Verzaubert vom Dschungel (eBook)
284 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-7991-4 (ISBN)
Valerie Meikle, Künstlerin und Schriftstellerin, Anthropologin und Reisende, wurde 1937 in London geboren. Mit 22 Jahren wanderte sie nach Kolumbien aus. In den Neunzigern lebte sie mit den Indigenen im Dschungel, wo sie lernte, sich in der Wildnis zurechtzufinden. 1993 begab sie sich auf eine Reise in einem Holzkanu durch Amazonien. Ihr einziger Reisebegleiter war Miguel, dessen Zeichnungen dieses Buch illustrieren. Nach ihrer Rückkehr gründete Valerie das Naturreservat Cerca Viva in Leticia, Kolumbien, wo sie bis heute in einer traditionellen, selbst entworfenen Hütte inmitten der Natur lebt. Zwei weitere Hütten vermietet sie an Einheimische und Touristen. Valerie hat zwei Bücher und ein Musikalbum veröffentlicht. Ihre Lebensgeschichte wurde in einem Film dokumentiert.
1 Unter den Secoya-Indianern
Tengo miedo de perder
lo que más es mío mi bienestar no está aquí
aquí en este ciudad
y me da miedo
que de tanto estar aquí
a otros bienestares
vaya adaptar
y perder ese sentimiento
de sencillez,
que a mi mente
no deja descansar
porque la selva es
mi único lugar-hogar.
Ich habe Angst zu verlieren
was am meisten mein ist
mein Wohlergehen
verschwunden
hier in dieser Stadt
und es macht mir Angst
so gefesselt zu sein
gewöhnt
an die Bequemlichkeiten
die Sehnsucht nach Einfachheit
zu verlieren
mein Verstand sucht ruhelos
das einzige Zuhause
den Dschungel
Diego Weiskopf, Dublin 1998
Keine Indianer mehr! Keine Indianer!« Diego, mein elfjähriger Sohn, war unnachgiebig. Miguel, Diego und ich lebten schon seit über vier Jahren unter Indianern. Die letzten anderthalb Jahre verbrachten wir bei den Secoya-Indianern am Fluss Yaricaya, wo mein Sohn lernte, mithilfe einer Harpune zu fischen und mit einem Blasrohr zu jagen. In seinem eigenen ein Meter langen Kanu konnte er geschickt die Windungen und Wendungen des Yaricaya-Flusses bewältigen. Wochenlang würde er mit den Männern des Stammes flussaufwärts von der Siedlung jagen und fischen. Freudestrahlend brachte er die selbst gefangenen Fische oder eine Schildkröte mit nach Hause.
Jetzt wollte er in die Stadt. »Um ein normales Leben zu führen, wie andere Jungs«, weinte er. Wir wussten, dass wir ihn gehen lassen mussten, obwohl es weh tat.
Miguel und ich beschlossen hingegen, mit den Indianern weiterzuleben. Ich dachte, ich wäre damit glücklich, den Rest meines Lebens im Dschungel an der Seite dieser wunderbaren Menschen, der Secoya-Indianer, zu verbringen. Ich liebte das einfache Leben.
In der Fülle der Natur mit Vögeln und wilden Tieren zu leben, sich in der üppigen Vegetation zwischen den alten, riesigen Bäumen, rankenden Lianen und Palmen mit ihren exotischen Früchten und Nüssen frei zu bewegen, in den kristallklaren Gewässern des Yaricaya zu baden, fischen und unsere Kanus zu fahren: All das gab mir das Gefühl, dem Paradies auf Erden sehr nahe zu sein.
Eingetaucht in diesen Lebensstil hatte ich das Gefühl, dass ich nichts von der Außenwelt vermisste. Ganz im Gegenteil – ich begann, mich im Dschungel völlig zu Hause zu fühlen. In den seltenen Fällen, in denen ich Nachrichten von Freunden aus der Außenwelt erhielt, nannten sie mich Brujita de la selva, »die kleine Hexe des Dschungels«. Ich war so in das Leben inmitten wilder Natur verwurzelt, dass es mir vorkam, als würde ich nie wieder zu einer Welt fernab dieser unberührten Schönheit zurückkehren können. In der Tat wurde ich zu der, die man Enmaniguada nennt: »verzaubert vom Dschungel«.
Damals, bei unserem ersten Besuch in einer Secoya-Gemeinde am Fluss Angusilla, hatten wir Walter kennengelernt. Er war ein Kazike, ein Indianerhäuptling aus San Belin am Yaricaya, einem weiteren kleinen Nebenfluss des Putumayo, ebenfalls auf der peruanischen Seite.
Walter lud uns ein, seine Gemeinde zu besuchen und bot uns an, dort zu wohnen. San Belin lag eineinhalb Kanustunden von der Mündung des Putumayo entfernt. Martina und Lucas, die betagten Eltern von Walter, lebten zwanzig Minuten weiter flussaufwärts. Innerhalb von zwei Wochen nach unserer Ankunft bauten uns die Indianer eine Hütte mit Lehmboden, einem Dach aus Palmblättern, Wänden aus Holz der Chonta1-Palme sowie mit einem Podest aus Chonta, welches uns als Schlafzimmer diente. Dort lebten wir nahezu zwei Jahre lang neben den Ältesten der Gemeinde: der Abuela Martina (Großmutter) und dem Abuelo Lukas (Großvater).
Bei den Indianern lernten wir zu paddeln, zu fischen und Casabe zuzubereiten. Casabe ist eine Art Pfannkuchen aus Yuca, dem Wurzelgemüse Maniok, welches als eines der Grundnahrungsmittel von Indianern in den tropischen Regenwaldgebieten gilt.
Früher ging ich mit Martina und Lucas immer wieder in die Chagra, um Yuca auszugraben. Eine Chagra ist eine Lichtung im Dschungel, wo die Indianer Nahrung anbauen. Es ist auch ein Ort für den Liebesakt. Die Indianer glauben, dass Kinder, die bei Tageslicht in der fruchtbaren Chagra gezeugt werden, stark und gesund zur Welt kommen.
Um eine gute, fruchtbare Chagra zu erschaffen, werden große Bäume gefällt und zum Verrotten auf dem Boden zurückgelassen. Nach ein paar schönen, sonnigen Tagen zünden die Indianer das trockene Unterholz zusammen mit Zweigen und kleinen Ästen an. Danach ist der Boden für die Bepflanzung bereit.
Lucas und Martina
Die Aussaat wird gemeinsam vorgenommen. Wie so viele Tätigkeiten der Indianer, hat auch diese ihren Ursprung in einem uralten Ritual: Die Frauen stechen mit dicken, spitzen Stöcken Löcher in den fruchtbaren Boden; dahinter kommen die Männer, die Mais- oder Bohnensamen ausstreuen oder Stecklinge von Yuca oder Zuckerrohr in die Löcher stecken.
Dort, mitten auf der Yuca-Plantage, in der sehr fruchtbaren Chagra von Martina und Lucas, saßen wir oft und schälten die Yuca brava2. Sobald wir zwei Körbe voll hatten, nahmen Martina und ich jeweils einen. Lucas half uns, die schweren Körbe zu heben und das Rindenseil an unsere Stirne zu befestigen. Wir trugen die Körbe rücklings und teils auf unseren Hüften ruhend. Mein Korb war lediglich halb so groß wie der von Abuela Martina. Sie war klein, sodass der Korb voller Yuca auf ihren schmalen Schultern riesig aussah.
Zurück in der Hütte spülten wir die Erde von der Yuca ab und legten das gereinigte Gemüse in ein Kanu. Dann zerkleinerten wir es mithilfe hölzerner Reiben, in die spitze Stücke harter Pfirsichpalme gesteckt waren. So verbrachten wir den Rest des Tages gemeinsam im Kanu bei der Arbeit.
Danach legten wir die zerkleinerte Yuca in ein langes, röhrenförmiges Gerät, welches von Lucas aus geflochtenen Balsastreifen hergestellt und zum Auspressen von Saft verwendet wurde. Der Saft der geriebenen Yuca wurde in einer Schüssel aufgefangen und stundenlang gekocht, bis er seine giftige Substanz verlor. Aus der Brühe bereitet man ein beliebtes Gewürz namens Ají negro, schwarzer Chili.
Das übrig gebliebene und knochentrockene Fruchtfleisch der Yuca wurde anschließend durch ein Sieb gepresst, das ebenfalls von Abuelo Lucas hergestellt wurde. Erst dann konnte es zu Casabes, einer Art Pfannkuchen, verarbeitet werden.
Gewöhnlich gegen ein Uhr nachts begann Martina zu braten. Gebraten wurden die Casabes auf einer Platte aus Ton, die – mangels Steinen – auf drei tönernen Stützen lag. Darunter brannten die ganze Nacht über kleine Holzspäne.
Das Braten war ein sehr sorgfältiger Vorgang. Anfangs stellte ich einige sehr seltsam geformte Casabes her. Martina und Lucas reagierten belustigt, als ich versuchte, die dünnen, perfekt runden und flachen Casabes nachzuahmen, die aus der geschickten Hand von Abuela Martina kamen. Nach zahlreichen nächtlichen Lernversuchen über dem Feuer gelang es mir, schweißgebadet, ein erstes gutgeformtes, flaches, rundes Casabe herzustellen. Martina und Lucas freuten sich mit mir.
Sieben der geriebenen Yuca mit Martina. Im Hintergrund arbeitet Lucas an einem neuen Sieb.
»Ahora con Secoya casando. Jetzt mit Secoya heiraten«, scherzten sie in gebrochenem Spanisch.
Ich erinnere mich an ein sehr hübsches, junges, indigenes Ehepaar. Als wir in Yaricaya ankamen, waren sie beide erst sechzehn Jahre alt und hatten bereits ein zweijähriges Kind. Sie schienen ein sehr glückliches, liebevolles Paar zu sein. Eines Tages kam ich auf die Idee, sie zu fragen, wie sie sich kennen gelernt hatten, und ihre Antwort überraschte mich. Ihre Eltern hatten die Ehe arrangiert.
Unter den Secoya-Indianern schien es wenig oder gar keine sexuelle Freizügigkeit zu geben. Im Gegensatz zu manchen westlichen Geschichten über Indianer, in denen indigene Frauen männlichen Besuchern angeboten werden, galt dies bei den Secoyas nicht als üblich. Vermutlich war dies generell bei Indianern gar nicht der Fall. Die Tatsache, dass Paare sehr früh heiraten, bedeutet, dass ihre Sexualität nicht unterdrückt wird und sich auf eine ruhige, natürliche Weise ohne das Gefühl der Dringlichkeit verwirklichen kann. Hinzu kommt die Sinnlichkeit, die im engen Kontakt mit der Natur gelebt und erlebt wird.
Die Secoya-Indianer haben selten große Familien. Babys werden zwei oder drei Jahre lang gestillt, und in dieser Zeit findet kein Geschlechtsverkehr zwischen dem Paar statt. Martina und Lucas hatten zwei Kinder, obwohl Martina erst vierzehn war, als sie heirateten. Es war herzerwärmend, dieses ältere Paar zu beobachten, wie sie zusammen in einer Hängematte schaukelten, Händchen hielten und spielerisch wie zwei junge Geliebte scherzten.
Ich fand es interessant zu sehen, dass Ehepaare einen Großteil ihrer Zeit miteinander verbringen. Anders als wir in der zivilisierten Welt, wo wir oft viele Arbeitsstunden getrennt voneinander sind, arbeiten die indigenen Paare zusammen, sei es im Haushalt oder aber...
Erscheint lt. Verlag | 4.9.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7578-7991-0 / 3757879910 |
ISBN-13 | 978-3-7578-7991-4 / 9783757879914 |
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