Die Kommunistin -  Dr. phil. Klaus-Rüdiger Mai

Die Kommunistin (eBook)

Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
288 Seiten
Europa Verlag GmbH & Co. KG
978-3-95890-619-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Ist Deutschland im freien Fall? Die Mehrheit der Deutschen lehnt die Politik der Ampel ab. Viele suchen vergeblich nach Politikern und nach einer Partei, die ihre Interessen in fundamentaler Opposition vertritt. Sie könnte diese Leerstelle schließen: Sahra Wagenknecht. Mit ihrer konsequenten Anti-Establishment-Rhetorik, ihrem sozialen Engagement, ihrer klaren Haltung gilt sie vielen als Jeanne d´Arc der Erniedrigten, der Beleidigten, der Enttäuschten, derer, die sich nicht zu Unrecht Sorgen um ihre Zukunft und um die Zukunft ihrer Kinder machen. Ihre Anhänger finden sich auf linker wie auf rechter, auf sozialistischer und auf konservativer Seite des politischen Spektrums. Doch was verbirgt sich hinter ihrer geschliffenen Rhetorik und ihren scharfsichtigen Analysen? Was plant sie, was will sie wirklich erreichen?

Klaus-Rüdiger Mai, Dr. phil., geb. 1963 in Staßfurt, ist Germanist, Historiker und Philosoph. Sein Spezialgebiet sind die künstlerischen, die philosophischen und wirtschaftlichen Kulturen Europas gestern und heute sowie die Geschichte und Gegenwart Ostdeutschlands und Osteuropas. Er ist erfolgreicher Roman- und Sachbuchautor, Essayist und Publizist und lebt mit seiner Familie bei Berlin.

2. DIE ERFINDUNG DER SAHRA WAGENKNECHT


Es dürfte außer Frage stehen, dass sich Sahra Wagenknecht selbst erfunden hat. Die Erfindung seiner selbst, die wir Selbstmystifikation nennen wollen, unterscheidet sich grundsätzlich von dem nur allzu häufig anzutreffenden Phänomen der Selbstdarstellung, die allerdings dort nötig zu sein scheint, wo das eigene Leben, die eigene Biografie, das Selbst als Bestandteil der Öffentlichkeit und des öffentlichen Lebens klingende Münze wird. Oder es zumindest werden soll. Wenn das Selbst öffentlich wird, gehört es nicht länger dem Bereich des Privaten an, der sich ohnehin in der sich digitalisierenden Welt im Schwinden befindet, wie Shoshana Zuboff analysiert hat,23 sondern wird zum Mittel auch in der politischen Auseinandersetzung. In diesem Fall ist Selbstdarstellung ein Selbstschutz, weil nicht das Selbst selbst, sondern eine Darstellung eines Anderen als Selbst im öffentlichen Raum wie eine Art Avatar agiert. Diese Tatsache ist deshalb nicht übermäßig interessant, weil sie häufig auftritt und auch zum Handwerk des Politikers gehört. Das Glücken oder Misslingen der Selbstdarstellung entscheidet über die Glaubwürdigkeit, die Glaubwürdigkeit über den Erfolg. Man muss demjenigen auch abnehmen, was er sein will oder vorgibt zu sein. Bei einigen hat notgedrungen die Selbstdarstellung allerdings das Extrem erreicht, dass sie zu einer Darstellung ohne Selbst wurde.

Sahra Wagenknecht hingegen ist keine Selbstdarstellerin. Sie wirkt nicht nur authentisch, sie ist es auch. Die Authentizität resultiert aus einem viel komplexeren Vorgang. Nur wenige Menschen wählen statt der Selbstdarstellung etwas anderes, äußerlich zwar Ähnliches, aber in Wahrheit Grundverschiedenes: die Selbstmystifikation oder Selbsterfindung – und ob man sie freiwillig wählt oder eben nicht anders kann, weil sie eine zutiefst persönliche Technik im Umgang mit der Welt ist, macht im Effekt keinen großen Unterschied. Der russische Dichter und Homme de lettres Maxim Woloschin war berühmt für seine Selbstmystifikation, auch Daniil Juwatschow, der sich als Dichter Daniil Charms nannte, oder paradigmatisch geradezu Leonardo da Vinci und Oscar Wilde.

Selbstmystifikation beschreibt ein artifizielles Verhältnis zur Welt, eine Art, sich selbst zu erfinden, die eigene Biografie zu bauen, die Legendenbildung um die eigene Person bewusst zu initiieren, zu befördern und zu steuern, weil man auch gelernt hat, sich selbst so zu sehen, so zu sein, wie man sein möchte.

Zur Selbstmystifikation gehört die Auswahl und die Stilisierung von Besonderheiten aus der eignen Biografie, auch das bewusste Weglassen – und das konstant. Diese Disziplin beherrscht Sahra Wagenknecht meisterhaft, auch weil sie in ihrer Biografie tatsächlich auf Besonderheiten zurückblicken kann. Nichts muss sie erfinden oder aufbauschen, sie muss nur verstehen, dieselben biografischen Details immer wieder zu äußern und andere konsequent wegzulassen. So gesehen, erklärt sich die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache, dass in den vielen autobiografischen Reminiszenzen in den zahlreichen Interviews immer dieselben Details und Episoden wie Bausteine eines Lebensbildes zur Sprache gebracht werden; mehr noch, diese fast schon standardisierten Episoden aus ihrem Leben wirken wie kanonisierte Bausteine einer Biografie, wie sie dann auch widerspruchslos von den Biografen ohne kritische Nachfragen übernommen werden. Wagenknecht setzt den biografischen Rahmen, und sie legt die Elemente fest, an denen sich der Biograf abarbeiten kann – und das geschieht fast wie durch Zauberhand, ohne offensichtliche Manipulation, weil es ihr gelingt, die intellektuelle Eitelkeit zu interessieren. Der Türöffner jeder Manipulation ist die Eitelkeit. Liest man das Interview, das Wagenknechts späterer Biograf Christian Schneider auf der Grundlage eines Interviews mit der Politikerin im Jahr 2014 in der taz publiziert hat, so fallen zwei Besonderheiten des Textes auf: erstens, dass er sich wie eine Bewerbung des Autors liest, ihre Biografie zu schreiben, und zweitens, dass das Porträt bereits alle Bausteine einer Prophetengeschichte enthält, die Schneider im Jahr 2019 veröffentlichen sollte.24 Was Wagenknecht subjektiv äußert, wird schon im Moment der Äußerung zur objektiven Wahrheit, die im Weiteren brav ausgedeutet wird. Halten wir uns also an die Fakten.

Sahra Wagenknecht wächst nicht nur ohne Vater auf, was leider nicht wenigen Kindern widerfährt, es ist auch ein besonderer Vater, der fehlende Vater. 1967 lernt die Mutter in Ostberlin einen Studenten aus Westberlin kennen. Der Student kommt aus dem Iran, studiert in Westberlin und ist, was man zu dieser Zeit an der Freien Universität so ist, ein Gegner des Schahs. So häufig er kann, kommt er nach Ostberlin; sie hingegen kann ihn nicht in Westberlin besuchen. Am 16. Juli 1969 wird ihre Tochter in Jena geboren. Angeblich schwanken ihre Eltern, ob sie das Kind Sarah oder Rosa nennen sollen, entscheiden sich dann aber doch für Sarah. Später wird Sahra Wagenknecht dafür sorgen, dass sie nicht die geläufige Schreibweise Sarah, sondern eben die dem Persischen nachempfundene Sahra führen darf.

Der Mutter wird ein Studienplatz in Berlin zugewiesen, nicht Kunst, wie sie es sich gewünscht hat, sondern Ökonomie. Doch der Studienplatz in Berlin bringt es mit sich, dass der kleinen Familie eine Art von Zusammenleben gelingt. Schließlich kann der Vater über den kleinen Grenzverkehr nach Ostberlin kommen. Doch dann reist der Vater in den Iran, da ist Sahra zweieinhalb Jahre alt – und kehrt nicht mehr von dort zurück. Nicht nur, dass er nie wieder aus dem Iran zu seiner deutschen Familie zurückkommt, sondern Sahra hört auch nichts mehr von ihm und vermutet, dass er im Iran umgekommen ist. Es scheint so, dass Sahra Wagenknecht später nicht nach ihm gesucht hat. Sie habe darüber nachgedacht, aber sie fürchtet, Gewissheit über das Schicksal des Vaters zu erlangen. Die Ungewissheit über das Schicksal des Vaters eignet sich besser als Material für die Gestalt, die sich Sahra Wagenknecht zu geben wünscht. Schon weil es ein Geheimnis ist.

Das Kind wächst zunächst bei den Großeltern in der Thüringer Gemeinde Göschwitz auf. In einem Interviewbuch erzählt Sahra Wagenknecht: »Lesen und Schreiben hat mir vor allem meine Oma beigebracht. Bücher waren für mich das Tor zur Welt. In Büchern habe ich Dinge erfahren, die mein Leben reicher machten, die ich spannend fand. Ich war wissbegierig, wollte einfach immer etwas Neues erfahren. Natürlich habe ich als Kind auch im Sandkasten gespielt. Aber das war nicht aufregend. Deshalb habe ich meine Großeltern gedrängt, mir lesen beizubringen. Ich bin von da an in die Bibliothek in Jena gegangen und habe mir Stapel von Büchern geholt. Bibliotheken waren für mich damals so etwas wie für andere Kinder die Süßwarenabteilung im Supermarkt, an dem es unheimlich viel Schönes zu entdecken gab.«25 Und das Lesen beginnt mit Märchen, mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm oder der berühmten Sammlung der Märchen aus Tausendundeiner Nacht, die sie schon deshalb interessiert, weil sie aus dem Kulturkreis des verschollenen Vaters stammt. Aber auch die DDR-Comics der »Mosaik«-Reihe gehören zur Lektüre des Kindes. Wagenknechts Einschätzung dürfte mit der Erinnerung vieler Ostdeutscher übereinstimmen, deren Kindheit vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren stattgefunden hat: »Ich hatte die ganz alten Hefte noch von meiner Mutter aus den 60er-Jahren. Die waren wirklich lehrreich und haben auf sehr einfache Weise die Evolution oder die Weltgeschichte für Kinder verständlich illustriert. Sie hatten einen echten Unterhaltungs- und Bildungswert. Ich kann mich noch ganz gut erinnern, dass ich die Hefte verschlungen habe, sie waren richtig spannend.«26

1955 erschien das erste Mosaik-Heft des Grafikers Johannes Eduard Hegenbarth, der sich als Künstler Hannes Hegen nannte. Im Mittelpunkt standen drei Figuren, die Digedags, nämlich Dig, Dag und Digedag, die es durch die Weltgeschichte trieb, in ferne Zeiten und ferne Länder – und die bei so ziemlich allen weltgeschichtlichen Ereignissen zugegen waren. Witz, Unterhaltung und unterschwellige Belehrung machten den Reiz des Mosaiks aus. Nach einem Streit zwischen Verlag und Künstler wurde das Mosaik 1975 mit Heft 223 eingestellt. Da der Comic aber erfolgreich war, wurde das Mosaik von dem Team fortgeführt, allerdings standen nun aus urheberrechtlichen Gründen nicht mehr die Digedags, sondern drei andere Figuren im Mittelpunkt: die Abrafaxe, und zwar Abrax, Brabax und Califax. Doch konnten die Abrafaxe mit dem legendären Ruf der Digedags, die sich tatsächlich, wie sich Sahra Wagenknecht erinnert, einer größeren, fast schon legendären Beliebtheit erfreuten, nicht konkurrieren. Die alten Hefte wurden gern und oft getauscht und besaßen einen festen Platz im kleinen Tauschhandel der Kinder in der DDR.

Das Kind Sahra wehrt sich...

Erscheint lt. Verlag 29.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-95890-619-2 / 3958906192
ISBN-13 978-3-95890-619-8 / 9783958906198
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 497 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Mit „Green Growth“ gegen den Klimawandel und für die …

von Hans-Jörg Naumer

eBook Download (2023)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
9,99