Geschichte der Kulturwissenschaft (eBook)

Vom Gilgamesch-Epos bis zur Kulturpoetik
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2023 | 1. Auflage
251 Seiten
UTB (Verlag)
978-3-8463-6096-5 (ISBN)

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Geschichte der Kulturwissenschaft -  Gerhard Katschnig
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Kultur ist jene grundlegende und umfassende anthropologische Konstante, die den Menschen als sich selbst und die Welt als solche erfahrbar macht. Das vorliegende Buch beschreibt dieses weite Feld anhand von entscheidenden historischen Semantiken, Kulturrevolutionen, kulturkritischen Zeitdiagnosen und ausgewählten Kulturtheoretikern in einem Überblick von der Antike bis in die Gegenwart.

Dr. Gerhard Katschnig ist Kulturwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Institut für Kulturanalyse an der Universität Klagenfurt. Er forscht und publiziert zu kulturphilosophischen und kulturgeschichtlichen Themen der frühen Neuzeit.

Dr. Gerhard Katschnig ist Kulturwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Institut für Kulturanalyse an der Universität Klagenfurt. Er forscht und publiziert zu kulturphilosophischen und kulturgeschichtlichen Themen der frühen Neuzeit.

Vorwort
Einleitung oder Krux der Selbstthematisierung
Nun sag', wie hast du's mit der Kulturwissenschaft?
I Ecce homo
a) Gilgamesch und die Anfänge
b) Mythen und wahre Erzählungen
c) Kultur zwischen Strafe, Selbstsetzung und Barbarei
II Glaube und Wissen – Imperium und Sacerdotium
a) Christentum und Mönchskultur im Westen
b) Organisiertes Wissen und Kulturtransfer
c) Von neuen Glaubensformen zu ersten Anklängen volkssprachlicher Dichtung
III Zwischen Humanismus und Renaissance
a) Ad fontes
b) Buchdruck, Selbstfindung und Bildungsbedürfnis
c) Florentinische Selbstbilder der Renaissance
IV Von unbekannten Welten bis zum Verstehen der eigenen Geschichte
a) Neue Alteritätserfahrungen
b) Anfänge institutionalisierter (natur-)wissenschaftlicher Forschung
c) Souverän der eigenen Existenz
V Historizität: von den Universalgeschichten zur Kulturgeschichtsschreibung
a) Von den Utopien zu den Universalgeschichten
b) Kultur und Selbsterkenntnis
c) Kultur und Geschichte
VI Genuss und Kritik im Zeitalter der Aufklärung
a) Kulturgenuss
b) Kultur als Verderbnis
c) Kompensation durch Kunst
VII Kulturphilosophie – zwischen Industrialisierung und Naturwissenschaft
a) Industrie – Technik – Kunst
b) Naturwissenschaft – Geisteswissenschaft – Kulturwissenschaft
c) Der Preis der Kultur
VIII Vom Pessimismus zum Kompromiss
a) Objektivität und Gegenstand der Kulturwissenschaft
b) Kaffeehaus und Elendsviertel: Wien um 1900
c) Kultur zwischen Heuchelei und Kompromiss
IX Der Weg in die Internationalisierung
a) Kulturwissenschaftliche Institutionalisierung
b) Widerstand zwischen Faschismus und Antisemitismus
c) Kultur als Protest
Ausblick – Kulturwissenschaft heute
a) Perspektiven kulturwissenschaftlicher Forschung
b) Was heißt und zu welchem Ende studiert man Kulturwissenschaft?
Abbildungsnachweis
Literaturverzeichnis
Personenregister

I Ecce homo


a) Gilgamesch und die Anfänge


Die Kulturwissenschaft ist ein vergleichsweise junges Universitätsfach, doch setzen die Ursprünge ihrer Forschungstradition am Beginn der Menschwerdung an. Die Anfänge des reflektierenden Existierens streifen am Horizont der Kulturbedingtheit des Menschen. Dieser gehört zu den Primaten und ist aus ihnen hervorgegangen – zugleich ist er von Natur aus ein Kulturwesen. Die Rekonstruktion der Anfänge dieser Kultur ist eine Geschichte der Formen des menschlichen Verstandes und seiner handelnden Erscheinungen in den beiden wesentlichsten Stützen (prä-)historischer Nachvollziehbarkeit: Materialität und Überlieferung. Da das menschliche Maß der Vorstellungskraft für einen Zeitraum von Millionen von Jahren aber die Grenzen der Referenzialität erreicht, interessieren hier weniger die konstruierten Stadien und Übergänge der frühen Hominiden bis zum Homo sapiens, sondern ausgewählte Kulturformen und Sinnkonzepte, welche das ursprünglich willkürliche Ankommen in der Wildnis des Seins mit der Frage konfrontierten, wer der Mensch ist und wie er leben soll. Was wir von der Entwicklung dieses Verhältnisses des Menschen zum eigenen Sein wissen, erschließt sich uns entweder aus seinen sterblichen Überresten oder aus den Elementen der materialen Kultur – beides ist zwar weltweit, aber lediglich in Bruchstücken vorhanden, die keine detaillierten Rückschlüsse auf die Struktur und Komplexität früher Gesellschaften, die man als Entwicklungslinie deuten könnte, zulassen. Bestenfalls kann auf eine Bearbeitung sowie Optimierung der unmittelbaren Umgebung geschlossen werden. Diese ältesten menschlichen Spuren erinnern dabei an die durch Samuel Johnson überlieferte Definition Benjamin Franklins – der Mensch als „a tool-making animal“ – und deuten auf Kulturgüter zur Existenzsicherung innerhalb der Anfordernisse der segmentierten Gesellschaften als Jäger-und-Sammler-Kulturen.

Da sich der Mensch durch seine natürlichen Anlagen trotz Gemeinschaftsstruktur in der Umwelt nur mäßig behaupten konnte, war er auf materiale Kompensationen angewiesen, die er selbst erfand: Technik (τέχνη). Der zentrale Unterschied zu den Menschenaffen, die den Gebrauch von Technik ebenso kannten, liegt in der Qualität des Planungsvermögens begründet. Werkzeuge, Waffen und der zunächst wahrscheinlich zufällige, später gezielte Gebrauch des Feuers ermöglichten Ersatz, Entlastung und Überbietung menschlicher Fertigkeiten, um die Vorgaben der Natur besser und anders zu nutzen, als es die biologische Ausstattung des Menschen erlaubt hätte. Die erzwungene Flexibilität barg eine gehaltvolle Horizonterweiterung in sich: Vom Feuersteinsplitter über den Städtebau bis zum Smartphone begann sich zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten das Maß einer Instrumentalisierung der Natur zu entwickeln, das den Menschen in die planbare Geschichte seiner selbst eintreten ließ – aus Naturräumen wurden Kulturräume.

Während der Gebrauch von Werkzeug und Feuer die Existenzsicherung verbürgte, bildeten sich mit den komplexer werdenden Gemeinschaftsstrukturen zwischen Ackerbau und Viehzucht erweiterte Formen von Technik, die durch ihren potenziellen Selbstbezug als Kulturtechniken der Selbstthematisierung und der Identitätsbildung fungierten: komplexe Sprache, Ich-Bewusstsein und Religiosität. Gegenüber der zunächst mimetischen Mitteilung über Gebärden und der einfachen Ausdrucksweise durch spontane Artikulationen ließ die Weiterentwicklung der Sprache dem Menschen die Wahrnehmung seiner Welt benennen. Dadurch wurde eine geistige Auseinandersetzung forciert, die sich in zweierlei Hinsicht fundamental vom Verhalten des Tiers unterscheidet: Einerseits wurde durch die Möglichkeit, Vergangenes mitzuteilen und über Zukünftiges zu diskutieren, das Haften am anschaulich Gegenwärtigen überwunden, andererseits gestattete Sprache die Manipulation der Wahrnehmung. Sprecher wie Hörer verständigen sich über eine gemeinsame Sache und sind nicht länger der Reaktion auf die Umwelt ausgeliefert. Sie referieren vielmehr auf einzelne Gegenstände und Gefühlslagen, die in Raum und Zeit identifiziert werden. Eine derart konzentrierte Kommunikation und Interaktion mit anderen ermöglicht eine Spiegelfunktion (reflexio) im Umgang mit uns selbst und führt gleichsam zur Herausbildung von kultureller Identität, welche die Teilhabe an einer Gruppe sichert. Ob dadurch von anthropomorphen Gottheiten, von Warentausch oder von Gewohnheitsrecht erzählt wird, das zur Voraussetzung für die dauerhafte Bildung von Sippen anzusehen ist – die Funktion bürgt für anthropologische Signifikanz: ohne Sprache kein Mensch.

Damit einher gehen vermutlich erste Formen praktizierter Religiosität, obgleich der Ursprung religiöser Empfindungen älter ist und im Unklaren liegt. Anzeichen für die Beschäftigung mit einem Sinngehalt, der über den rein praktischen Problemhorizont des Überlebens weit hinausgeht, lassen sich Zehntausende von Jahren zurückverfolgen. Sie finden sich einerseits in den Höhlenmalereien und vergleichbaren symbolischen Darstellungen wie in der sogenannten Höhle der Hände (Cueva de las manos) im Südwesten Argentiniens (Abb. 2), deren Abdrücke zum Teil bis zu 9000 Jahre alt sind, andererseits in körperbezogenen Objektivationen nichtsprachlicher Art wie Ritual, Tätowierung und Schmuck, die mit dem Gebrauch von Werkzeug nichts zu tun haben, vielmehr auf ein Verhältnis zur Natur hindeuten, das einer magischen Funktionalität entspricht und ein wesentliches Kommunikationsmedium darstellt.

Cueva de las manos (Höhle der Hände) in Argentinien (ca. 7000 v. Chr.)

Alle uns bekannten archaischen Kulturen haben sich mit der dezidiert menschlichen Kontingenzerfahrung, mit dem Tod des (Mit-)Menschen, auseinandergesetzt. Menschen werden zu Zeugen anderer Menschen, wenn deren Gegenwart aufgehoben wurde, ohne ein untrügliches Wissen darüber zu haben, wohin sie entschwunden sind und was zurückgelassen wurde. Die ältesten verlässlich datierbaren Gräber, welche die Seele als das Lebensende überdauernden Wesenskern andeuten, verweisen auf den wichtigsten und zugleich beunruhigendsten Dialog des Menschen, den er in den Nischen der psychischen Nichtfassbarkeit je führte und je führen wird: zwischen dem Nichts und der Ewigkeit. Reste von Tempelanlagen oder eines als sakral empfundenen Geländes ergänzen die bewussten Bestattungen und weisen als (steinerne) Manifeste der Erinnerung auf einen religiösen Bezugspunkt hin. Nach ihrem indoeuropäischen Wortursprung – *temn-, τέμενος, templum – zeigen sie einen aus der Landschaft ausgesonderten Bereich aus dem antiken Alltag an, der als heiliger Raum zur kultischen Selbstvergewisserung verwendet wurde. Doch den Beginn dieser unterschiedlichen Formen von religiösen Merkmalen verstehen zu wollen, heißt, Handlungen der Menschen in ihrem denkgeschichtlichen Horizont zu erfassen. Publius Statius führt in seiner Thebais (ca. 92 n. Chr.) eine gängige Erklärungsformel an, die zum Topos der bekannten Kulturgeschichten in der frühen Neuzeit wurde: „primus in orbe deos fecit timor – Furcht schuf zuerst auf der Welt die Götter.“ Naturereignisse wie Erdbeben, Blitz und Donner seien als göttliche Machterweise betrachtet worden, vor deren Gewalt und Unberechenbarkeit man sich gefürchtet habe. So sei es die autosuggestiv anregende Furcht vor diesen unerklärlichen Naturschauspielen gewesen, welche die Religion geschaffen habe. Zwar lässt sich damit das religiöse Gefühl verstandesgemäß nicht erschließen, doch expandiert nach Statius der Verlauf von Kultur mit dieser sinnlichen Erfahrung, die dem Menschen die Kräfte der Naturgewalten angstbehaftet ahnen, aber im Zeichen von Strafe und Sühne moralisierend deuten lässt.

Wenn Sprache neben Religion für die kulturelle Entwicklung des Menschen maßgeblich wird, setzt die Schrift den abschließenden Schritt für unser Verständnis früher Kulturen. Gesprochenes in Zeichen aufzubereiten und diese als Bilder bzw. Begriffe mitzuteilen, kann seit dem sechsten vorchristlichen Jahrtausend nachgewiesen werden. An den Stätten der alten Donauzivilisation setzte dieser frühe Gebrauch von Schrift ein, um Kultobjekte wie Tonstatuetten mit rituellen Formeln zu beschriften oder mit Weihinschriften zu versehen. Im Gegensatz zur Assoziierung des Schriftgebrauchs mit religiösen Praktiken dürften am Beginn des dritten Jahrtausends v. Chr. bei den Sumerern im Handelsraum Ägyptens und Mesopotamiens ansteigende Handelstätigkeiten und die Zunahme städtischer Strukturen, die mit administrativen und wirtschaftlichen Drehpunkten erste Formen von Staatlichkeit erkennen ließen, den Anstoß zur Schaffung eines Schriftsystems gegeben haben. Die anfänglich als reine Bilderschrift (piktografisch) verwendete Keilschrift in Mesopotamien und die Hieroglyphenschrift in Ägypten wurden auf Tontafeln, später auf Papyrusrollen verewigt und nur von wenigen ausgewählten Schreibern im Bereich der Tempelwirtschaft beherrscht.

Die mediale Revolution durch die Schrift ist kaum zu überschätzen: Zeichen entwickelten sich zum materialen Korrelat der Sprache, um die Welt zu erfassen. Was Menschen sagten und...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Kunst / Musik / Theater Malerei / Plastik
Schlagworte Antike • Antisemitismus • Aufklärung • Buchdruck • Christentum • Dichtung • Elendsviertel • Faschismus • Florenz • Geisteswissenschaft • Geschichtsschreibung • Gilgamesch-Epos • Gutenberg • Hippiebewegung • Humanismus • Industrialisierung • Internationalisierung • Kaffeehaus • Kultur • Kulturphilosophie • Kulturpoetik • Kulturtheorie • Kulturwissenschaft studieren • Kunst • Lehrbuch • Mönchskultur • Mythen • Naturwissenschaft • Protestkultur • Renaissance • Studentenbewegung • Studium Kulturwissenschaft • Technik • Widerstand • Wien um 1900 • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-8463-6096-1 / 3846360961
ISBN-13 978-3-8463-6096-5 / 9783846360965
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