Die unsichtbare Frau (eBook)

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2024 | 1. Auflage
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00477-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die unsichtbare Frau -  Siri Hustvedt
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«Eine literarische Meisterleistung.» FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Iris Vegan, Literaturstudentin in New York: eine intelligente, schöne Frau, aber auch unsicher, beeinflussbar, auf der Suche nach sich selbst - eine Idealfigur für die Phantasien der Männer. Wie unter einem inneren Zwang lässt sie sich auf eine Reihe von erotischen Abenteuern ein. «Die unsichtbare Frau» ist die Geschichte einer Obsession, erzählt in einer fiebrigen und doch glasklaren Prosa.

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis. Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

Eins


Selbst heute noch meine ich manchmal, ich sähe ihn auf der Straße, hinter einem Fenster oder in einem Coffee-Shop über ein Buch gebeugt. Und in dem Augenblick, bevor mir klar wird, daß es jemand anders ist, ziehen sich meine Lungen zusammen, und es verschlägt mir den Atem

Ich begegnete ihm vor acht Jahren. Damals promovierte ich an der Columbia University. Es war ein heißer Sommer, und ich verbrachte oft schlaflose Nächte. Ich lag in meiner Zweizimmerwohnung in der West 109th Street wach und lauschte den Geräuschen der Stadt. Ich las, schrieb und rauchte bis in den Morgen, aber in manchen Nächten, wenn die Hitze mich zu schlapp zum Arbeiten machte, beobachtete ich von meinem Bett aus die Nachbarn. Durch mein vergittertes Fenster über den schmalen Luftschacht hinweg schaute ich in die Wohnung gegenüber und sah die beiden Männer, die dort wohnten, bei dem schwülen Wetter halbnackt von einem Zimmer ins andere gehen. An einem Tag im Juli, kurz bevor ich Mr. Morning kennenlernte, trat einer der Männer nackt ans Fenster. Lange stand er so in der Abenddämmerung, und eine gelbe Lampe beleuchtete von hinten seinen Körper. Ich verbarg mich in der Dunkelheit meines Schlafzimmers, und er bemerkte mich gar nicht. Das war zwei Monate nachdem Stephen mich verlassen hatte, und ich dachte unablässig an ihn, zerwühlte die feuchten Bettlaken, nie entspannt, nie erlöst.

Tagsüber suchte ich Arbeit. Im Juni hatte ich Recherchen für einen Medizinhistoriker gemacht. Fünf Tage in der Woche saß ich im Lesesaal der Academy of Medicine in der East 102nd Street und füllte Karteikarten mit Angaben über schwere Krankheiten – Beulenpest, Lepra, Influenza, Syphilis, Tuberkulose – sowie über obskure Leiden, an die ich mich nur mehr wegen ihrer Namen erinnere: Himbeerseuche, Milchpocken, Grünholzbruch, Rhinitis, Nesselsucht und Morbus Scheuermann. Dr. Rosenberg, ein Achtzigjähriger, der sehr langsam sprach und sich bewegte, bezahlte mir sechs Dollar die Stunde für diese Karteikarten, und obwohl ich nie verstand, was er damit machte, fragte ich ihn nie, aus Angst, eine Erklärung könnte Stunden dauern. Mit dem Job war es vorbei, als mein Arbeitgeber nach Italien fuhr. Ich war als Studentin immer knapp bei Kasse gewesen, aber Dr. Rosenbergs Ferien brachten mich zur Verzweiflung. Ich hatte die Juli-Miete nicht bezahlt und kein Geld für den August. Jeden Tag ging ich zum Schwarzen Brett der philosophischen Fakultät, wo Jobangebote aushingen, aber wenn ich anrief, waren sie immer schon weg. Dennoch, auf diese Weise fand ich Mr. Morning. Ein handgeschriebener kleiner Zettel offerierte folgende Stelle: «Gesucht. Wissenschaftlicher Mitarbeiter für laufendes Forschungsprojekt. Literaturstudent bevorzugt. Herbert B. Morning.» Unter dem Namen stand eine Telefonnummer, und ich rief sofort an. Bevor ich mich richtig vorstellen konnte, gab mir ein Mann mit einer schönen Stimme eine Adresse in der Amsterdam Avenue und forderte mich auf, so bald wie möglich zu kommen.

Es war ein diesiger Tag, aber die Sonne blendete, und ich blinzelte in dem hellen Licht, als ich Mr. Mornings Haus betrat. Der Aufzug des Mietshauses war kaputt, und ich erinnere mich, daß ich schwitzte, als ich die Treppen zum vierten Stock hinaufstieg. Ich sehe noch sein angespanntes Gesicht im Türrahmen vor mir. Er war ein sehr blasser Mann mit einer hübschen großen Nase. Er atmete laut, als er die Tür öffnete und mich in einen winzigen, stickigen Raum einließ, der nach Katzen roch. Die Wände waren mit überquellenden Bücherregalen zugestellt, und weitere Bücher stapelten sich überall im Raum zu schiefen Türmen. Auch hohe Stöße Zeitungen und Zeitschriften lagen herum und unter einem Fenster, dessen Jalousie ganz heruntergelassen war, ein Haufen alte Kleider oder Lumpen. In der Mitte des Raums stand ein massiver Schreibtisch aus Holz, und darauf lagen etwa ein Dutzend verschieden große Schachteln. Dicht neben dem Schreibtisch befand sich ein schmales Bett, dessen zerknitterte Laken ebenfalls mit Büchern übersät waren. Mr. Morning nahm hinter dem Schreibtisch Platz, und ich setzte mich ihm gegenüber auf einen alten Klappstuhl. Ein dünner Lichtstrahl, der durch eine zerbrochene Lamelle drang, fiel auf den Boden zwischen uns, und als ich hinschaute, sah ich Staub flimmern.

Ich rauchte, wodurch das Zimmer noch dunstiger wurde, und sah die Haut auf seinem Hals an; sie war mondweiß. Er sagte, er sei froh über mein Kommen, dann verstummte er. Ohne jede erkennbare Zurückhaltung sah er mich an und studierte meinen ganzen Körper. Ich weiß nicht, ob dieser zudringliche Blick geil oder nur neugierig war, jedenfalls fühlte ich mich bedrängt und drehte mich von ihm weg, und als er mich nach meinem Namen fragte, log ich. Schnell, ohne zu zögern, erfand ich einen neuen Nachnamen. Ich wurde Iris Davidsen. Es war ein Akt der Notwehr, der mich vor einer vagen Gefahr schützen sollte. Später jedoch verfolgte mich dieser falsche Name; er schien mich anderswohin zu versetzen, brachte mich vom Weg ab und veränderte eine Zeitlang auf seltsame Weise meine ganze Welt. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, stellt sich mir diese Lüge als der Anfang der Geschichte dar, als eine Art Schlüssel zu meinem Unbehagen. Alles übrige, was ich ihm erzählte, stimmte: die Angaben über meine Eltern und Schwestern in Minnesota, über mein Studium der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts, über meine vorangegangenen wissenschaftlichen Hilfstätigkeiten, sogar meine Telefonnummer. Während ich sprach, lächelte er mich an, und ich dachte, es ist ein vertrautes Lächeln, als kenne er mich seit Jahren.

Er sagte mir, er sei Schriftsteller und schreibe für Zeitschriften, um Geld zu verdienen. «Ich schreibe für jeden Geschmack über alles», sagte er. «Ich habe für Field and Stream, House and Garden, True Confessions, True Detective und Reader's Digest geschrieben. Ich habe Erzählungen, einen Spionageroman, Gedichte, Essays und Rezensionen geschrieben. Einmal sogar den Text zu einem Kunstkatalog.» Er grinste und machte eine ausholende Armbewegung. «Stanley Rubins rhythmische Gemälde weisen Anklänge an den Manierismus auf, insbesondere an Pontormo. Die langen, wogenden Formen erinnern an …» Er lachte. «Und ich veröffentliche selten unter demselben Namen.»

«Stehen Sie nicht hinter dem, was Sie schreiben?»

«Ich bin hinter allem, was ich schreibe, Miss Davidsen, normalerweise sitzend, manchmal stehend. Im 18. Jahrhundert war es üblich, stehend an einem Pult zu schreiben. Auch Thomas Wolfe schrieb im Stehen.»

«Das meinte ich eigentlich nicht.»

«Nein, natürlich nicht. Aber sehen Sie, Herbert B. Morning könnte unmöglich für True Confessions schreiben, aber Fern Luce kann es. So einfach ist das.»

«Macht es Ihnen Spaß, sich hinter Masken zu verbergen?»

«Einen Riesenspaß. Es bringt eine gewisse Farbigkeit und Gefahr in mein Leben.»

«Ist Gefahr nicht etwas übertrieben?»

«Ich glaube nicht. Nichts übersteigt meine Fähigkeiten, solange ich mir für jedes Vorhaben den richtigen Namen zulege. Sie sind nicht willkürlich. Es erfordert eine Begabung, einen genialen Einfall, wenn ich so sagen darf, den Nom de plume zu treffen, der den richtigen Mann oder die richtige Frau für die Aufgabe freisetzt. Dewitt L. Parker schrieb zum Beispiel den Kunstkatalog und Martin Blane den Spionageroman. Aber es ist auch riskant. Selbst der sorgfältigste Plan kann schiefgehen. Man kann einfach nicht wissen, wer hinter dem Pseudonym steckt, das man sich aussucht.»

«Ich verstehe», sagte ich. «Wenn es so ist, sollte ich Sie wohl fragen, wer Sie jetzt gerade sind?»

«Werte Dame, Sie haben das Privileg, mit Herbert B. Morning höchstpersönlich zu sprechen, unbelastet von anderen Personen.»

«Und wofür braucht Mr. Morning eine wissenschaftliche Hilfskraft?»

«Für eine Art Biographie», sagte er, «für ein Projekt über die Paraphernalien des Lebens, sein Drum und Dran, seine Schätze und Abfälle. Ich brauche jemanden wie Sie, der unvoreingenommen auf die betreffenden Gegenstände reagiert. Ich brauche ein Ohr und ein Auge, einen Schreiber und eine Stimme, einen Freitag für jeden Tag der Woche, jemanden, der scharfsinnig und sensibel ist. Sehen Sie, ich bin dabei, die wahre Essenz der unbelebten Welt zu ergründen. Man könnte es eine Anthropologie der Gegenwart nennen.»

Ich bat ihn, mir den Job näher zu erklären.

«Es begann vor drei Jahren, als sie starb.» Er hielt inne, als dächte er nach. «Ein Mädchen … eine junge Frau. Ich kannte sie, aber nicht sehr gut. Jedenfalls, nach ihrem Tod gelangte ich irgendwie in den Besitz einiger Dinge von ihr, ganz gewöhnlicher Alltagsdinge. Ich hatte sie in der Wohnung, dies und das, kunterbunt durcheinander, verlorene, zurückgelassene Gegenstände, stumm, aber nicht tot. Das war der Haken daran. Sie waren nicht tot, nicht in der üblichen Weise, wie wir Gegenstände für leblos halten. Sie schienen mit irgendeiner Energie aufgeladen. Manchmal fühlte ich fast, daß sie sich bewegten, und dann, nach einigen Wochen, bemerkte ich, daß sie diese Lebendigkeit zu verlieren, sich in ihre Dinghaftigkeit zurückzuziehen schienen. Deshalb habe ich sie in Schachteln gesteckt.»

«Sie haben sie in Schachteln gesteckt?» fragte ich.

«Ich habe sie in Schachteln gesteckt, damit sie vom Hier und Jetzt unberührt bleiben. Ich bin sicher, daß diese Dinge ihren Stempel tragen – den Abdruck eines warmen, lebendigen Körpers auf die Welt. Und obwohl ich versucht habe, sie sicher...

Erscheint lt. Verlag 30.1.2024
Übersetzer Uli Aumüller
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Erotische Abenteuer • Manhattan • New York • Obsession • Phantasie • Psychische Krise • US-Literatur
ISBN-10 3-644-00477-3 / 3644004773
ISBN-13 978-3-644-00477-1 / 9783644004771
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