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Die Papiere des Immunen (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
512 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61440-4 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
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Unter den ?Papieren des Immunen? findet sich die Geschichte von einem, der zum eigenen Leichenmahl lädt, neben der Geschichte von einem, der ein Attentat auf ein Wachsfigurenkabinett plant; Puppenmörder und Sünden-Priester; ein Kinderlied wird zum Politikum, es erklingt die Registerarie der Städte. Diese und andere ?Papiere? sind Spiegel und Gegenbilder des Immunen, seiner Interpretationen und Sehnsüchte...

Hugo Loetscher (1929-2009) wurde mit Romanen wie ?Abwässer? und ?Der Immune? zu einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Publizisten. Als Journalist bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA und war Gastdozent an internationalen Universitäten. Hugo Loetscher, der in Zürich lebte, war Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und wurde 1992 mit dem Großen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

ZUGEGEBEN, DIE ROTBRAUNEN FLECKEN auf dem Wecker sind nicht Rost, wie ich behauptete. Im Augenblick, als ich dies sagte, war mir klar, wie leicht es sein wird, mich der Lüge zu überführen – als ob nicht auch die Wahrheit etwas wäre, das wir erfinden.

Aber die beiden Detektive, die meine Wohnung durchsuchten, waren schon von Berufs wegen überzeugt, sie hätten es bei mir mit einem Schwindler zu tun. Insofern kam ich ihnen entgegen, indem ich sie anlog; sie wurden auch gleich umgänglich, als sie merkten, daß ich mich an ihre Spielregeln hielt.

Selbst wenn sie den Nachweis erbringen, daß es Blut ist, was auf dem Uhrengehäuse eingetrocknet ist, sie werden sich wundern, wie wenig ihnen Erkenntnis weiterhilft.

Und daß sie wiederkommen, daran zweifle ich nicht.

Ich kann mir schwer vorstellen, daß sie, die jede Schublade öffneten und soviel an Unterlagen wegtrugen, ausgerechnet diese Papiere übersehen haben sollten. Nachdem die beiden gegangen waren, zog ich mit einem Griff ein erstes Bündel unter dem Stoß Schreibmaschinenblätter hervor. Und ich brauchte auch nicht lange im Papierkorb zu wühlen, bis ich ein weiteres fand. Es scheint, daß das ganze Geheimnis unter unbeschriebenen Seiten und im Papierkorb liegt. Wie dem auch sei, diese Papiere führen eher zum Immunen als die Sicherung von Kratzspuren oder das Abklopfen von Wänden oder das Überprüfen von Alibis.

Ich finde es dennoch merkwürdig, daß sich die beiden trotz ihrer Akribie nicht einmal im Badezimmer umsahen. Jedenfalls fragten sie nicht, warum der Spiegel zerbrochen sei. Es braucht kein Kriminalistenauge, um die Sprünge zu entdecken, die von dem Punkt aus verlaufen, wo der Schlag hintraf. Sie hätten mich zum Beispiel nur auffordern müssen, den rechten Hemdsärmel hochzukrempeln, und sie hätten eine Verletzung entdeckt, über die Auskunft zu geben mich in Verlegenheit gebracht hätte.

Mit unbekümmerter Sicherheit traten die beiden auf; sie können von der Annahme ausgehen, daß es für jeden von uns, der sich in dieser Gesellschaft einzurichten verstanden hat, einen Paragraphen gibt, auf Grund dessen man ihn belangen kann, sobald sich Polizei und Gericht mit ihm ausführlich befassen. Mit Neid habe ich ihnen bei der Arbeit zugeschaut; ich möchte auch einmal so fraglos unterscheiden können zwischen dem, was war, und dem, was möglich ist.

So überraschend der Auftritt der beiden war – unerwartet kamen sie nicht. Ihre Erklärung, aus der Nachbarschaft seien Klagen eingegangen, schien mir dürftig, obwohl – mir fiel gleich die dickliche Blondine ein, die seit Jahren von ihrem Fenster über die Gasse auf unsere Terrasse starrt, mit einem Lächeln, das sie bleicht wie ihr Haar, und deren Lächeln und Haar mit jeder Bleichung dünner werden.

Sicherlich wurde in jener Nacht geschrien. Aber nicht so laut, daß man es draußen hörte. Auch der Wecker, der in meiner Hand losging, läutete zu kurz, als daß man sein Rasseln in einem Nachbarhaus hätte wahrnehmen können. Zudem drehte ich gleich das Radio an, und wenn der Schrei mir bis ins Mark ging, dann nicht, weil er laut oder lang gewesen wäre.

Ich komme nicht vom Gedanken los, daß es Hinweise anderer Art gibt. Ich hege sogar die Vermutung, der Immune selber stecke dahinter.

Der oberste Zettel seiner Papiere ist eine handgeschriebene Notiz: »Suchanzeige. Ich vermisse mich. Für die Auffindung meiner Person wird eine hohe Belohnung in Aussicht gestellt.« Der Zusatz »Um schonendes Anhalten wird gebeten« ist durchgestrichen, ein zweites Mal, flüchtiger, hingeschrieben und wieder durchgestrichen. Dann folgt die übliche Formel: »Zweckdienliche Mitteilungen sind erbeten an den nächsten Polizeiposten oder an« – und die Telefonnummer, die dasteht, ist meine.

Sollte das Ganze eine Inszenierung des Immunen sein? Macht er sich lustig über die, denen es tatsächlich gelingt zu verschwinden? Aber es wäre ein Hohn, von dem ich weiß, daß er nicht frei von Bewunderung ist. Oder will der Immune demonstrieren, daß er endlich einer Kurzschlußhandlung fähig war? Daß er zu jener Verzweiflung gefunden hat, um die er mich beneidete, und damit zu einer eigenen Desperatheit gelangte, von der er hofft, daß sie für ihn tödlich verläuft?

Und dies in einem Moment, da sich Leute für ihn interessieren, denen er bisher gleichgültig war. Und nicht nur gleichgültig. Wir waren es gewohnt, daß Leute, kaum hörten sie das Wort ›immun‹, die Achseln zuckten und mit gefühlvollem Blick nachsichtig lächelten.

Jetzt aber, jetzt erkundigt sich die Zeitungsverkäuferin vom Kiosk nach ihm und auch der Besitzer des Tabakladens. Der Briefträger will wissen, wie es ihm geht, ebenso der Kellner an der Eckbar, und dies, obwohl sie gewohnt sind, daß der Immune monatelang nicht auftaucht. Sogar die Italienerin, welche das Treppenhaus reinigt, hat seinetwegen ein Gespräch angefangen; eine Telefonistin fragte nach ihm, als ob sie ihn näher kennt; selbst ein Fremder sprach mich auf der Straße an, er habe von einem Immunen gehört.

Jedermann scheint sich plötzlich für einen zu interessieren, dem man nachsagt, er komme immer davon, als möchten alle wissen, wie das einer fertigbringt, als gebe es für alle nur noch ein Problem.

Selbst die beiden, die von Amtes wegen vorsprachen, legten ein doppeldeutiges Verhalten an den Tag. So sehr sie mich als Verdächtigen behandelten, sie sahen in mir gleichzeitig einen Verbündeten, der ihnen die Verbindung zum Immunen vermitteln könnte, von dem sie behaupteten, sie führten ihn im Spitznamenverzeichnis. Ich spürte, sie hätten gerne einen solchen Mann kennengelernt, als könne er ihnen ein Geheimnis preisgeben. Aber gleichzeitig muß einer, dem niemand und nichts etwas anhaben kann, für die beiden ein Ärgernis darstellen. Denn Sinn und Trachten ihrer Arbeit zielt doch dahin, daß ihnen keiner entgeht und niemand entwischt; sie hielten nicht mit dem Verdacht zurück, daß der Vermißte tot sei, vielleicht ermordet; aus ihrer Vermutung sprach unüberhörbar die Hoffnung, daß dies zutreffe.

Der Immune als Toter – eine Vorstellung, über die ich vor einer Woche gelacht hätte. Aber die beiden Beamten scheinen aus purem Mißverständnis näher an die Sache heranzukommen – wie tauglich zuweilen eine mangelhafte Vorstellungsgabe sein kann.

Es entspricht durchaus ihrer Logik: Wenn schon, bin ich es, der die Leiche des Immunen identifizieren könnte. Ich wäre selber neugierig, was für ein Gesicht der Immune aufsetzt, wenn er stirbt, oder, wie er noch früher gesagt hätte, wenn er das Sterben durchspielt – er, der so viele Erfahrungen in Simulatoren machte.

Ich vermute, er würde gesichtslos sterben, so daß auch die Identitätskarte, die er bei sich trägt, nicht weiterhülfe, sofern er überhaupt eine bei sich hat, wobei es immer noch darauf ankommt, auf welchen Namen der Ausweis gerade lautet. Jedenfalls müßte der Name, unter dem man ihn findet, nicht unbedingt der sein, der auf dem Totenschein eingetragen wird, und dieser noch lange nicht derjenige, der auf dem Grabstein stünde, selbst wenn dieser der meine wäre.

Es hätte mich längst stutzig machen müssen, daß der Immune in letzter Zeit ein geradezu praktisches Interesse dafür bekundete, wie man das mache: sterben. Er wollte sogar wissen, ob es Do-it-yourself-Kurse dafür gibt. Wie sehr dies nicht eine zufällige Neugierde war, wird mir jetzt beim Durchblättern dieser Papiere klar. Da steht auf einer der ersten Seiten schon die Frage, ob es unvermeidlich ist, daß einem Toten das Kinn herunterfällt.

Sie suchen den Immunen. Ich frage mich, wie sie einen finden wollen, der von sich sagte, er könne am schrecklichsten Ort der Welt untertauchen, nämlich im Kopf eines Menschen.

Sie erwarten von mir Auskunft. Aber wenn jemand auf Informationen angewiesen ist, bin ich es selber. Wie soll ich weiterhelfen, der ich nicht einmal weiß, ob es weitergeht?

Was blieb, sind Papiere. Für den Moment halte ich mich daran. Ich werde sie durchgehen, so rasch als möglich. Die Zeit auch nutzen, um sie gegebenenfalls verschwinden lassen zu können.

Und doch, diese Papiere kommen mir wie ein Lebenszeichen des Immunen vor, wobei ich gleich auflache, wenn ich im Zusammenhang mit ihm noch von Zeichen rede, die fürs Leben stehen. Oder soll ich sie als Abschiedspapiere nehmen, auch wenn ich nicht wüßte, wer von wem Abschied nimmt und wovon.

Und dies nach über fünfzig Jahren, die wir zusammen verbrachten, eine Zeit, die in so vielen Fällen für ein Leben ausreichen muß.

Natürlich hatte ich mich bei Gelegenheit zur Bemerkung hinreißen lassen, der Immune möge verschwinden. Er hatte darauf jeweils lächelnd reagiert: Ich erwecke den Eindruck, als könnte ich den Leuten mit einem Federstrich den Kopf abschlagen. Träumerisch fügte er hinzu: Vielleicht bringen wir es einmal soweit, daß sich der eine vom andern befreit, indem er die Korrekturtaste drückt.

Aber der Immune wußte, daß meine Verwünschung ebenso ernst zu nehmen war, wie wenn ich jeweils vorschlug, mein biographisches Experiment vorzeitig und freiwillig abzubrechen und es bei den bisherigen Erfahrungen bewenden zu lassen. Nach jedem solchen Ausbruch hat es mich hinterher immer noch gegeben, wie es mich auch jetzt noch gibt, vorläufig mindestens.

Vor mir aber liegen nicht nur die Papiere des Immunen, sondern ein paar Zeichnungen, die ein Kind verfertigt hat: Es hat einen Büffel gezeichnet und ein Haus auf Pfählen, wie man eben in seinem Dorf baut, und mit einigen Vierecken hat es Reisfelder abgesteckt und ein paar Worte hingekritzelt, in einer Schrift, die ich nicht lesen kann.

Wegen dieses Kindes sind wir aneinander geraten. Aber ich weiß...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Attentat • Fiktion • gegenbilder • Leichenmahl • Puppenmörder • Roman • Sehnsüchte • Wachsfigurenkabinett • Wirklichkeit
ISBN-10 3-257-61440-3 / 3257614403
ISBN-13 978-3-257-61440-4 / 9783257614404
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