Was ist Literatur? (eBook)

(Autor)

Traugott König (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01895-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ist Literatur? -  Jean-Paul Sartre
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Sartres grundlegendes Werk über das Wesen der Literatur, das zugleich ein Schlüsselwerk seines Denkens ist, entstand 1947 als Antwort auf eine Polemik: Man hatte Sartre vorgeworfen, er wolle mit seiner Forderung nach einem Engagement der Literatur diese in den Dienst politischer Zwecke stellen und zur Tendenzliteratur machen, Sartre wies diesen Vorwurf zurück, indem er die für die Literatur grundlegenden Fragen zu beantworten versuchte: Was ist Schreiben? Warum schreiben? Für wen schreibt man? In der Reihe von Sartres 'Schriften zur Literatur' liegt die vollständige Ausgabe dieses Standardwerks in einer Neuübersetzung vor, die auch die oft seitenlangen sehr brillanten Anmerkungen enthält, die Sartre der französischen Buchausgabe hinzufügte, um auf die Angriffe gegen seine Schrift, die zuerst in seiner Zeitschrift erschienen war, zu antworten. Der Band ist ferner mit einem Nachwort des Übersetzers Traugott König versehen, in dem er Sartres Begriff des Engagements bis zu seiner Flaubert-Studie 'Der Idiot der Familie' weiterverfolgt.

Geboren am 21.06.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931-1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937-1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte.Am 02.09.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus»zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris.Auszeichnungen: Prix du Roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

Geboren am 21.06.1905, wuchs er nach dem frühen Tod seines Vaters im Jahre 1906 bis zur Wiederheirat seiner Mutter im Jahre 1917 bei seinen Großeltern Schweitzer in Paris auf. 1929, vor seiner Agrégation in Philosophie, lernte er seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir kennen, mit der er eine unkonventionelle Bindung einging, die für viele zu einem emanzipatorischen Vorbild wurde. 1931-1937 war er Gymnasiallehrer in Philosophie in Le Havre und Laon und 1937-1944 in Paris. 1933 Stipendiat des Institut Français in Berlin, wo er sich mit der Philosophie Husserls auseinandersetzte. Am 02.09.1939 wurde er eingezogen und geriet 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er 1941 mit gefälschten Entlassungspapieren entkam. Noch 1943 wurde unter deutscher Besatzung sein erstes Theaterstück «Die Fliegen» aufgeführt; im selben Jahr erschien sein philosophisches Hauptwerk «Das Sein und das Nichts». Unmittelbar nach dem Krieg wurde Sartres Philosophie unter dem journalistischen Schlagwort «Existenzialismus»zu einem modischen Bezugspunkt der Revolte gegen bürgerliche Lebensformen. 1964 lehnte er die Annahme des Nobelpreises ab. Zahlreiche Reisen führten ihn in die USA, die UdSSR, nach China, Haiti, Kuba, Brasilien, Nordafrika, Schwarzafrika, Israel, Japan und in fast alle Länder Europas. Er traf sich mit Roosevelt, Chruschtschow, Mao Tse-tung, Castro, Che Guevara, Tito, Kubitschek, Nasser, Eschkol. Sartre starb am 15.4.1980 in Paris. Auszeichnungen: Prix du Roman populiste für «Le mur» (1940); Nobelpreis für Literatur (1964, abgelehnt); Ehrendoktor der Universität Jerusalem (1976).

2 Warum schreiben?


Jeder hat seine Gründe: für den einen ist die Kunst eine Flucht, für den andren ein Mittel, etwas zu erobern. Aber man kann in eine Einsiedelei, in den Wahnsinn, in den Tod fliehen; man kann mit den Waffen etwas erobern. Warum gerade schreiben, durch Schreiben seine Fluchten und seine Eroberungen machen? Weil hinter den verschiedenen Bestrebungen der Autoren eine tiefere und unmittelbarere Wahl steht, die allen gemeinsam ist. Wir werden versuchen, diese Wahl aufzuklären, und wir werden sehen, ob man nicht gerade im Namen ihrer Wahl zu schreiben das Engagement der Schriftsteller verlangen muß.

Jede unserer Wahrnehmungen ist von dem Bewußtsein begleitet, daß die menschliche Realität «enthüllend» ist, das heißt, daß es durch sie Sein «gibt» oder auch daß der Mensch das Mittel ist, durch das die Dinge sich manifestieren; es ist unsere Anwesenheit auf der Welt, die die Beziehungen vervielfacht, wir sind es, die jenen Baum mit jenem Stück Himmel in Beziehung bringen; dank uns enthüllt sich jener seit Jahrtausenden tote Stern, jenes Mondviertel und jener düstere Fluß in der Einheit einer Landschaft; es ist die Schnelligkeit unseres Autos, unseres Flugzeugs, die die großen irdischen Massen organisiert; bei jeder unserer Handlungen offenbart uns die Welt ein neues Gesicht. Aber wenn wir wissen, daß wir die Detektoren des Seins sind, so wissen wir auch, daß wir nicht dessen Produzenten sind. Wenn wir uns von jener Landschaft abwenden, so wird sie ohne Zeugen dahindämmern in ihrer obskuren Permanenz. Zumindest wird sie dahindämmern: niemand ist so verrückt, zu glauben, daß sie sich vernichten wird. Wir sind es, die sich vernichten, und die Erde wird in ihrer Lethargie bleiben, bis ein andres Bewußtsein sie weckt. So verbindet sich unsere innere Gewißheit, «enthüllend» zu sein, mit jener andren, gegenüber dem enthüllten Ding unwesentlich zu sein.

Eines der Hauptmotive des künstlerischen Schaffens ist gewiß das Bedürfnis, uns gegenüber der Welt wesentlich zu fühlen. Wenn ich jenen Aspekt der Felder oder des Meeres, jene Miene, die ich enthüllt habe, auf einer Leinwand, in einer Schrift fixiere, indem ich die Beziehungen straffe, indem ich Ordnung einführe, wo sich keine fand, indem ich der Verschiedenheit der Dinge die Einheit des Geistes aufzwinge, habe ich das Bewußtsein, sie hervorzubringen, das heißt, ich fühle mich gegenüber meiner Schöpfung als wesentlich. Aber diesmal entgeht mir der geschaffene Gegenstand: ich kann nicht gleichzeitig enthüllen und hervorbringen. Die Schöpfung geht gegenüber der schöpferischen Tätigkeit ins Unwesentliche über. Selbst wenn der geschaffene Gegenstand den andren als endgültig erscheint, erscheint er uns zunächst immer als in der Schwebe: wir können jene Linie, jene Färbung, jenes Wort immer noch ändern; so zwingt er sich niemals auf. Ein Malerlehrling fragte seinen Meister: «Wann darf ich mein Gemälde als beendet betrachten?» Und der Meister antwortete: «Wenn du es mit Überraschung wirst betrachten können und dir sagen: Das habe ich gemacht!»

Das heißt soviel wie: niemals. Denn das würde darauf hinauslaufen, sein Werk mit den Augen eines andren zu betrachten und zu enthüllen, was man geschaffen hat. Aber es versteht sich von selbst, daß wir um so weniger das Bewußtsein von dem hervorgebrachten Ding haben, je mehr wir das von unserer produktiven Tätigkeit haben. Geht es um ein Töpferoder ein Zimmererwerk und fabrizieren wir sie nach traditionellen Normen mit Werkzeugen, deren Gebrauch vorgeschrieben ist, so ist es das berühmte Heideggersche «Man», das durch unsere Hände arbeitet. In diesem Fall kann uns das Resultat so fremd erscheinen, daß es in unseren Augen seine Objektivität behält. Aber wenn wir selbst die Regeln der Produktion, die Maße und die Kriterien hervorbringen und wenn unser schöpferischer Elan aus dem tiefsten Innern unseres Herzens kommt, dann finden wir immer nur uns selbst in unserem Werk: wir sind es, die die Gesetze erfunden haben, nach denen wir es beurteilen; es ist unsere Geschichte, unsere Liebe, unsere Heiterkeit, die wir darin wiedererkennen; selbst wenn wir es nur betrachteten und nicht mehr daran rührten, so empfangen wir niemals von ihm jene Heiterkeit oder jene Liebe: wir legen sie hinein; die Resultate, die wir auf der Leinwand oder auf dem Papier erhalten haben, scheinen uns niemals objektiv; wir kennen die Verfahren zu gut, deren Wirkungen sie sind. Diese Verfahren bleiben ein subjektiver Einfall: sie sind wir selbst, unsere Inspiration, unsere List, und wenn wir unser Werk wahrzunehmen versuchen, dann schaffen wir es wieder, wir wiederholen im Geist die Operationen, die es hervorgebracht haben, jeder seiner Aspekte erscheint als ein Resultat. So bietet sich in der Wahrnehmung das Objekt als das Wesentliche und das Subjekt als das Unwesentliche dar; dieses erstrebt die Wesentlichkeit im Schaffen und erhält sie, aber dann ist es das Objekt, das das Unwesentliche wird.

Nirgends ist diese Dialektik offensichtlicher als in der Kunst des Schreibens. Denn der literarische Gegenstand ist ein merkwürdiger Kreisel, der nur in der Bewegung existiert. Um ihn auftauchen zu lassen, bedarf es einer konkreten Handlung, die sich Lektüre nennt, und er dauert nur so lange, wie diese Lektüre dauern kann. Außerhalb ihrer gibt es nur schwarze Striche auf dem Papier. Doch der Schriftsteller kann nicht lesen, was er schreibt, während der Schuster die Schuhe, die er gerade gemacht hat, anziehen kann, wenn sie ihm passen, und der Architekt das Haus bewohnen kann, das er gebaut hat. Beim Lesen sieht man voraus, erwartet man. Man sieht das Ende des Satzes, den folgenden Satz, die Seite danach voraus; man erwartet, daß sie diese Prognosen bestätigen oder widerlegen; die Lektüre setzt sich aus einer Menge von Hypothesen, unterbrochenen Träumen, Hoffnungen und Enttäuschungen zusammen; die Leser sind dem Satz, den sie lesen, immer voraus in einer bloß wahrscheinlichen Zukunft, die teilweise zusammenbricht und sich teilweise festigt, je mehr sie vorankommen, die von einer Seite zur andren zurückweicht und den entschwindenden Horizont des literarischen Gegenstands bildet. Ohne Erwartung, ohne Zukunft, ohne Unkenntnis keine Objektivität. Doch der Vorgang des Schreibens enthält eine implizite Quasi-Lektüre, die die wahre Lektüre unmöglich macht. Wenn sich die Wörter unter der Feder des Autors formen, dann sieht dieser sie zwar, aber er sieht sie nicht wie der Leser, weil er sie kennt, bevor er sie hinschreibt; sein Blick hat nicht die Funktion, durch Anstoßen eingeschlafene Wörter zu wecken, die darauf warten, gelesen zu werden, sondern die Niederschrift der Zeichen zu kontrollieren; das ist im Grunde eine rein regulative Mission, und das Sehen zeigt einem hier nichts, außer kleine Fehler der Hand. Der Schriftsteller sieht weder etwas voraus, noch vermutet er etwas: er entwirft. Es kommt oft vor, daß er auf sich wartet, daß er, wie man sagt, auf die Inspiration wartet. Aber man wartet nicht so auf sich, wie man auf die andren wartet; wenn er zögert, weiß er, daß die Zukunft nicht gemacht ist, daß er selbst sie machen wird, und wenn er noch nicht weiß, was seinem Helden zustoßen wird, so heißt das lediglich, daß er nicht daran gedacht hat, daß er nichts entschieden hat; dann ist die Zukunft eine leere Seite, während die Zukunft des Lesers jene mit Wörtern überladenen zweihundert Seiten sind, die ihn vom Ende trennen. So stößt der Schriftsteller überall nur auf sein Wissen, seinen Willen, seine Entwürfe, kurz, auf sich selbst; er stößt immer nur auf seine eigne Subjektivität, der Gegenstand, den er schafft, ist außer Reichweite, er schafft ihn nicht für ihn. Wenn er sich wiederliest, ist es schon zu spät; sein Satz wird in seinen Augen niemals ganz ein Ding sein. Er geht bis an die Grenzen des Subjektiven, aber ohne es zu überschreiten, er schätzt die Wirkung eines Einfalls, einer Maxime, eines gut plazierten Adjektivs ein; aber das ist die Wirkung, die sie auf andre machen werden; er kann sie abwägen, nicht empfinden. Niemals hat Proust die Homosexualität von Charlus entdeckt, weil er sie beschlossen hatte, noch bevor er mit seinem Buch anfing. Und wenn das Werk eines Tages für seinen Autor einen Schein von Objektivität annimmt, so, weil Jahre vergangen sind, weil er es vergessen hat, weil er nicht mehr drin ist und sicher nicht mehr in der Lage wäre, es zu schreiben. So ging es Rousseau, als er am Ende seines Lebens Du contrat social wiederlas.

Es ist also nicht wahr, daß man für sich selbst schreibt: das wäre das schlimmste Scheitern; wenn man seine Emotionen auf das Papier projiziert, kann man ihnen allenfalls eine matte Verlängerung geben. Die schöpferische Handlung ist nur ein unvollständiger und abstrakter Moment der Produktion eines Werks; wenn der Autor allein existierte, könnte er schreiben, soviel er wollte, niemals würde das Werk als Gegenstand das Licht der Welt erblicken, und er müßte die Feder weglegen oder verzweifeln. Aberder Vorgang des Schreibens schließt den des Lesens ein als sein dialektisches Korrelat, und diese beiden zusammenhängenden Handlungen erfordern zwei verschiedene Handelnde. Die gemeinsame Anstrengung von Autor und Leser wird jenen konkreten und imaginären Gegenstand auftauchen lassen, der das Werk des Geistes ist. Kunst gibt es nur für und durch andre.

Lektüre scheint ja die Synthese aus Wahrnehmen und Schaffen zu sein [1]; sie setzt zugleich die Wesentlichkeit des Subjekts und die des Objekts; das Objekt ist wesentlich, weil es streng transzendent ist, weil es seine eignen Strukturen...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2023
Nachwort Traugott König
Übersetzer Traugott König
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Germanistik
Schlagworte Anmerkungen • Literaturwissenschaft • Neuübersetzung • Politische Literatur • Schlüsselwerk • Schreiben • Standardwerk • Tendenzliteratur
ISBN-10 3-644-01895-2 / 3644018952
ISBN-13 978-3-644-01895-2 / 9783644018952
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