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Heiligenbilder und Heuschrecken (eBook)

Roman. 'Eine sprachmächtige Analyse der spanischen Gesellschaft' DEUTSCHLANDFUNK KULTUR
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
159 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-5961-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
21,99 inkl. MwSt
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Ein abgelegenes Dorf in Südspanien: Eine Enkelin und ihre Großmutter leben in einfachsten Verhältnissen im alten Haus der Familie - mit Unbehagen beäugt von den restlichen Dorfbewohnern. Denn sie scheinen in einer unheimlichen Verbindung zu stehen mit dem Haus und den Seelen seiner Verstorbenen.

Dann verschwindet der Sohn der mächtigsten Familie des Ortes, unter Aufsicht der Enkelin. Nur ein Zufall? Bald schon fällt der Verdacht auf die beiden Frauen.

Eine feministische Rachegeschichte in der spanischen Provinz - rau im Ton, geschliffen in der Sprache und mit einem Schuss magischem Realismus.



<p><strong>Layla Martínez</strong>, geboren 1987 in Madrid, ist Autorin zahlreicher Erzählungen und Artikel, die in diversen Anthologien erschienen sind. Sie arbeitet als Übersetzerin und schreibt über Musik in El Salto und über Serien und das Fernsehen in La Última Hora. Seit 2014 ist sie Teil des Leitungsteams des Indie-Verlags Antipersona.</p>

Sobald ich über die Schwelle war, hat sich das Haus auf mich gestürzt. Das passiert immer so mit diesem Haufen Ziegel und Dreck, er fällt alle an, die über die Schwelle kommen, und dreht ihnen den Magen um, bis die Luft wegbleibt. Meine Mutter hat immer gesagt, dieses Haus macht, dass dir die Zähne ausfallen und deine Eingeweide austrocknen, aber meine Mutter ist schon lange von hier weg und ich erinnere mich gar nicht mehr an sie. Ich weiß, dass sie das immer gesagt hat, weil meine Großmutter hat es mir erzählt, aber eigentlich war das total überflüssig, weil ich wusste es eh schon. Hier fallen dir die Zähne und die Haare aus und das Fleisch hängt in Fetzen, und wenn du nicht aufpasst, schleppst du dich nur noch von einer Ecke in die andere oder du rollst dich im Bett zusammen und stehst gar nicht mehr auf.

Ich hab dann den Rucksack auf der Truhe abgelegt und durch die Tür ins Esszimmer geguckt. Meine Großmutter war nicht da. Auch nicht unterm Küchentisch oder im Schrank in der Speisekammer. Also hab ich es im oberen Stock probiert. Ich hab die Schubladen an der Kommode und die Türen am Kleiderschrank aufgemacht, aber da war sie auch nicht. Die alte Vettel. Da hab ich zwei Schuhspitzen unter einem der Betten vorlugen sehen. In jeder anderen Situation hätte ich die Tagesdecke gar nicht hochgehoben, weil man die, die unterm Bett leben, besser nicht stört, aber die Schuhe von meiner Großmutter sind total unverwechselbar. Das Lackleder glänzt so krass, dass du dich vom anderen Ende des Zimmers drin spiegeln kannst. Wie ich die Decke dann zurückgeschlagen hab, da hat sie bloß auf die Latten am Rost gestiert. Eine Nachbarin, die sie eines Morgens aus der Truhe hat klettern sehen, die hat den Journalisten gesteckt, die Alte wäre dement, aber was wusste diese gottverdammte Lästerschwester schon, mit ihren Speckschwartenhaaren ekliger wie eine dreckige Autobahnraststättenfritteuse. Demenz war das definitiv nicht.

Ich hab dann die Alte rausgezerrt, sie aufs Bett gesetzt, sie bei den Schultern gepackt und ein paarmal kräftig geschüttelt. Manchmal funktioniert das, manchmal nicht. Diesmal klappte es nicht. Wenn es nicht klappt, ist es besser zu warten, bis sie sich wieder einkriegt. Ich hab sie bis zum Flur geschleift, hab sie in die Kammer reingeschoben und die Tür von außen abgeschlossen. In diesem Haus lassen sich alle Türen von außen abschließen. Das ist Familientradition, genau wie diese bescheuerten Sachen, die manche Leute zu Weihnachten veranstalten. Wir haben viele Traditionen, zum Beispiel uns gegenseitig einzuschließen, aber Lamm essen wir niemals, weil uns Lämmer nichts getan haben und wir es ziemlich unhöflich fänden.

Ich bin also nach unten, meinen Rucksack holen, und dann wieder die Treppe hoch. Außer der Treppe zur Kammer gibt es im oberen Stock nur noch ein Schlafzimmer, das ich mit der Alten teile. Ich hab den Rucksack auf mein Bett gelegt, das kleinere. Vorher hat es meiner Mutter gehört und davor meiner Großmutter. In diesem Haus erbt man kein Geld und keine goldenen Ringe oder Bettwäsche mit gesticktem Monogramm, hier vermachen uns die Toten bloß Betten und Groll. Böses Blut und einen Platz, wo du dich abends ausstrecken kannst. Was anderes erbst du in diesem Haus nicht. Nicht mal die Haare von meiner Großmutter hab ich geerbt. Obwohl sie schon so alt ist, sind sie bei ihr noch total kräftig, dick wie ein Strick. Es ist eine Freude, wenn sie die Haare aufmacht – und ich mit meinen drei schwindsüchtigen Schnittlauchborsten, die mir am Kopf pappen und zwei Stunden nach dem Waschen schon wieder fettig sind.

Das Bett gefällt mir, weil das Kopfteil voll mit Schutzengelbildchen ist, mit Tesa festgeklebt.

Manchmal fällt ein Streifen ab, weil er so alt und vergammelt ist, aber ich reiße mit den Zähnen sofort ein neues Stückchen ab und tausche es aus. Mein liebstes Bild ist das, wo der Engel zwei Kinder beschützt, die kurz davor sind, in einen Abgrund zu stürzen. Die Kinder spielen auf einem Felsen und lächeln dümmlich, wie wenn sie zu Hause auf dem Hof wären und nicht am Rand von einem Abgrund. Sie sind schon ziemlich groß, aber sie stehen da rum wie zwei Vollidioten und gucken, als wäre nichts. Ganz oft schaue ich morgens gleich nach dem Aufwachen auf dieses Bild, bloß um zu sehen, ob die beiden schon abgestürzt sind. Es gibt noch ein anderes Bildchen, darauf ist ein Baby kurz davor, das Haus anzuzünden, noch eins, auf dem Zwillinge versuchen die Finger in eine Steckdose zu stecken, und noch eins, auf dem ein Mädchen sich gleich mit einem Küchenmesser einen Finger amputiert. Alle grinsen wie die Psychos, mit ihren runden, rosaroten Pausbäckchen. Die Alte hat die Bildchen hier hingehängt wie meine Mutter geboren wurde weil die Engel sie beschützen sollten und jeden Abend vor dem Schlafen haben sich beide neben das Bett gekniet und die Hände gefaltet und gebetet: Vier Ecken hat mein Bettchen vier Engelchen beschützen mich. Aber dann hat die Alte die echten Engel zu sehen gekriegt und feststellen müssen die Leute, die diese Bildchen gezeichnet haben, die haben noch nie im Leben einen Engel gesehen weil kein Engel hat in echt solche blonden Locken und ein so hübsches Gesichtchen. Engel sind eigentlich eher wie riesige Insekten, wie riesige Gottesanbeterinnen. Und meine Großmutter hat dann aufgehört zu beten, weil wer will schon, dass vier Gottesanbeterinnen mit ihren Tausenden Augen und diesen Greifzangen am Maul ans Bett von der eigenen Tochter kommen. Jetzt beten wir zu ihnen weil wir Angst haben dass sie sich aufs Dach setzen und ihre Fühler und riesenlangen Beine durch den Schornstein stecken. Manchmal hören wir ein Geräusch in der Kammer und gehen oben nachschauen und dann sehen wir ihre Augen die uns durch die Ritzen zwischen den Ziegeln beobachten und dann beten wir ein Ave-Maria um sie zu verscheuchen.

Ich hab also die Kleider aus dem Rucksack genommen und sie aufs Bett gelegt. Vier Shirts, zwei Leggings, fünf Unterhosen, fünf Paar Socken und die Kleider für wenn ich vor den Richter musste: eine schwarze Hose und eine geblümte Bluse. Dieselbe Kombi hab ich auch bei Bewerbungsgesprächen angehabt, weil da wollte ich auch rüberbringen, dass ich unschuldig und brav bin und deswegen mehr als willig, mich aufs Krasseste ausbeuten zu lassen. Beim Richter hat das mit dem Unschuldigwirken gut geklappt, bei den Arbeitgebern nicht so. Ich glaube, man konnte mir die Wut an der Nasenspitze ansehen, ich hab nämlich die ganze Zeit die Zähne zusammengebissenen, auch wenn ich gelächelt hab. Die einzige Arbeit, die ich trotzdem gekriegt hab, war die als Kindermädchen für den Jüngsten von den Jarabos. Denen war meine Bluse und das böse Blut egal. Meine Familie hat schon immer für deren Familie gearbeitet und so würde es immer weitergehen, egal wie ich mich anzog und egal wie groß der Groll war, den ich gegen sie hatte.

Jetzt nützt mir die Bluse nichts mehr weil sie total ausgeblichen ist. Aber das ist auch schon egal weil ich sowieso kein Vorstellungsgespräch mehr kriege, es stellt mich ja eh keiner mehr ein. Nicht nach dem, was passiert ist. Ich muss auch nicht mehr die Zähne zusammenbeißen, damit mir die Galle nicht hochkommt aber die Alte sagt irgendwas muss ich lernen. Sie sagt das weil sie mich nicht den ganzen Tag hier im Haus haben will. Sie hat schon recht weil wenn ich so lange nichts tue, dann kommen die Nerven und der Moder. Mit Hunden Gassi gehen würde mir als Arbeit Spaß machen. Aber dafür wird mich hier niemand bezahlen hier sperrt man die Hunde in den Zwinger und die können schon dankbar sein wenn die Leute immer mal ein Stück altes Brot übers Tor werfen.

Ich erzähl mal weiter. Ich hab also die Kleider aus dem Rucksack genommen, mein Oberteil ausgezogen und mir ein frisches übergezogen. Ich würde euch gern sagen dass es ein hübsches Oberteil war aber das stimmt nicht und ich will alles so erzählen wie es passiert ist und in Wirklichkeit waren beide Shirts gleich hässlich und verzogen und abgenutzt vom vielen Tragen. Aber wenigstens stank das zweite nicht nach Eingesperrt in einen von diesen Scheißbussen von hier, wo der Geruch von stinkiger Fitnessstudio-Umkleidekabine für immer in den Sitzen klebt. Ich hab dann die Kleider in die oberste Schublade von der Kommode gelegt aber ich wusste das war bescheuert. Morgen würde ich sie im Küchenschrank oder auf den Regalen in der Kammer oder in der großen Truhe beim Eingang suchen müssen. Es ist immer dasselbe in diesem Haus man kann sich auf nichts verlassen vor allem kann man den Schränken und Wänden keinen Millimeter trauen. Den Kommoden ein kleines bisschen mehr aber eigentlich auch nicht.

Ich hörte ein dumpfes Rummsen und wusste, die Alte haut wieder mit der Stirn gegen die Tür. Sie war bestimmt kurz davor zurückzukommen und es war besser sie jetzt sofort aufzuwecken, bevor sie noch zu nah ans Kammerfenster geht. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass sie fällt oder sich runterstürzt, was in dem Fall das Gleiche ist, weil so oder so ist sie am Schluss behindert oder bescheuert, wenn sie nicht damit aufhört. Ich bin also zurück ins Zimmer und hab die Tür aufgesperrt. Diesmal hab ich sie richtig feste geschüttelt, bis sie wieder ganz da war und sie sagte: Hach, meine Kleine, ich hab dich gar nicht reinkommen hören. Ich hab ihr geantwortet, dass ich schon seit einer halben Stunde da bin aber sie war die ganze Zeit voll weggetreten. Wenn die Heiligen dich mitnehmen, dann nehmen sie dich mit, hat sie gesagt, und ich hab ihr nachgeschaut, wie sie aus dem Zimmer und die Treppe runter ist. Die Stufen knarzten, als würden sie gleich zersplittern, obwohl die Alte keine fünfzig Kilo auf die Waage bringt. Was ihr da seht, das ist alles Haut und Knochen, alles bloß Gelappe ohne Fleisch dazwischen. Wie ich...

Erscheint lt. Verlag 31.5.2024
Übersetzer Christiane Quandt
Sprache deutsch
Original-Titel Carcoma
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Andrea Abreu • Armut • Außenseiter • Diskriminierung • Dorf • Dorfgemeinschaft,Rache • Enkeltochter • Entführung • Feminismus • Fluch • Frauenrechte • Gegenwartsliteratur • Geister • Geisterhaus • Gleichberechtigung • Großmutter • Klassismus • Machtgefälle • Mariana Enríquez • Patriarchat • prekäre Existenz • Privilegien • Rachgeschichte • Spanien • Südspanien • Übersinnliches • unterprivilegiert • Verbrechen
ISBN-10 3-7517-5961-1 / 3751759611
ISBN-13 978-3-7517-5961-8 / 9783751759618
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