Die Verweigerung der Wehmut (eBook)
128 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77212-6 (ISBN)
Der Vater ist gestorben, und der Sohn, der sich längst in der Stadt ein Leben aufgebaut hat, kehrt für die Beerdigung in die Berge zurück.
Da liegt der Alte, aufgebahrt, und die Dorfgemeinschaft kommt, sich zu verabschieden. Der Tod ist hier kein Abstraktum, sondern von archaischer Präsenz, ist Gewohnheit und Ereignis zugleich. So wird die Totenwache, die den Alten hinübergeleitet, zum Fest für die Lebenden - da drängt sich alles zum Beten im Zimmer, wird aus dem Speisekeller das Beste hervorgeholt, wo das Mahl sonst sparsam ist, und schnipsen die Männer bald Papierkügelchen nach den Frauen.
Florjan Lipu? lässt die raue Liturgie eines Abschieds aufwallen, der längst vollzogen ist und doch die Schrecken einer kargen Kindheit in den Karawanken aufruft, in die der Zweite Weltkrieg mit unerträglicher Härte sich eingetragen hat. Trauer um den Toten und ein Fest fürs Leben fallen in eins.
Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach (Unterkärnten). Er veröffentlicht auf Slowenisch: Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung, darunter <em>Der Zögling Tja?</em>, übertragen von Peter Handke und Helga Mracnikar. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2018 den Großen Österreichischen Staatspreis und 2019 den Goldenen Verdienstorden der Republik Slowenien.
II
Ein Sauerteig fein erreichtWeiler Neun
Nachdem die Zugleichgekommenen ihre Totengebete erledigt haben, legt sich Stille über die Leute, doch nur für kurze Zeit, denn die Frauen, die Tee und Pogača bringen, um das erschöpfte Gebetsvolk zu stärken, stoßen sie von sich. Lange hatten sie vor der Tür auf den Augenblick gelauert, um das Seligsprechen mit Speisen zu unterbrechen, denn sie müssen den richtigen Augenblick erwischen, und erwischen sie ihn nicht, ist es um ihre Reindlinge geschehen, und seien sie noch so knusprig ausgebacken, mit Fett vermacht und mit zerlassenem Zucker. Wenn sie nicht genau die Zeitbruchteile erwischen, die entstehen, wenn das Zimmer verstummt und sich in großer Eile von der Fron verschnauft, im Zeitraum, während der Vorbeter an der Bahre sich von seinen Knien aufrafft und sein Nachfolger schon hinkriecht an seinen Platz, damit auch er noch seinen Teil in Gang bringt, dann ist es zu spät, und die Frauen können ihre Leckereien für geraume Zeit von der Tür weg wieder dorthin zurücktragen, woher sie sie gebracht haben. Solange das Beten dauert, wird mit Pogača und Tee nicht gelauert, und wenn sie sich auch nur wenig verspäten und der Neue eben erst begonnen hat: niemand und nichts hält ihn mehr auf, nichts kann seine begonnene süße Lust mehr verdrießen, selbst wenn in seinen Ohrmuscheln die Posaunen von Jericho dröhnten, donnernd, so daß die Mauern einzustürzen begännen. Doch die Frauen haben bei so manchem Toten schon gewacht und können mehr als Birnen braten, so daß sie geübt und mit Gehör die Klinke zur richtigen Zeit niederdrücken, um die Versammelten mit Reindlingen und Krügen zu beglücken.
Nun greift jeder nach der Pogača, gebraucht den ganzen Arm von den Fingern bis hinauf zu den Schultern und noch die Brust, den Rock dazu, um den mächtigen Laib zu umfangen und während des Schneidens mit dem Messer darüberzufahren. Jeder schneidet nach seinem Hunger ab, die Mehrheit bemißt über ihren Hunger, noch ein wenig für die Augen und die Gier, jeder hackt seinen Kanten ab und wälzt die ausgebackene Masse weiter auf die Knie seines Nachbarn, wo der um des schöneren Scheines willen noch ein wenig säumt und nicht gleich darüber herfällt, mit einem Lächeln auf den Lippen die Pogačafestlichkeit verlängert, den Reindling noch etwas dreht und wendet und in die richtige Lage bringt, bei der er dann getrost mit dem Messer dreinfahren kann; der eine oder andere stülpt noch ein bißchen Schnaps in den Tee, damit er weder Sauerampfer noch Spülicht trinken muß und ihn die Krümel und Krumen des Ausgebackenen nicht im Hals kitzeln. Die vom Eifer Ausgehungerten schneiden sich Trümmer ab und stopfen sich mit ihnen den Mund, die Angegessenen stecken Bissen in den Mund zum Kosten und damit es ihnen nicht den Schlaf benimmt, doch Satte gibt es keine, jeder wird vom mehrstündigen Wachen beim Toten hungrig gemacht und von Düften allerfeinster Art überwältigt. Jeder muß unbedingt von der Pogača kosten, und erst wenn die ausgebackene Rinde unter seinen Zähnen knuspert, tritt er in die Gemeinschaft des Totenzimmers ein, in das lärmend beruhigende, das dem Haus Linderung spendet und Trost. Eben hatte hier noch Ruhe geherrscht, doch es war die Ruhe vor dem Sturm gewesen, jetzt ist der Sturm da, weil der Alte seine Tage zuendegebracht hat und sich jetzt jeder an ihm seine fetten Finger und Zotten abwischen kann, wenn ihm das Wasser im Mund zusammenrinnt vor Lust auf Pogača.
Ein hustender Mann in seinen Jahren kam, um zu husten, um die Gesellschaft selbst in Augenschein zu nehmen, die in Kürze auch in sein Haus einen Sturmwind leiten wird, die trockenen Knorpel in den Lungen hat er als Beweisstücke mitgebracht, hundert Krankheiten sollen in seinem Körper hausen. Jedes Mal, selten genug, wenn sich dazu eine Gelegenheit ergibt, kommt die Mannsperson und nimmt Aufstellung, für Vergütung tut er seine Fron, nicht für Lohn: wenn es ihn aus seiner Keusche wirft und er zum letzten Mal aufladen muß, werden die hier Anwesenden allesamt seinen Besuch erwidern. Deshalb schleppte er sich auf Stöcken bis zum Haus, plagte sich über Gefälle und Gestein auf dem ausgewaschenen Weg bergauf, um sich ihnen zu zeigen und sich in ihren Sinn einzuprägen, ihnen seinen Zustand zu offenbaren – soweit sei es schon und viel weiter werde es nicht gehen –, um sie selbst in Augenschein zu nehmen, sie sich mit seiner Husterei zu verpflichten und ihre Teilnahme sicherzustellen, sie sich mit Potizen gefügig zu machen, wenn die Reihe an ihm ist. Sie sollen sich im voraus sattessen, denn diesmal gibt es Pogača im Überfluß, und gottweiß, ob das bei ihm auch so sein wird und auf seinem Tisch nicht nur eine niedergedeppschte Karikatur, ein zusammengesackter speckiger Teig liegen wird, den Ofen und Zähne verschmähen. Er kam, um sein Husten zu zeigen; den ganzen letzten Winter habe er schon gehustet, scharfe Stiche in der Brust ertragen, bald aber werde er seine Sorgen und Plagen vergessen haben: gegen Jahresende sollen sie kommen, um noch von seiner Pogača zu kosten, und gut werde sie sein, und wäre sie auch nur ein Potizenabklatsch. Sie sollten doch vorbeischauen, wenn sie die Sense singen hören, beim ersten Trompetenstoß sollten sie herbeieilen, und wenn sie noch nicht da seien, wenn das Backwerk in den Teigtrögen geknetet werde, so dann, wenn sie die Reindlinge aus den Rauchfängen erschnuppern. Lebend sähen sie ihn gewiß zum letzten Mal und würden ihn erst wieder antreffen bei der Pogača in seinem Haus: sofort nach erledigten Totengebeten werden sie sich, ihren Neigungen folgend, ein jeder seinen beiden Nachbarn zuneigen und ihnen nach rechts, nach links ihr letztes Pogačaschneiden mit ihm enthüllen.
Auf dem Land bäckt man Pogača zu Ostern oder wenn ein Toter im Haus ist, und ganz besonders wohlriechend sind die Düfte, die sich im Flur vermischen, wenn sich der Hauch besonderer Art mit dem vermengt, was aus der Totenstube dringt, mit dem Heißen, das aus dem Ofen kommt, und dem Klebrigen aus der Küche. Zwischenhinein dringen noch kühle Lüfte von draußen, aus der Vorratskammer und dem Keller. Wenn im Keller die Zwischentür offensteht, riecht die Luft im Flur nach Most, wenn sie geschlossen ist, nach den Äpfeln und Birnen, die vorne im ersten Keller auf Stellagen liegen. Der Tee und die Pogača kommen zum Toten, zu denen in der Küche kommt das Obst. Aus dem Keller bringt die Hausfrau im Flechtkorb nur das Schönste, und die Gäste greifen brav nach diesem Hungeressen, kauen knacksend, Überbleibsel und Speisereste türmen sich auf dem Teller. Die Hausleute haben Tag für Tag nur faules und wurmstichiges Obst verzehrt, im Frühjahr runzlig und faltig, die Hausfrau hat jede Frucht in die Hand genommen, nach allen Seiten gedreht, die angefaulten für den Verzehr geschieden von den runden und prallen, von solchen mit glatter, gesunder Haut, die so lange auf den Pritschen blieben, bis sich auf ihrer Schale eine anbrüchige Stelle zeigte.
Heute aber ist ein anderes Lied an der Reihe, heute, wo Fremde im Haus sind, bleibt im Keller, was faul und rauh ist, dafür aber fließen oben Milch und Honig. Überall wimmelt es von ihnen, und es ist eine Schande, wie sie in den Flechtkorb langen, einen nach dem anderen leeren, sich mit Früchten vollstopfen und sie halb verzehrt auf den Teller zurücklegen! Die kleinen wollen ihnen nicht schmecken, nur die dicken rutschen ihnen den Hintern hinunter, die Hausleute hingegen würgen an Anbrüchigem, und tagaus, tagein Rüben, Rüben tagein, tagaus! Die schönsten Äpfel werden im Haus die verschlingen, die weder Fleisch noch Fisch sind, alles werden sie verheeren und den Keller leeren! Jeder Ankömmling schlürft, kaum tritt er ins Haus, zuerst das Gemisch aller Gerüche als Kostprobe, für den ersten Hunger, während er sich im Flur verzettelt und den Hausern die Hand schüttelt und wie der Narr im Mandelkalender dasteht, bevor er sich dann mit der Mischung aus Keller und Kammer und Ofen ins Zimmer begibt und ins Vorhaus ein bißchen neues Totenzimmer zieht, und ins Totenzimmer ein bißchen neues Vorhaus. Diesen Düften mengt der Husterer noch ein bißchen Eigenes bei, richtet in seiner Brust das richtige Gemenge aus Eingeweideingredienzien an, fügt noch muffige Stoffe aus Leber, Magen und Darm hinzu und legt ein bißchen von diesem seinem Mief ab unter den Düften.
Das Haus strahlt in die Schwärze über sich, aus allen Hausöffnungen drängt Licht nach draußen, wird...
Erscheint lt. Verlag | 24.9.2023 |
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Übersetzer | Fabjan Hafner |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Beerdigung • Beerdigungsriten • Bergliteratur • Bibliothek Suhrkamp 1533 • BS 1533 • BS1533 • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Dorfliteratur • Goldener Verdienstorden der Republik Slowenien 2019 • Karawanken • Kärnten • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Österreichischer Staatspreis 2018 • Slowenische Gegenwartsliteratur • Tod • Tod des Vaters |
ISBN-10 | 3-518-77212-0 / 3518772120 |
ISBN-13 | 978-3-518-77212-6 / 9783518772126 |
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