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Der predigende Hahn (eBook)

Das literarisch-moralische Nutztier
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
376 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61435-0 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
6,99 inkl. MwSt
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Nicht nur für seine körperlichen Bedürfnisse nutzt der Mensch die Tiere: ohne die Tiere gäbe es Literatur und Malerei so, wie wir sie kennen, nicht. Man denke nur an Kafka und den Käfer... Mit bewundernswerter Leichtigkeit erzählt Hugo Loetscher aus der wundersamen Welt der vermenschlichten Tiere und ihrer vertierten Schöpfer. Illustriert mit berühmten Tierdarstellungen aus der Kunstgeschichte.

Hugo Loetscher (1929-2009) wurde mit Romanen wie ?Abwässer? und ?Der Immune? zu einem der bekanntesten Schweizer Schriftsteller und Publizisten. Als Journalist bereiste er regelmäßig Lateinamerika, Südostasien und die USA und war Gastdozent an internationalen Universitäten. Hugo Loetscher, der in Zürich lebte, war Mitglied der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung und wurde 1992 mit dem Großen Schiller-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet.

Dank der Vermenschlichung benahmen sich die Tiere wie vernunftbegabte Wesen, und sei es nur, daß sie zu lügen begannen.

Ein anonymer chinesischer Autor aus dem vierten Jahrhundert kennt in seiner Heimat eine wundersame Region, die Südwestwildnis. Dort wächst das Zuckerrohr bis dreihundert Meter, und dort lebt das »liegende Tier«, einem Riesen-Kaninchen nicht unähnlich. Wenn dieses »West« sagt, meint es »Ost«, sagt es »schlecht«, meint es »gut«. Sein Fleisch ist köstlich, wer davon genießt, kann nur noch lügen. Es sollen nicht zuletzt Politiker sein, die auf solche Delikatessen versessen sind.

Nachdem die Tiere einmal draufgekommen waren, daß ein Vokabular als Mimikri schützt und die Grammatik den Hakenschlag erlaubt, probierten sie das Lügen aus. Angefangen beim Aufschneiden und Flunkern.

Da hängt sich ein Esel ein Löwenfell um und versucht die Tierwelt mit seinem Gebrüll zu erschrecken, er verrät sich mit »IA-IA«. Und ein Affe trumpft vor einem Delphin auf, indem er sich der Bekanntschaft mit Piräus rühmt, weil er annimmt, was in Wirklichkeit ein Hafen ist, sei ein Mensch.

Einzelne übten sich darin, aus purer Boshaftigkeit mit Lust an Schadenfreude die Unwahrheit zu sagen. Wie die Ziege, von der die Brüder Grimm berichten. Auf der Wiese stöhnt sie: »Ich bin satt/ich mag kein Blatt«; zuhause jedoch meckert sie, sie habe nichts zu fressen gekriegt, so daß der Vater, ein braver Schneider, einen Sohn nach dem andern verjagt, bis die Ziege dem Vater den gleichen Streich besorgt.

Vor lauter Erfinden wurde das Tier zum erzählenden Poeten, die Literatur als Notlüge benutzend. Das jedenfalls tat in Seldwyla das Kätzchen, das Gottfried Keller »Spiegel« nannte. Diese Katze hängte ihrer verstorbenen Herrin eine Affäre an: die habe ihre Liebe gerade dadurch verloren, indem sie den Geliebten auf die Probe stellte, geblieben sei ein Geldschatz. Dessen Versteck verrät Spiegel an den Hexenmeister, dem er ansonsten laut Vertrag seinen Schmer, d.h. sein Fett, überlassen müßte. Das Kätzchen lügt mit solcher Anschaulichkeit miau, daß ihm das Fell nicht abgezogen wird.

Als vernunftbegabte Wesen logen die Tiere nicht nur, sie bekundeten auch Absicht und Wille, ihr Zusammenleben zu regeln.

Nun organisieren einige Arten schon von Natur aus ihr Kollektiv, daß man angesichts der Arbeitsteilung und der Hierarchien von einem Staat zu sprechen geneigt ist. Wie bei den Bienen. Die stellten sich ohne Zögern ein, als John Day 1608 zum ›Parliament of Bees‹ aufbot. »With their proper characters« erscheinen sie: der verachtete Soldat und der verachtete Dichter, der Zechbruder wie die sparsame und die leidenschaftliche Biene, der Wucherer wie der Quacksalber. Unter dem Vorsitz des Prorex Meister Biene diskutieren sie in Versdialogen ihre Taten und ihre Herkunft, ihre Kriege und ihre Sympathien, und am Ende werden die Bösewichte bestraft, die Wespen, die Hummeln und die Drohnen.

Wie der Bienenstock anfällig ist für Korruption, so der Ameisenhaufen. Doch schon tritt der Einzelkämpfer auf. Von einer solchen ›Ant in the Office‹ weiß John Gay 1727 zu berichten, zu der Zeit, als er an der ›Beggar’s Opera‹ arbeitete: eine Ameise versucht in der Ameisenverwaltung Ordnung zu schaffen. Der Autor hält in seinen Fabeln, die er an Prinz William addressiert, gleich anfangs fest: »But then you think my fable bears/allusion too to State affairs./I grant it does.«

Gemeinsame vitale Interessen ergeben sich nicht nur für Ameisen und Bienen, die in einem durchorganisierten Staat ihre Existenz verbringen. Die Vögel, ob einzeln lebend oder im Schwarm, bewiesen einen auffallenden »Bürgersinn« und stellten sich mit Debattierfreude den Forderungen der Zeit, deren Tagesordnung recht unterschiedlich ausfiel.

Im ›Parliament of Fowls‹, über das Geoffrey Chaucer um 1380 ein Traum-Protokoll führte, bevor er sich an die ›Canterbury Tales‹ machte, geht’s den Vögel um nichts Geringeres als um Minne und Sex. Die Vögel versammeln sich an St. Valentin, an dem Tag, an dem jeder gewöhnlich auf Partnersuche geht. Statt loszufliegen, treffen sie sich zu einer Grundsatzdebatte. In der Vollversammlung stehen sich mit den höheren und niedrigeren Vögeln zwei Konzeptionen von Liebesbeziehungen gegenüber. Das Adlerweibchen vertritt in Übereinstimmung mit der christlichen Unterweisung eine unsinnliche Liebe, jedenfalls eine, die vergeistigt ist. Doch meldet sich die Gans zu Wort, eine Vorläuferin des britischen »common sense«: in Fragen der Paarung überlasse man sich am besten ohne große Worte dem Naturtrieb.

Nicht alle Vögel stützen sich aufs Neue Testament, wenn Prinzipielles zur Debatte steht. Die Vögel zum Beispiel nicht, die Attar (wohl um 1177) zu einer Versammlung einlud, deren Konferenzsprache persisch war. Farid ud-Din Attar, einer Familie von Parfumherstellern entstammend, soll einen Großteil seiner Verse in seinem Drugstore verfaßt haben. Als Sufi, als Mystiker, der seinen eigenen Weg zu Gott sucht, kam er unvermeidlich in Konflikt mit der Orthodoxie, in seinem Falle der islamischen.

Aus aller Welt folgten die Vögel seinem Aufruf. Es war nicht das erste Mal, daß diese sich einen König wünschten. Als es in der griechischen Antike schon einmal so weit war, putzten sich alle Vögel heraus für ein kandidatenwürdiges Erscheinungsbild. Die Krähe hingegen stahl den andern Federn und präsentierte sich bunter als alle Konkurrentinnen und Konkurrenten zusammen, die Wahlplakate am eignen Leib tragend. Beinahe hätte die Krähe die Zustimmung der obersten Instanz, des Olymps, erlangt. Doch die Vögel pickten der Krähe die fremden Federn weg, mit denen die sich geschmückt hatte; in alter Häßlichkeit hatte sie abzudanken, ehe sie gewählt worden war. Bei diesem Skandal handelte es sich nicht im strengen Sinne um eine Wahl, sondern um ein Vorschlagsrecht. An Zeus hatten sich auch die Frösche gewandt, als sie sich einen König wünschten. Der Göttervater warf ihnen ein Stück Holz in den Teich, das sie erschreckte, aber das sie nicht als Herrscher akzeptierten, daher forderten sie einen andern König, worauf Zeus ihnen den Storch schickte. Doch kam es daneben zu durchaus veritablen Wahlen mit Propagandareden und Stimmenzählen, wie zu jener Wahlversammlung, an welcher der Affe zum König gewählt wurde. Der Primat siegte, weil er am »schönsten tanzte«; man muß das griechische »sehr gut« tanzen zeitgemäß übersetzen mit »telegen«.

Den Vögeln, die im zwölften Jahrhundert dem Aufruf des Persers folgten, wird Überraschendes kundgetan. Der Wiedehopf, durch den der Autor spricht, verkündet, daß nur ein Kandidat in Frage kommt: Simurgh hinter den sieben Tälern. Die Reise dorthin ist beschwerlich. Attar selber hatte als junger Mann seine Heimatstadt Nishapur verlassen und war auf religiöse Wanderschaft gegangen. In seinem ›Buch der Leiden‹ macht sich die Seele auf zum »Meer der Seelen«. Als Attar Heiligen-Biographien zusammenstellte, berief er sich neben dem Koran und anderen überlieferten Schriften auch auf die mündlichen Weisheiten von Wanderpredigern – der Ratsuchende, der Rat auf Wanderschaft sucht.

In Aussicht eines mühsamen Fluges erfinden die Vögel Ausreden, »jeder nach seiner Art«: Warum sollte der Lämmergeier einen König begehren, da er als Beherrscher sich selber genügt, und weshalb sollte der Falke seinen irdischen König aufgeben, dem er dient und der für ihn sorgt. Das Rebhuhn verzichtet nicht auf den Berg, in dem Edelsteine verborgen, und der Uhu nicht auf die Ruinen, in denen Schätze vergraben sind. Die Ente gibt ihr Element, das Wasser, nicht auf, und der Reiher nicht die Lagune, wo er zuhause ist. Der Pfau tauscht sein irdisches Paradies nicht gegen ein himmlisches, und der Papagei sehnt sich nach Unsterblichkeit und nicht nach Gott. Die Nachtigall trennt sich nicht von der Rose, die sie liebt, und der Sperling meint mit Kleinmut, eine solche Reise übersteige seine Kräfte.

Nach einem Hin und Her von Vorbehalten brechen die Vögel auf. Da sie eine allegorische Reise antreten, tragen die Täler symbolische Namen: Vom »Tal der Suche« geht es zu dem der »Liebe« und dem der »Erkenntnis«, dahinter liegen die Täler der »Einheit« und der »Verwirrung«, bis sie ins »Tal der Selbstaufgabe und Entsagung« gelangen. Bei jedem dieser Täler melden Vögel Bedenken an. Und jedesmal antwortet ihnen der Wiedehopf mit Geschichten und Anekdoten. Für einmal werden nicht dem Menschen Tiergeschichten zur Belehrung geboten, sondern den Tieren Menschengeschichten als besinnliche Beispiele vorgeführt. Dabei kommt Attar nicht ohne das Paradox aus, das sich einstellt, wenn Unsagbares gesagt werden soll: »Blind sahen sie sich, und sie hörten sich mit tauben Ohren.«

»Am Ende kam nur ein kleiner Teil dieser großen Gesellschaft am erhabenen Ort an. Von diesen Tausenden von Vögeln waren fast alle verschwunden. Viele waren im Ozean verloren gegangen, andere waren vom Durst gequält auf den Gipfeln der hohen Berge umgekommen; wieder andern hatte das Feuer der Sonne die Flügel verbrannt und das Herz ausgetrocknet; andere wurden von Tigern und Panthern verschlungen. Manche starben vor Erschöpfung in der Wüste und der Wildnis, ihre Lippen ausgedörrt und ihre Körper von der Hitze besiegt. Manche wurden verrückt und töteten einander wegen eines Gerstenkorns. Andere, durch die Leiden und Anstrengungen der Reise geschwächt, fielen auf der Straße nieder, unfähig weiterzugehen; einige, verwirrt von den Dingen, die sie unterwegs sahen, blieben bestürzt stehen, wo sie waren, und viele, die aus Neugierde oder zum Vergnügen sich auf diese Reise begeben hatten,...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2023
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Käfer • Kafka • Kunst • Kunstgeschichte • Literatur • Literaturgeschichte • Malerei • Metapher • Motiv • Stoff • Thema • Tier • Tierdarstellungen
ISBN-10 3-257-61435-7 / 3257614357
ISBN-13 978-3-257-61435-0 / 9783257614350
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