Die große Sehnsucht (eBook)
319 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-6127-7 (ISBN)
Eine Hommage auf die Freundschaft und die 90er-Jahre
Eine Kleinstadt am Bodensee, 1996. Im kältesten Winter seit Langem stehen drei Freunde aus dem Abiturjahrgang am Bootssteg und schauen auf den See. Rabe möchte Film studieren und ist mit Herz und Kopf mehr bei seinen Drehbuchentwürfen als bei der Schule. Thomas, genannt Fete, lässt keine Party aus und hat einen Ruf als Herzensbrecher. Auch Michi weiß genau, was er will: sich am Mathelehrer rächen, der ihn vor der Klasse bloßgestellt hat. So viele Träume, so viele Sehnsüchte - und Tage, die keiner der Abiturienten so schnell vergessen wird ...
Ein heiter-melancholischer Roman über eine unvergessliche Zeit, die ersten Schritte ins Leben und die große Sehnsucht, die jedem Lebensalter aufs Neue innewohnt
<p><strong>René Sydow</strong>, geb. 1980, arbeitet seit vielen Jahren als Schauspieler und Regisseur, u. a. für das Staatstheater Stuttgart, das Theater Dortmund, das Theater Hagen und die Magdeburger Zwickmühle. Als Autor und Regisseur drehte er zahlreiche international prämierte Kurz- und drei Langspielfilme. Seine preisgekrönten Kabarettprogramme brachten ihm den Ruf ein, einer »der Großen des politischen Kabaretts« zu sein.</p>
1
Hinter Nina waren alle her. Alle, die auf dieselbe Schule gingen wie sie, und alle, die in derselben Kleinstadt lebten. Alle, die zwischen sechzehn und zwanzig waren, begehrten sie. Alle, die jünger waren, schauten zu ihrer Schönheit auf; alle, die älter waren, sagten ihr eine erfolgreiche Zukunft voraus. Wer so schön sei, würde seinen Weg in der Welt machen, hieß es.
Vor allem ihre männlichen Klassenkameraden waren hinter ihr her. Obwohl »hinter ihr her sein« der falsche Ausdruck war, erweckte er doch den Anschein, als hätte einer ihrer Verehrer sie einholen können. In Wahrheit suchten sie vergeblich ihre Nähe – nicht wie Liebhaber die Nähe zum Objekt ihrer Faszination suchen, sondern wie Monde, die zwar einen großen Abstand zu ihren Planeten halten, sich aber dennoch immer um ihn drehen.
Einer dieser Monde war Raphael, den alle Rabe nannten, weil er seit Beginn seiner Pubertät nur noch schwarze Kleidung trug: schwarze Jeans und schwarze T-Shirts, schwarze Pullover und schwarze Schuhe. Selbst seine Winterjacke, die in diesem November des Jahres 1996, dem kältesten November seit Jahrzehnten, sogar in Innenräumen nötig zu sein schien, war schwarz. Dass Rabes beste Freunde – Thomas, den alle Fete nannten, und Michi, der einfach Michi hieß – nicht müde wurden, immer wieder darauf hinzuweisen, wie gut man die feine weiße Punktierung auf jener Jacke erkennen konnte, was sie für Rabes Verhältnisse äußerst elegant, aber eben auch zu einer nicht vollkommen schwarzen Jacke machte, störte ihn nicht. Rabe reagierte mittlerweile nicht einmal mehr auf diesen Hinweis.
Seine Distanz zu Nina – planetarisch gesprochen – erschien Rabe mehr als perfekt. Seit Jahren saß er während des Unterrichts neben Irina in der letzten Reihe. Er wechselte kein Wort mit ihr, was sie auch nicht von ihm erwartete, war sie ohnehin mehr damit beschäftigt, strebsam zu sein und sich nicht von der Arbeit ablenken zu lassen. Sie wollte das Gymnasium mit 1,0 abschließen und Medizin studieren. Keiner zweifelte am Gelingen dieses Vorhabens.
Im Verhältnis zu Nina, die zwei Reihen weiter vorn saß, war Rabes Position weit genug versetzt, um ihn in ihrem toten Winkel verschwinden zu lassen und ihm gleichzeitig die Möglichkeit zu geben, ihr Profil jederzeit fast zur Gänze beobachten zu können und, wenn sie sich vorbeugte, sogar dann und wann die Wölbung ihrer Brüste unter ihrem Pullover zu erahnen. So saß Rabe oft Stunde um Stunde, unabhängig von Lehrer oder Fach, und verlor sich in der zentimetergenauen Vermessung von Ninas langem blonden Haar, ihren nach oben gebogenen Wimpern und dem winzigen Leberfleck unterhalb ihrer Lippen, den Rabe von seiner Position aus bewundern konnte, wann immer Nina wieder einmal vor Langeweile einen Schmollmund zog oder die Backen aufblies.
»Raphael, ich habe dich etwas gefragt. Wie wäre es mit einer Antwort?«, unterbrach Lehrer Kurtz einen Gedankengang über die Fabelhaftigkeit zufälliger ästhetischer Meisterwerke wie Leberflecken am richtigen Ort.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, schien Rabe die richtige Antwort zu sein, bei Kurtz sowieso.
»Das ist schön, aber ich hätte auch gern ein Ergebnis für diese Rechnung!«
»Ähm … zehn.«
»Da fehlen mindestens zwei Variablen.«
»Oh ja, klar. ’tschuldigung. Ich hab wohl geträumt.«
»Was sonst nie vorkommt, was?«
»Doch, aber ich werde irgendwie ständig gestört.«
»Ich bitte um Verzeihung. Wenn es dir lieber ist, kannst du vor der Tür weiterträumen.«
»Schon gut, ich passe jetzt auf. Entschuldigung noch mal«, log Rabe und stahl sich, mit vorgetäuschtem Blick auf die geometrischen Formeln an der Tafel, sofort wieder gedanklich aus dem Unterricht.
In seinen Tagträumen spielte fast immer Nina die Hauptrolle. Und da Rabe fest vorhatte, nach der Schule Film zu studieren und in Hollywood als Drehbuchautor unsterblich zu werden, waren seine Träume, selbst die in den 45-minütigen Unterrichtseinheiten, mehr als nur die üblichen Fantasien von Küssen und Fummeln, von Nacktheit oder wenigstens Händchenhalten. Rabe rekapitulierte zumeist zunächst den Filmklassiker, den er am Abend zuvor gesehen hatte, und setzte Nina dann an die Stelle der Schauspielerin, deren Rolle er am interessantesten gefunden hatte. Und da er mindestens einen Film pro Tag sah, ging ihm auch der Stoff für seine Filme im Kopf nicht aus.
Selbstverständlich veränderte, verbesserte er Szenen und Handlungen so, dass sie auf ihn und Nina passten. So wurde sie zwar in der Kopfkino-Rekapitulation eines Film noir zur obligatorischen Femme fatale, aber sowohl sie als auch Rabe erlebten das Ende des Films lebend und fielen sich zum Schluss küssend in die Arme. In letzter Zeit beschäftigte sich Rabe vor allem mit den Filmen der legendären Schwarzen Serie, die er nachts in den dritten Programmen auf VHS aufzeichnete, am nächsten Tag ansah und anschließend seinem Archiv hinzufügte. Inspiration für die neu entbrannte Leidenschaft für Kriminalfilme der Dreißiger- und Vierzigerjahre war für Rabe – ansonsten eher berühmt-berüchtigt für sein enzyklopädisches Wissen über den Horrorregisseur John Carpenter – der dunkelgrüne Cashmere-Mantel, den Nina diesen Winter neu angeschafft hatte und der ihr die Eleganz verlieh, die eine echte Femme fatale benötigte. Neben ihr wirkten alle anderen Schüler der Jahrgangsstufe dreizehn in ihren noch aus den Vorjahren herübergeretteten oder aus allein praktischen Gründen, nämlich Wärme und geringer Preis, angeschafften Winterjacken in Gelb, Blau oder eben Schwarz wie Kinder.
Dass er nach Hollywood gehen und dort als Drehbuchautor arbeiten würde, war für Rabe übrigens keine Teenagerspinnerei, die er von seinem dreizehnten Lebensjahr an bis jetzt, kurz vor dem Abitur, mitgeschleppt hatte, sondern ein ernsthaftes Unterfangen. Er hatte hierfür sogar schon eine Art Lebensplan erdacht: Film in Deutschland studieren, zwei oder drei bemerkenswerte Streifen drehen, und das wegen der Widrigkeiten der stilistisch konservativen deutschen Filmwirtschaft mit einem geringen Budget. Hierüber, weil Amerikaner sparsame europäische Regisseure liebten, und über die Teilnahme an internationalen Festivals einen Handschlag mit einem Produzenten aus Hollywood erreichen, um dann endlich die Filme zu machen, die ihm vorschwebten, für die aber in Deutschland niemand Sinn oder das Budget hatte. Sollte er schließlich im Bereich des Horrorfilms landen, hätte er die Möglichkeit, unter dem Pseudonym Ralph Raven aufzutreten, sodass seine Eltern nicht gleich über seine Werke erschraken. (Nicht berücksichtigt war dabei, wie wenig Rabes Eltern Filmemacher unter Pseudonym mochten, was dran lag, dass Rabes Vater einen älteren Bruder hatte, den Rabe nur unter dem Namen »Johnny« kannte und der seit den Achtzigerjahren sein Geld mit dem Drehen schmuddeliger Sexfilme für den Videomarkt verdiente. Für Rabes Eltern glücklicherweise weit weg. Irgendwo in der Nähe von Wuppertal.)
Rabes schrittweiser Plan hatte inzwischen zumindest vage Gestalt angenommen. Sein Film befand sich quasi im Vorspann, hatte Rabe doch vergangene Woche schon einmal die Bewerbungsunterlagen für die Münchner Filmhochschule beantragt. Von hier aus erschien ihm die restliche Wegstrecke zu seinem ersten Hollywoodfilm mit Nina in der Hauptrolle überschaubar.
»Gut, wie wäre es denn mit dir, Thomas? So schwer kann das doch nicht sein. Selbst für dich nicht.«
Kurtz’ Stimme prallte an dem angesprochenen Schüler ab wie der Basketball vom Gesicht des Fünftklässlers, der am Tag zuvor wegen der unglücklichen Kollision von Gummi und Kopf mit Notarzt vom Schulgelände gefahren worden war.
Thomas wünschte sich in diesem Moment, in dem der Mathelehrer ihn wieder einmal vorführen wollte, ebenfalls einen Basketball herbei. In Ermangelung desselben antwortete er: »Ich glaube, ich habe das noch nicht ganz verstanden. Vielleicht könnten Sie es mir noch mal erklären?«
Anders als sein Freund Rabe saß Thomas im Klassenraum vor Nina – ein Platz, den sich kaum einer der Jungs freiwillig ausgesucht hätte. Thomas allerdings hatte es nicht nötig, den Planeten Nina als Trabant zu umkreisen; er wurde selbst von Mädchen umschwärmt, als habe er ein eigenes Sonnensystem um sich herum. Thomas, den alle Fete nannten, weil er auf jeder Party aufzutauchen pflegte, selbst auf jenen, zu denen er nicht eingeladen war, galt als begabtester Unterhalter des Jahrgangs. Ob mit oder ohne Alkohol – er zog jede Konversation auf seine Seite und versprühte Charme und Charisma, wo immer er sich blicken ließ. Auch wenn er schwieg, verfielen die Mädchen ihm umgehend, denn er war nicht nur groß und sportlich, sondern hatte auch blonde Locken über seinem strahlenden, kantigen Gesicht, durch die seine Tanzpartnerinnen gern mit den Fingern fuhren, wenn er sie beim Stehblues zu Bryan Adams oder Bon Jovi fest in den langen Armen hielt.
Er hätte viele Neider und Feinde haben können, der hübsche Fete mit den vielen Eroberungen, doch er hatte auch den Ruf, verlässlich und hilfsbereit zu sein, ein guter Kumpel, der bei Radtouren, Fußballspielen oder Gesprächsrunden gleichermaßen geschätzt wurde. Die meisten glaubten ihm, dass er lieber mit seinen Freunden abhängen wollte, als schon wieder in eine Liebschaft zu stolpern. Gelegentlich war er genervt davon, beim Zusammensein mit Mädchen auf romantische Untertöne achtgeben zu müssen. Ironie oder Sarkasmus passten wenig zu zarten Verführungstönen, und Fete liebte es, böse Kommentare einfließen zu lassen, eine gewitzte Betrachtung über...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abiturienten • bewegend • Erste Liebe • Freundschaft • Jugend • literarische Unterhaltung • Midlife • Nachhall • Neunzigerjahre • Sehnsucht • Zukukunftspläne |
ISBN-10 | 3-7517-6127-6 / 3751761276 |
ISBN-13 | 978-3-7517-6127-7 / 9783751761277 |
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