Es war einmal ein Palästina -  Tom Segev

Es war einmal ein Palästina (eBook)

Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
672 Seiten
Pantheon (Verlag)
978-3-641-32161-1 (ISBN)
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Die historischen Wurzeln des Nahostkonflikts - ein augenöffnendes Buch, brillant recherchiert und großartig erzählt
Es ist die Vorgeschichte eines Konflikts, der die Welt bis heute in Atem hält: Tom Segev widmet sich in seinem meisterhaften Buch dem turbulenten Zeitraum vor der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948. Lebendig, materialreich und mit analytisch spitzer Feder schildert Segev, wie in den drei Jahrzehnten britischer Herrschaft in Palästina die Wurzeln des israelisch-palästinensischen Konflikts gelegt wurden. Dabei stellt er manche Annahme der herkömmlichen Geschichtsschreibung auf den Kopf.

Tom Segev ist Historiker und einer der bekanntesten Journalisten Israels, dessen Bücher alle weltweit große Beachtung finden. Seine Eltern flohen 1935 aus Deutschland nach Palästina. Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren und gehört seit über 50 Jahren zu den klügsten Beobachtern der deutsch-israelischen Geschichte. In Deutschland wurde er durch sein Buch »Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung« (1995) bekannt. Für »Es war einmal ein Palästina« (2005) wurde er mit dem National Jewish Book Award ausgezeichnet. Zuletzt erschienen von ihm bei Siedler seine viel gerühmte Geschichte des Sechstagekrieges »1967. Israels zweite Geburt« (2007), »Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates« (2008), die Biografie »David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis« (2018) sowie seine Lebenserinnerungen »Jerusalem Ecke Berlin« (2022). Segev lebt in Jerusalem.

Einleitung: Bis wir uns wiedersehen


Am Südhang des Berges Zion, gleich neben den Ruinen des biblischen Jerusalem, liegt ein kleiner, protestantischer Friedhof. Der Weg dahin führt vorbei an Pinien, Zypressen, Oliven- und Zitronenbäumen und ist gesäumt mit rosa- und weißblühenden Oleanderbüschen. Schließlich steht man vor einem von Weinreben umrankten, schwarzen Eisentor. Etwa tausend Gräber liegen verstreut auf dem terrassenförmig angelegten Hügel, zum Teil versteckt unter roten Anemonen. Nicht weit entfernt, auf der Kuppe des Berges, befinden sich eine Stätte, die von Juden als das Grab König Davids verehrt wird, sowie ein Saal, von dem Katholiken glauben, dass in ihm das letzte Abendmahl stattfand; in einer nahe gelegenen unterirdischen Kammer soll die Jesusmutter Maria ewige Ruhe gefunden haben. Auch die Muslime verehren mehrere heilige Grabstätten auf dem Berg.

Bischof Samuel Gobat weihte den Friedhof in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts für eine kleine Gemeinde von Männern und Frauen, die sich Jerusalem tief verbunden fühlten. Wenige von ihnen waren hier geboren worden; die überwiegende Mehrheit war fremder Herkunft – zugereist von fast überall auf der Welt von Amerika bis Neuseeland. Die Grabsteine tragen englische, deutsche, hebräische, arabische und altgriechische Inschriften; eine Inschrift ist polnisch.1

Als die ersten Toten hier bestattet wurden, war Palästina eine entlegene Region des Osmanischen Reiches – ohne eigene Zentralregierung und mit nur wenigen verbindlichen Normen. Die Uhren tickten langsam – das Tempo wurde bestimmt vom Schreiten des Kamels und den Zügeln der Tradition. Dann begannen gegen Ende des Jahrhunderts vermehrt Fremde in das Land zu strömen, und es schien aus seiner levantinischen Betäubung zu erwachen. Muslime, Juden und Christen gleichermaßen fühlten sich vom Land Israel emotional angezogen. Manche blieben nur kurze Zeit, andere ließen sich für immer nieder. In der von ihnen angestoßenen multikulturellen Revolution, die fast hundert Jahre andauerte, gingen Prophetentum und Wunschdenken, Unternehmertum, Pioniergeist und Abenteurertum eine magische Verbindung ein. Die Grenze zwischen Hirngespinst und Realität war oft verschwommen. Es gab Scharlatane und Exzentriker aller Nationalitäten. Im Großen und Ganzen zeichnete sich diese Periode jedoch durch Unternehmungsgeist und Wagemut aus – den Mut, etwas zum ersten Mal zu tun. Eine Zeit lang gaben sich die Neuankömmlinge dem berauschenden Wahn hin, alles sei möglich.

Ein Amerikaner führte 1908 das erste Automobil ein. Kreuz und quer fuhr er damit durchs Land und sorgte überall für Aufsehen. Ein holländischer Journalist träumte davon, den Einwohnern Galiläas Esperanto beizubringen. Ein jüdischer Pädagoge aus Rumänien eröffnete einen Kindergarten in der kleinen zionistischen Siedlung Rischon le-Zion und war Mitherausgeber der ersten hebräischen Kinderzeitung. Simcha Whitman, der auch den ersten Kiosk Tel Avivs betrieb, begann mit der Herstellung von Speiseeis. Ein Mann namens Abba Cohen gründete eine Feuerwehr, und ein aus Berlin gebürtiger Unternehmer stellte die ersten Bienenstöcke auf. Ein ukrainischer Dirigent rief eine lokale Operngesellschaft ins Leben, und ein Antwerpener Geschäftsmann eröffnete eine Diamantschleiferei. Ein russischer Agronom, der in Zürich studiert hatte, pflanzte Eukalyptusbäume an, und ein Industrieller aus Wilna baute Barzelit, die erste Nagelfabrik, auf. Der russische Arzt Dr. Arieh Leo Boehm schuf das Pasteur-Institut, und ein Mann namens Smiatitzki aus Polen übersetzte Alice in Wonderland ins Hebräische.2 George Antonius, ein bekannter palästinensischer Araber, träumte von einer arabischen Universität und bemühte sich bis dahin um finanzielle Unterstützung für die Veröffentlichung eines arabischen technischen Wörterbuchs.3 Antonius stammte aus dem ägyptischen Alexandrien. Andere der in Palästina lebenden Araber kamen aus der Türkei, Marokko, Persien, Afghanistan sowie aus einem halben Dutzend anderer Länder. Es gab auch ehemalige schwarze Sklaven, die von ihren Besitzern freigelassen worden waren oder fliehen konnten.4

Zehntausende von Menschen, überwiegend Juden, wanderten aus Mittel- und Osteuropa ein, die meisten von ihnen unfreiwillig, als Flüchtlinge vor Verfolgung oder Armut. Andere kamen als mutige Rebellen, die unter dem Einfluss der zionistischen Ideologie nach einer neuen Identität suchten. Der weißbärtige Sozialist Aharon David Gordon, eine Art lokaler Tolstoi, predigte Erlösung durch körperliche Arbeit und Rückkehr zur Natur in Galiläa. Er stammte aus der Ukraine und war einer der Gründungsväter des Arbeiterzionismus, jener politischen Bewegung, die den Juden zur Unabhängigkeit verhalf. Eine fanatische junge Frau ritt in arabischen Gewändern durch die galiläischen Berge. Ihr Name war Manja Wilbuschewitz. Sie stammte aus Russland, wo sie sich unter großen inneren Qualen der kommunistischen Revolution verschrieben hatte. In Palästina gehörte sie zu den Mitbegründern einer ländlichen Kommune, einer frühen Form des Kibbuz, sowie zu den ersten Mitgliedern des ha-Schomer (»Der Wächter«), Vorläufer der israelischen Verteidigungsstreitkräfte.5 Manche jüdischen Einwanderer fingen in den gerade entstehenden zionistischen Dörfern ein neues Leben an; andere entschlossen sich, an der Mittelmeerküste eine neue Stadt zu gründen: Tel Aviv.

Die Christen wiederum brachten die imperialen Bestrebungen ihrer Heimatländer mit und ließen sich weitgehend in Jerusalem nieder. »Und so entwickelte sich Palästina und insbesondere Jerusalem zu einem wahren Turm von Babel«, wie der Kopf der zionistischen Bewegung, Chaim Weizmann, fand.6 Tatsächlich bemühten sich alle Christen, die Stadt nach ihren jeweiligen nationalen Vorbildern zu gestalten. Die russische Kirche sah mit ihren Zwiebeltürmen dem Kreml in Moskau ähnlich; die Italiener bauten ein Krankenhaus und gleich daneben einen Turm wie den des Palazzo Vecchio in Florenz. Auf dem Berg Zion errichteten die Deutschen eine Kirche, die dem Aachener Dom, der Krönungskirche Karls des Großen, nachempfunden war, während die deutsche Kolonie im Südteil der Stadt mit ihren schindelgedeckten, kleinen Steinhäusern einem Schwarzwalddorf ähnelte. Die Mitglieder dieser kleinen Gemeinde gehörten zum größten Teil der Templer-Sekte an. »Sonderbare Menschen sind in Palästina sicher«, schrieb Estelle Blyth, die Tochter jenes Mannes, der die anglikanische Kathedrale in Jerusalem errichten ließ, die wiederum vom New College in Oxford inspiriert war.7 Nicht weit davon ließ sich ein Anwalt aus Chicago nieder. Mit den Anhängern seiner Sekte gründete er die amerikanische Kolonie und träumte davon, Liebe, Mitgefühl und Frieden in der Welt zu verbreiten.8

Die Gründungsväter der amerikanischen Kolonie sind ebenfalls auf Bischof Gobats kleinem Friedhof beerdigt. Ganz in ihrer Nähe liegt der Sohn jenes deutschen Bankiers, der die erste Eisenbahnverbindung zwischen Jaffa und Jerusalem finanzierte. Daneben befindet sich die letzte Ruhestätte eines polnischen Arztes. Er eröffnete in der Straße der Propheten das erste Kinderkrankenhaus. In genau derselben Straße ließ Conrad Schick, der neben dem Arzt begraben ist, die Gebäude errichten, die seinen Ruf als bedeutendster Architekt des modernen Jerusalem begründeten. In seiner Schweizer Heimat hatte Schick Kuckucksuhren hergestellt. Etwas weiter oben liegt William Matthew Flinders Petrie begraben, ein Engländer, der von manchen als der Vater der modernen Archäologie angesehen wird. Er arbeitete lange Zeit in Ägypten, führte aber auch Ausgrabungen in Palästina durch. Später ließ er sich in Jerusalem nieder, wo er im Alter von fast neunzig Jahren starb. Vor der Beerdigung ließ die Witwe den Kopf des Verstorbenen abtrennen, in Formaldehyd konservieren und in einer Holzkiste nach London schicken, wo man durch eine pathologische Untersuchung dem Genie des Verstorbenen auf die Spur kommen wollte.*

Auf dem protestantischen Friedhof sind außerdem die vielen Fremden bestattet, die für Palästina ihr Leben ließen, darunter Soldaten, die in den von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägten Jahrzehnten der Mandatsperiode in Palästina Dienst taten. Feinde und Waffengefährten sind Seite an Seite begraben. Adolf Flohl war im Ersten Weltkrieg als Pilot zur Verteidigung der mit Deutschland verbündeten osmanischen Türken nach Palästina gekommen. Er wurde abgeschossen und starb im November 1917 – nicht einmal vier Wochen bevor die Briten in Jerusalem einmarschierten und die Herrschaft in Palästina übernahmen. Nicht weit von Flohl entfernt liegt Sergeant N. E. T. Knight, ein englischer Polizist, der im April 1948 ums Leben kam – nicht einmal vier Wochen bevor sich die Briten aus Palästina zurückzogen. Zwischen diesen beiden Schicksalen liegt eine Ära der Hoffnung und des Terrors.

Der Erste Weltkrieg, der Europas Eintritt ins zwanzigste Jahrhundert markierte, veränderte auch den Status Palästinas. Mehr als siebenhundert Jahre lang hatte das Land unter muslimischer Herrschaft gestanden. Durch den britischen Vorstoß im Nahen Osten ging es schließlich 1917 in christliche Hände über. Tatsächlich verglichen sich viele der britischen Soldaten mit den Kreuzrittern. Doch schon als die Briten in Palästina die Macht übernahmen, begann sich das Schicksal für das Empire zu wenden. Als Großbritannien dreißig Jahre später das Land verließ, hatte es gerade auf sein Kronjuwel, Indien, verzichten müssen. Palästina war also kaum mehr als der Epilog einer Geschichte, die bereits ihrem Ende entgegenging. In der historischen Entwicklung des Empire war Palästina nur eine ruhmlose...

Erscheint lt. Verlag 3.4.2024
Übersetzer Doris Gerstner
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte
ISBN-10 3-641-32161-1 / 3641321611
ISBN-13 978-3-641-32161-1 / 9783641321611
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