Die Schneetrude (eBook)
194 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-8959-7 (ISBN)
Meike K. Fehrmann, Jahrgang 1977, wohnt in Traunstein und ist Gründungsmitglied des Vereins »Chiemgau-Autoren e.V.«. Ihre Leidenschaft gilt sowohl der Spannungsliteratur als auch gesellschaftlich relevanten Themen wie zum Beispiel dem Klimawandel oder der Suchtprävention. Zu ihren literarischen Vorbildern gehören im Jugendbuchbereich u.a. Michael Ende, Astrid Lindgren und Otfried Preußler. Ihr Jugendroman »Warum Herr Hagebeck sterben muss« wurde als Schullektüre am Annette-Kolb-Gymnasium in Traunstein behandelt und vom Jungen Ensemble Chiemgau als Theaterstück umgesetzt. Neben den bisher sechs veröffentlichten Büchern im Bereich der Belletristik, sind von der Autorin Kurzgeschichten im Rahmen von Literaturwettbewerben sowie in Anthologien der Chiemgau-Autoren erschienen. Meike K. Fehrmann organisiert und leitet seit 2015 jedes Jahr eine viertägige Schreibwerkstatt auf einer Berghütte im Chiemgau, bei der Herausforderungen im literarischen Schaffensprozess diskutiert und aktuelle Schreibprojekte bearbeitet werden. Außerdem hat sie für die Jugendgerichtshilfe Traunstein Leseweisungen für strafffällig gewordene Jugendliche gegeben. Neben der Schreiberei, verdient die Autorin ihr Geld als Mitarbeiterin im Umweltbildungsbereich bei der Biosphärenregion Berchtesgadener Land. Die Idee für das Märchen über die Schneetrude entstand bei einem Projekt mit dem Nationalpark Berchtesgaden.
Die Schneehasen, der Morgenfall und der Gewittersturm
Das Frühstück fiel karg aus. Ein Apfel und eine Scheibe Brot, dazu etwas Wasser. »Wir müssen uns die Vorräte gut einteilen«, sagte Jonas. »Lass uns lieber gleich aufbrechen.« So verließen sie ihren Rastplatz und setzten den Weg fort, bis sie in der Ferne das Rauschen von Wasser hörten.
»Das muss der Morgenfall sein«, stellte Jonas fest, als sie schließlich vor einem gewaltigen Wasserfall standen. Die Wassermassen wälzten sich donnernd durch das Gestein, Gischt sprühte ihnen entgegen. Weiter oben sahen sie, wie das Wasser über den Felsrand schoss.
»Der ist aber ganz schön reißend geworden. Wo kommt denn das ganze Wasser her?« Sie erinnerte sich, dass sie früher schon einmal hier gewesen war. Damals führte der Morgenfall viel weniger Wasser, und man hatte in den Gumpen ein kühles Bad nehmen können. Das war nun unvorstellbar.
»Wir müssen einen anderen Weg finden. Hier können wir nicht weiter,« sagte Jonas.
Doch so sehr sie auch suchten – es gab keinen anderen Weg hinüber in Richtung Gipfel. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als den Fluss zu überqueren. Die Steine waren glitschig, und Sophia und Jonas waren im Nu nass von der Gischt.
»Schau mal.« Jonas deutete auf etwas Weißes, das zwischen den Steinen kauerte.
Drei weiße Hasen saßen dort mit nassem Fell, zitternd vor Kälte und Angst.
»Das eine Häschen ist verletzt«, stellte Sophia fest. »Sieh mal, es blutet am Vorderbein.« Ein Teil des Beinchens schien abgetrennt worden zu sein.
Jonas zog das geblümte Taschentuch, das ihm eines der Kinder vor der Scheune mitgegeben hatte, aus seiner Hosentasche. »Lass mich mal sehen.« Er nahm den Hasen vorsichtig auf seinen Schoß. »Ihr solltet nicht so nah am Wasser sein.« Er verband den Stumpf und streichelte den Schneehasen, bis er zu zittern aufhörte.
»Das ist sehr schön«, flüsterte der Hase. »Hör nicht auf.« Jonas sagte: »Wäre die Welt nicht völlig verrückt geworden, würde ich mich jetzt sehr darüber wundern, dass du mit mir sprichst.«
»Wundere dich ruhig. Wir wundern uns schon lange nicht mehr«, sagte der Hase mit leiser Stimme. »Wir müssen über den Fluss. Dort drüben ist das Leben besser. Dort drüben ist Schnee, so sagt man.«
»Also, ich weiß nicht«, sagte Sophia. »Der Schnee scheint überall zu schmelzen. Wir sind auf dem Weg zur Schneetrude.«
»Oh, zur Schneetrude, ja, da wollen wir auch hin«, wisperte der Hase. »Aber der Strom ist zu reißend. Ich bin mit meinem Pfötchen hängen geblieben. Ein großer Stein ist draufgefallen. Aber jetzt ist es schon besser.«
»Ihr solltet wirklich nicht hier sein«, sagte Sophia. »Geht doch zu Oma Stine. Sie wird sich um euch kümmern.«
Zum Abschied gab Jonas den Hasen eine Möhre aus seinem Rucksack. »Ihr braucht die Stärkung nötiger als wir.«
Die beiden trugen die Hasen noch ein Stück vom Wasser weg und zeigten ihnen die Richtung, in die die drei schließlich davon hoppelten. Dem Häschen mit dem verletzten Bein fiel es sichtlich schwer, mit den anderen mitzuhalten.
»Hoffentlich schaffen sie es bis runter ins Dorf.« Jonas blickte ihnen noch eine Weile nach. Dann näherten sie sich wieder dem Wasserfall, bis die Steine so glitschig wurden, dass sie sehr vorsichtig gehen mussten.
»Nun aber zu uns!«, rief Jonas dem Wasserfall entgegen, als wäre er der Herrscher über das ganze Land und der Wasserfall ein fremder Ritter, den es zu besiegen galt. »Willst du uns nicht durchlassen?« Er hob einen Stock hoch und schwenkte ihn in großem Bogen wie ein Schwert durch die Luft.
»Ich glaube nicht, dass der Wasserfall Ohren hat«, sagte Sophia lachend. »Aber bisher wusste ich ja auch noch nicht, dass Gämsen und Hasen sprechen können.«
»Hör mir gut zu, Morgenfall«, rief Jonas. »Wir kommen jetzt. Egal, wie laut du brüllst! Wir sind unbesiegbar!« Sein Ruf hallte zwischen den Felsen wider und wurde von den tosenden Wassermassen verschluckt. Da rutschte er aus und fiel der Länge nach ins Wasser.
Sophia krümmte sich vor Lachen. »Er hat dich gehört und findet es nicht gut, wie du mit ihm sprichst. Hat dir dein Vater keine Manieren beigebracht?«
»Wäre ich mein Vater, würde ich dem Morgenfall Geld bieten, damit er mich durchlässt. Ich glaube aber nicht, dass der Wasserfall bestechlich ist. Oder ich würde meine Bauarbeiter hochschicken und ihm das Wasser abgraben.« Beim Gedanken an Maschinenmax wurde Jonas plötzlich wütend. »Er hat sich immer nur um sich und sein Geschäft gekümmert. Ich bin ihm völlig egal!« Er rappelte sich hoch und stand pitschnass im Wasser.
Sophia nahm einen Stein und warf ihn gegen die Felsen. Dabei rief sie: »Verdammte Geschäfte!« Jonas sah sie mit großen Augen an.
Sie reichte ihm einen anderen Stein und sagte: »Du bist dran.«
So schleuderten sie einen Stein nach dem anderen gegen die Wassermassen und riefen dabei die schlimmsten Schimpfwörter, die ihnen in den Sinn kamen. Den ganzen Ärger über Maschinenmax und andere Erwachsene, die nichts zur Rettung des Winters beitragen wollten, brüllten sie gegen den Strom, der alles in sich aufnahm, verschluckte und wegspülte, bis den beiden nichts mehr einfiel, weil alles gesagt war. Sophia fühlte sich leicht im Innern und als sie Jonas ansah, sein Lächeln bemerkte, wusste sie, dass es ihm ebenso ging. Die Wut und auch die Angst waren fort. Sie kletterten Schritt für Schritt durch das Flussbett, in das die Wassermassen aus den Gumpen mündeten. Sie wateten durch tiefere Stellen. Das Tosen war so laut, dass sie sich nicht unterhalten konnten, aber es gab für den Moment auch nichts zu sagen. Sie hörten dem Morgenfall einfach zu. Seinem Gurgeln und Brüllen, bis sie endlich das andere Ufer erreichten und erschöpft zu Boden sanken. Es dämmerte bereits und sie suchten sich einen Schlafplatz in einer kleinen Höhle unweit des Wasserfalls. Sie legten ihre nasse Kleidung zum Trocken aus und schliefen fast augenblicklich ein. Das Rauschen war noch zu hören, aber es hatte seine Bedrohlichkeit eingebüßt und war stattdessen nur noch eine Melodie, die von einer Quelle und einem Strom erzählte, ohne die kein Leben im Dorf möglich war.
Am nächsten Morgen setzten die beiden ihren Weg fort. Ihnen taten die Füße weh und der Weg durch den Strom des Morgenfalls hatte blaue Flecken und Schürfwunden hinterlassen, die nun sehr deutlich sichtbar waren. Sophia wäre gerne in der Höhle liegen geblieben, um sich noch etwas auszuruhen, aber Jonas mahnte zum Aufbruch. »Wir haben nur noch wenig Zeit. Ich kann es dir nicht erklären, aber ich habe so eine Unruhe in mir.« Er ließ den Blick über die Landschaft gleiten, die schroffer wurde. »Mir kommt es so vor, als würde uns jemand folgen.«
»Meinst du die Leute aus dem Dorf?«, fragte Sophia.
»Ich weiß es nicht«, sagte Jonas. »Ich habe schlecht geträumt von merkwürdigen Wesen aus Feuer, die nach uns suchen.«
Sophia sah ihn an: »Vielleicht hast du gestern einfach nur zu viel Wasser in die Ohren bekommen.«
»Das wird es sein.« Jonas lachte. Doch sein Lachen klang nicht echt. Auch Sophia hatte die Wesen aus Flammen in ihrem Traum gesehen, sagte aber nichts.
»Manchmal ist es besser, etwas Schreckliches für sich zu behalten«, dachte sie und klopfte Jonas auf die Schulter. Sie setzten ihren Weg fort. Anfangs führte sie ein schmaler Pfad an den Felsen entlang immer weiter nach oben. Es war kein von Menschen gemachter Pfad, sondern einer, der von Gämsen und anderen Tieren genutzt wurde. Der manchmal sehr eng und nahe dem Abhang verlief, sich dann wieder kaum erkennbar weiterschlängelte, aber sie schließlich doch hinauf bis zu einem Felsvorsprung führte, auf dem sie eine Weile ausruhten und ihren Blick in die Ferne schweifen ließen.
»Da hinten braut sich etwas zusammen.« Sophia deutete auf eine dunkle Wolkenfront, die sich ihnen von Westen her näherte.
»Vielleicht zieht es vorbei«, sagte Jonas. »Aber suchen wir uns lieber einen Unterstand.«
Sie kletterten weiter bis zu einer Einbuchtung im Felsen. Es war keine richtige Höhle, sie bot gerade genug Platz, dass die beiden nebeneinandersitzen konnten. Sophia lehnte ihren Kopf an Jonas’ Schulter, und seine Wuschelhaare kitzelten ihr Gesicht.
»Etwas Besseres werden wir nicht finden«, sagte Sophia. »Sieh nur, wie schnell sich die Wolken nähern!«
Die Sonne verfinsterte sich mit einem Mal, als würde es mitten am Tag zu dämmern anfangen. Schwarz und dunkel kam die Front über den Himmel auf sie zugerollt. Es blitzte in der Ferne, und Wind kam auf, der sich sodann in einen unerbittlichen Sturm verwandelte. Das Donnern war ohrenbetäubend, und mit dem Sturm kamen die ersten Regentropfen, die immer mehr wurden, sich in einen kräftigen Regen verwandelten, um...
Erscheint lt. Verlag | 6.12.2023 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-7583-8959-3 / 3758389593 |
ISBN-13 | 978-3-7583-8959-7 / 9783758389597 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 818 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich