Unter Wölfen (eBook)
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01003-1 (ISBN)
John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.
John Wray wurde 1971 in Washington, D. C., als Sohn einer Österreicherin und eines Amerikaners geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin Granta unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet. Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
I Venice Death
1
Leslie Z war dreifach angezählt: Er war schwarz, er war bisexuell, und er war ein Fan von Hanoi Rocks.
Vor allem das dritte Manko kam Ende der Achtziger einem Selbstmord gleich, als es an Floridas Golfküste bereits genügte, sich das Haar zu föhnen, um von Bikern, Skinheads oder irgendeinem verpickelten Banger mit Carnivore-Shirt zu Kompott geprügelt zu werden. Sex mit Jungen zu haben oder haben zu wollen war dagegen eine Bagatelle. Glamrock war out, Death Metal war in. Aber als er Leslie Z zum ersten Mal traf, hatte Kip Norvald nicht die leiseste Ahnung von diesen alles entscheidenden Brüchen in der Metal-Szene. Damals hätte er kaum sagen können, was Metal eigentlich war.
Ihre Wege kreuzten sich an dem Tag, als Lindsey Grace, die Tochter der Furberolds, offiziell als vermisst gemeldet wurde, und das war, wie es der Zufall wollte, auch Kips erster Tag an der Venice High. Leslie saß hinten in der Klasse, wo er, die staksigen Beine bis in die nächste Reihe ausgestreckt, mit einer Patrone aus seinem Gürtel irgendwas in den Tisch ritzte. Die Klassenlehrerin – GLADYS KRUPS, ihr Name nahm den größten Teil der Tafel ein – stellte Kip mit geradezu einschläferndem Gemurmel der Klasse vor, außerdem sprach sie seinen Namen falsch aus, und Kip spürte gleich, wie Panik in ihm aufkam. Nichts hatte er sich in diesem Herbst sehnlicher gewünscht, als nie mehr irgendwem vorgestellt zu werden. Er konnte ja kaum seinen eigenen Anblick im Spiegel ertragen. Jetzt fühlte er ein außerkörperliches Ereignis nahen, und sein Blick wanderte automatisch zur hintersten Ecke des Klassenzimmers, wo er Leslie Z entdeckte, der, wie Kip instinktiv wusste, mit einer scharfen Patrone spielte. Hätte er noch weiter weg von Gladys Krups sitzen wollen, er hätte sich im nächsten Klassenraum wiedergefunden.
Leslie wirkte unheimlich, abstoßend, wie einer, der Gewalt gewohnt war – vermutlich das Geheimnis seines lebens. Zugleich aber sah er lächerlich aus. Für das Pult war er zu groß und für seine Klamotten viel zu dünn. Die schwarze Nietenjacke hätte an jemand anderem vielleicht cool ausgesehen, aber Leslie trug sie wie ein Cape über den Schultern. Auf seinem T-Shirt stand: Mein anderes T-Shirt ist aus der Haut meines wehrlosen Opfers. Die Jeans waren dicht unterhalb der Knie in Streifen geschnitten und verschwanden in einem Paar ziemlich mitgenommener gelber Gummistiefel. Kips Oma hatte solche Stiefel: Sie trug sie bei der Gartenarbeit. Es kostete ihn keine geringe geistige Anstrengung, die gleichen Stiefel sinnvoll mit einem über eins achtzig langen Kerl mit Eyeliner und Fransen-Paisleyschal in Verbindung zu bringen. Allen vernünftigen Standards – allen in Florida gültigen Standards – zufolge hätte Leslie Z gar nicht am Leben sein dürfen. Sein Anblick ließ Kip einen Moment lang vergessen, wer und wo er war und welche so simplen wie albtraumhaften Ereignisse ihn hierhergeführt hatten. Und mindestens so lange, wie er brauchte, um von zehn abwärts zu zählen, wollte er ausnahmsweise nicht sofort sterben.
Leslie Z bekam von alldem natürlich nichts mit, und Kip hätte lieber Glas gefressen, als es ihm auf die Nase zu binden. Als er hier an der Golfküste strandete, hatte er ein Viertel des letzten Schuljahres hinter sich, bis zu seinem siebzehnten Geburtstag waren es noch drei Wochen, und trotzdem gab es für ihn schon eine lange Liste von Dingen, über die er hoffte, nie wieder reden oder nachdenken zu müssen. Für dieses Jahr hatte er sich das Ziel gesetzt, die Klappe zu halten. Seine neuen Klassenkameraden konnten als Doppelgänger jener Typen durchgehen, die ihm in mittlerweile sieben Städten die Hölle heißgemacht hatten: zappelige Schwachmaten, maisgefüttert und mies gelaunt, die ungeduldig auf das nächste üble Ding warteten. Venice war Zwischenstation, Warteraum. Kips Überlebensstrategie bestand schlicht und ergreifend darin, sich bis zur zweiten Juniwoche unsichtbar zu machen.
Es dauerte zehn Tage, bis sein Masterplan floppte. In der bewachten Wohnanlage seiner Oma schraubte er am übernächsten Samstag an einem Schwinn-Bike mit Bananensattel herum, das er in ihrer Garage gefunden hatte, als die Schicksalsgötter glaubten, sich einmischen zu müssen.
Es passierte in Sekunden: Er nahm eine Kurve zu scharf, kam kurz ins Trudeln, konnte sich knapp halten, hätte aber fast Leslie Z über den Haufen gefahren, der hinter der öffentlichen Toilette von einem stiernackigen Hillbillytypen mit Konföderiertencap gegen einen Cola-Automaten gedrückt wurde. Der Mann fluchte, und mit der Stimme einer Fünfjährigen entrang sich Leslie ein Hey. Alarmglocken schrillten in Kips verwirrtem Hirn. Mit dem rechten Fuß stützte er sich leicht auf dem Bordstein ab.
«Leslie? Stimmt’s?»
Ein kaum wahrnehmbares Nicken. «Leslie Z.»
«Ich sitze in der Klassenlehrerstunde neben dir. Nee, nicht genau neben dir. Eher so leicht schräg davor.»
«Verpiss dich, Schwuchtel», sagte Stiernacken.
«Kip Norvald heiße ich.»
«Okay, ich korrigiere mich», sagte Stiernacken. «Verpiss dich, Kip.»
«Ich weiß, wer du bist», murmelte Leslie.
«Cool», hörte Kip sich antworten. «Aber was ist hier eigentlich los, wenn die Frage erlaubt ist?»
Langsam, fast mechanisch drehte sich Stiernacken zu ihm um.
«Ist sie nicht.»
Er sagte das so bedächtig, als wäre Kips Frage durchaus ernst zu nehmen. Sein wulstiger, sonnenverbrannter Nacken glich tatsächlich dem eines Rindviechs; einen seiner Vorderzähne zierte ein roter Schmuckstein.
Kip stieg vom Schwinn. Die Sache nahm definitiv traumartige Züge an. Mrs. Rathmore, eine der Nachbarinnen seiner Oma, glitt auf ihrem Vierradroller vorüber und wünschte ihm einen guten Morgen. Es war später Nachmittag.
«Ich muss Sie bitten, mit dem aufzuhören, was Sie da gerade tun», wandte Kip sich an Stiernacken.
«Ach ja?»
«Ja. Sonst ruf ich die Polizei.»
«Wie denn?», sagte der Mann. «Hat dein Rad Telefon?»
Leslie atmete tief aus. «Vielleicht könnten wir einfach –»
Noch während Kip überlegte, was er antworten sollte, donnerte er seine Faust knapp an Stiernackens Gesicht vorbei in den Cola-Automaten. Die Scheibe war nicht aus Glas, zersplitterte aber wie Glas. Ein kalter Luftzug schlängelte sich Kips Arm hinauf, und sein Blick wurde verschwommen – er sah nur noch Weiß mit flackernden geometrischen Mustern, fast als würde er auf den Bildschirm eines zertrümmerten Fernsehers starren –, so wie immer, wenn er eine seiner Episoden hatte. Alles wurde still und hell, dann dämmrig, dann tintenschwarz, dann wieder normal. Und das in weniger als einer Sekunde. Er empfand nicht den geringsten Schmerz.
«Scheiße», sagte Stiernacken. «Ich bin raus hier.»
Er ließ von Leslie ab, täuschte in Richtung Kip einen halbherzigen Hieb vor, lief dann über den kleinen Parkplatz und verschwand geduckt im Gebüsch. Da war eine Abkürzung – ein schmaler Pfad, meist leicht matschig, von dem Kip geglaubt hatte, nur er würde ihn kennen. Er zitterte jetzt, wie hinterher fast immer, und er begann wieder, etwas zu empfinden. Vor allem hatte er nun Angst. Er malte sich aus, wie Stiernacken von irgendwoher mit einer Waffe zurückkam.
«Wow», sagte Leslie.
«Tja.»
«Mann, du hast ja echt einen an der Waffel. Aber vielleicht bist du auch einfach nur dumm.»
«Gern geschehen», sagte Kip und zog das Rad vom Bürgersteig.
«Deine Hand blutet.»
«Ja», sagte Kip und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. «Soll vorkommen.»
«Wie bitte?»
Kip antwortete nicht. Es gab zu viel zu erklären. Leslie setzte sich auf den Bordstein und schloss die Augen.
«Und was ist mit dir, Mann?», fragte Kip. «Alles okay da unten?»
Behutsam fuhr Leslie sich mit einer Hand übers Gesicht. Auf den Fingernägeln prangten winzige lilafarbene Kreuze. «Willst du die Wahrheit wissen, Norvald? Ich hab mich schon mal besser gefühlt.»
«Glaub ich dir.»
«Das glaubt er mir», sagte Leslie.
«Worum ging es denn da gerade?»
«Das war Harley Boy Ray. Er wollte mir Gras verticken.»
«Ah», sagte Kip.
«Jetzt kapiert er’s. Jetzt beginnt er zu verstehen.»
«Eigentlich nicht», erwiderte Kip. Er hatte selbst schon Gras gekauft – vielleicht ein halbes Dutzend Mal –, aber dabei war es nie vorgekommen, dass ihn hinter der öffentlichen Toilette ein Mann mit Glitzerstein im Zahn bedroht hatte. Trotzdem stellte er keine weiteren Fragen, jedenfalls nicht in diesem Augenblick, denn die eiskalte Welle der Scham, die sich, seit er sich erinnern konnte, in jedem wachen Moment bedrohlich vor ihm auftürmte, krachte bereits auf ihn nieder.
«Scheiße, Mann. Tut mir leid. Ich dachte nur – es sah so aus, als –»
«Wenn du’s genau wissen willst: Ray verprügelt mich tatsächlich manchmal.» Leslie sah an ihm vorbei über den Parkplatz. «Hängt von der Situation ab.»
Kip hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. Ein Windhauch raschelte durch die Wipfel. Erneut rollte Mrs. Rathmore vorüber.
«Norvald», sagte Leslie, als spräche er mit sich selbst. «Kip Norvald.»
«Das bin...
Erscheint lt. Verlag | 14.5.2024 |
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Übersetzer | Bernhard Robben |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Achtziger Jahre • Amerikanische Literatur • Bergen • bücher literatur • Bücher Neuerscheinungen 2024 • Coming of Age • Death Metal • Drogen • Florida • Freundschaft • Freundschaftsroman • Gegenwartsliteratur • Gewalt • Heavy metal • Liebe • Los Angeles • Norwegen • Oslo • Race • Rassenkonflikt • Rockmusik • romane neuerscheinungen 2024 • Subkultur • Whiskey-a-Gogo • White Trash • Zeitgenössische Literatur • Zeitporträt |
ISBN-10 | 3-644-01003-X / 364401003X |
ISBN-13 | 978-3-644-01003-1 / 9783644010031 |
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