dass ich heiraten würde, und nein, ich würde nicht noch mal darüber nachdenken, würde nicht mal mehr den Abschluss an der Filmhochschule machen, obwohl ich ihr versprochen hatte, mir das gut zu überlegen. Auch meine Mutter dachte, es würde nicht halten, behielt das damals allerdings für sich, denn mich zur Vernunft bringen zu wollen schien ihr ohnehin aussichtslos, das Kind ist doch genauso störrisch wie sein Vater!
Mein Mann war völlig anders als die Männer, die ich zuvor geliebt hatte, obwohl auch er verschlossen war, verschlagen sogar, aber immerhin war er da, war zur Stelle. Als ich am Knie operiert wurde, wich er nicht von meinem Bett, ganz im Gegensatz zu Massimo, der sich, als ich im Jahr zuvor im Krankenhaus gewesen war, nicht mal die Mühe gemacht hatte, mich zu besuchen, die Arbeit, meinte er, und dann ist er mit seiner Ex verreist, na ja, du konntest ja wohl schlecht, mit deinen Krücken, oder? Aber zurück zu meinem Mann, der mir die ganze Nacht die Hand hielt und nach nur einem Monat einen Antrag machte. Er lehrte an der Universität, stellen Sie sich vor, ein Italiener als Professor in Paris! Im Gegensatz zu mir, die ich dank meiner Großmutter mit Französisch aufgewachsen bin, war diese Sprache für ihn keine zweite Haut.
Er muss wirklich was Besonderes sein, das hatte ich bereits gedacht, als wir uns kennenlernten. Ich war vierundzwanzig, mein Leben war schon damals ein einziges Tohuwabohu, und mir war ziemlich gleichgültig, was Carlotta von seinem trüben Blick und seinen ewig verschwitzten Händen hielt: Ist dir schon mal aufgefallen, dass er einem nie in die Augen schaut? Hast du bemerkt, wie er beim Sprechen pausenlos an seinem Krawattenknoten rumfummelt?
Als ich nach Paris kam, kannte ich dort keine Menschenseele. Meine Großmutter war gleich nach der Schule von dort weg. Nachdem sie meinen Großvater kennengelernt hatte, war sie nach Rom gezogen und fuhr nur noch selten nach Frankreich; wenn meine Mutter sie mal mitschleifte, zog sie immer eine Schnute. Sie war die einzige Tochter zweier Einzelkinder, liebte Croissants und Camembert, ihr Lieblingsfilm war Carnés Die Kinder des Olymp, und kein Schriftsteller der Welt konnte mit Proust mithalten, aber all das zählte nichts, sagte sie immer, Paris war dreckig, die Pariser unerträglich, niemand wusste sich mehr zu benehmen, und überhaupt, mein Kind, in Italien lebt es sich einfach viel besser. Diese Abneigung gegen Frankreich habe ich nie verstanden: Wenn ich sie danach fragen wollte, wechselte sie jedes Mal schnell das Thema, nicht einmal meine Mutter wusste, was es damit auf sich hatte, und dann ist sie gestorben, meine Großmutter, und die Sache war erledigt.
Ich kannte keine Menschenseele in Paris, und ich fühlte mich verloren. Nicht mal John lebte noch dort, ein Typ, mit dem ich mich angefreundet hatte, als ich für das Praktikum hergekommen war: Er war zurück in England und hatte einen Glanzstart in seine Bühnenkarriere hingelegt, erst mit kleineren Truppen, dann am National Theatre, als Ensemblemitglied der Royal Shakespeare Company.
Auf die erste Ohrfeige von meinem Mann habe ich gar nicht reagiert.
Sie kam völlig unerwartet, mitten auf der Straße, was hätte ich da sagen oder tun können? Was sollten die Leute denken? Zumal ich es ja sogar einsah, als er mir erklärte, die Weise, wie ich diesen Mann angelächelt hatte, sei peinlich, unverschämt gewesen: Ich musste aufpassen, wie ich mich vor anderen Männern benahm, das war eine Frage des Respekts ihm gegenüber. Er wollte, dass ich ihm Hausmannskost kochte, am Sonntag mit ihm in die Kirche ging und ihn nicht wegen eines getrennten Kontos nervte, schließlich liebte er mich, wir waren eine Familie, was brauchte ich da ein eigenes Konto?
Als er mich an die Wand gepfeffert hat, habe ich die Zähne zusammengebissen. Er war betrunken, ich hatte Angst. Ich lag am Boden, hatte mir wehgetan, wollte ihm aber nicht die Genugtuung geben, mich weinen zu sehen. Ich schickte eine Mail an Carlotta, nur drei Worte, in der Hoffnung, sie würde sich melden: Du hattest recht. Nach dem Senden löschte ich die Nachricht umgehend – hätte mein Mann sie gelesen, wäre er gleich wieder durchgedreht. Und wirklich, als Carlotta versuchte, mich anzurufen, hat er sofort aufgelegt, unter keinen Umständen sollte ich mit der reden, was bildete ich mir eigentlich ein?
Wochenlang suchte ich nach halbwegs plausiblen Ausreden, allein aus dem Haus zu gehen, doch er bestand stets darauf, mich zu begleiten, und ich hatte in der achtundzwanzig Quadratmeter großen Zweizimmerwohnung mit per Vorhang abgetrenntem Bad und dem Bett direkt neben dem Wandschrank das Gefühl, ich würde ersticken.
Ich war noch kein halbes Jahr verheiratet und träumte nachts schon von Massimo. Ich träumte, er käme mich holen, würde sagen, ich sei die Frau seines Lebens, immer dasselbe Drehbuch – bis mein Mann mich aufweckte, um mit mir zu schlafen, und ich mir Nase und Augen zuhielt: Eheliche Pflichten, was für ein Krampf! Ich erstickte.
Ein paar Monate später, als er nachmittags wegmusste, bin ich durch die Tür gegangen und nie mehr zurückgekehrt. Carlotta wollte, dass ich wieder nach Rom käme, wohnen könne ich erst mal bei ihr, meine Familie müsse gar nichts erfahren.
Aber ich wollte nicht zurück nach Italien, sondern allein auf die Beine kommen. Ich fand eine bezahlbare Einzimmerwohnung im Banlieue Saint-Denis und ein Praktikum in der Maison de la Radio. Doch die alte Anna war in voller Pracht zurück, und ich benahm mich wieder ganz genau wie damals, als ich alles geglaubt hatte, was mir Männer erzählten, die mich ins Bett kriegen wollten, wie schaffen die anderen das bloß, dass sie immer respektiert werden?
Trotzdem war ich, als ich durch ein paar Zeitschriften für Teenager blätterte, zutiefst empört über die Ergebniskategorien der Psychotests: super-extra-salope, wörtlich »Megaschlampe«, und in der Charakterisierung ein »Herzlichen Glückwunsch«, denn warum sollte man verliebt sein, um mit einem Kerl ins Bett zu gehen, Sex ist Selbstzweck, und wer das nicht weiß, hat keine Ahnung von Freiheit; ringarde, alte Jungfer, wie, willst du keinen Spaß haben? Glaubst du wirklich, Unschuld sei angesagt?
Und ich, was bin ich? Das fragte ich meine Therapeutin.
Seit meiner Trennung...
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2024 |
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Übersetzer | Jan Schönherr |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sto ancora aspettando che qualcuno mi chieda scusa |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Argumente • Diskurs • Einvernehmen • Einvernehmlichkeit • Ethik • Feminismus • Frankreich • Frauen • Frauenrechte • Gegenwartsliteratur • Geschlechterrollen • Gleichberechtigung • Graubereiche • Italien • Italienerin • Journalistin • Machtgefälle • Machtmissbrauch • Me too • Moral • Paris • Philosophie • Sexueller Missbrauch • Übergriff • Unidozentin • Vergewaltigung |
ISBN-10 | 3-7517-6460-7 / 3751764607 |
ISBN-13 | 978-3-7517-6460-5 / 9783751764605 |
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