Krokodil im Nacken (eBook)
800 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-75914-6 (ISBN)
Klaus Kordon, geboren 1943 in Berlin, war Transport- und Lagerarbeiter, studierte Volkswirtschaft und unternahm als Exportkaufmann Reisen nach Afrika und Asien, insbesondere nach Indien. Heute lebt er als freischaffender Schriftsteller in Berlin. Kordon, der als »Chronist der deutschen Geschichte« gilt, veröffentlichte neben zahlreichen Kinderbüchern viele historische Romane, darunter den autobiographische Roman Krokodil im Nacken (Deutscher Jugendliteraturpreis; nominiert für den Deutschen Bücherpreis). Viele seiner Bücher wurden mit nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet. Für sein Gesamtwerk erhielt Kordon den Alex-Wedding-Preis der Akademie der Künste zu Berlin und Brandenburg, den Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur und, 2016, den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises. 'Kordon versteht sich als ein Autor, der zuallererst eine Geschichte erzählen möchte. Diese Geschichte gestaltet er poetisch, spannend, aktuell. Sie soll dem Leser Spaß machen. Dies gelingt ihm vor allem wegen seiner feinen Beobachtungsgabe, verbunden mit einem ganz natürlichen Verhältnis zu den von ihm dargestellten, denkenden, fühlenden und handelnden Personen. Er lebt mit ihnen, spricht ihre Sprache, gräbt sie als Außenseiter, als Freunde, als Hilfsbedürftige oder als Helfer, als Leidende, die nicht ohne Hoffnung bleiben, in das Gedächtnis seiner Leser ein.' jugendbuch-magazin
1. Nicht in Amerika
Lenz hatte gehofft, noch vor dem Frühstück geholt zu werden. Seit dem frühen Morgen stand er neben der Tür und lauschte auf Schritte. Er hörte aber nur den Wachposten von Spion zu Spion schlendern und irgendwann auch in seine Zelle spähen. Später vernahm er das Schmatzen von Gummirädern auf Linoleumfußboden. Das Geräusch wurde lauter und lauter, leise Stimmen drangen zu ihm, und er begriff, dass der gummibereifte Wagen, der da offenbar von Zelle zu Zelle geschoben wurde, irgendetwas lieferte. War schon Frühstückszeit?
Der Wagen wurde auch vor seine Zellentür geschoben, die Klappe ging. »Schüssel«, sagte eine Stimme. Ein Gesicht war nicht zu sehen.
Lenz reichte die blaue Plastikschüssel hinaus, und vier dicke, dünn mit Marmelade bestrichene, zu Klappstullen aufeinander gepappte Brotscheiben wurden hineingeworfen.
»Becher.«
Er hielt den weißen Plastikbecher hin und erspähte einen Uniformärmel und eine Hand, die aus einer großen Kanne heißen Muckefuck in den Becher goss. Danach wurde die Klappe wieder geschlossen.
Die Brote rührte Lenz nicht an, von dem Kaffeeersatz, einer schlimm stinkenden Lorke, nahm er nur einen kleinen Schluck. In der vergeblichen Hoffnung, das heiße Getränk würde ihm gut tun. Gleich darauf lauschte er erneut.
Eine Weile war alles still, dann war wieder das Schmatzen der Gummiräder zu hören. Die Frühstücksreste wurden abgeholt.
Die Klappe ging. »Sie haben nichts gegessen?«
»Wie Sie sehen.«
Die Schüssel wurde über einem Plastikeimer ausgekippt, die Klappe geschlossen und der Wagen weitergeschoben, bis die Gummiräder nicht mehr zu hören waren. Nun war wieder alles still. Lenz lehnte sich an die mit beiger Lackfarbe gestrichene Wand und schloss die Augen. Ruhig bleiben! Vielleicht wollen sie das ja gerade, du sollst nervös werden, damit du leichter zu handhaben bist …
Doch dann wurde es plötzlich sehr laut, Schritte hallten, Riegel klirrten, Schlüssel rasselten. Lenz konnte sich nicht mehr beherrschen und begann in der Zelle auf und ab zu rennen, von der Tür zu den Glasziegelsteinen, die das Fenster ersetzten und hinter denen schemenhaft das Gitter zu erkennen war, und zurück. Acht kurze Schritte hin, acht kurze Schritte her. Die berühmten acht Schritte! Langte er an der Tür an, lauschte er jedes Mal. Näherte sich aber jemand seiner Zelle, hörte er schon bald, wie derjenige sich wieder entfernte. Andere Zellentüren wurden geöffnet.
Hatten sie ihn vergessen? Waren sie nicht neugierig auf ihn? War er ein so kleines Licht?
Als dann am späten Vormittag, auf dem Flur war längst Ruhe eingekehrt, sich mit einem Mal doch noch Stiefel seiner Tür näherten, laut krachend erst der obere und dann der untere Riegel zurückgezogen wurde und der Schlüssel ins Schloss fuhr, erschrak Lenz dermaßen, dass er bis ans Ende der Zelle zurückwich.
Es war der Schließer vom Abend zuvor, der die Zelle betrat, der nicht ganz und gar unfreundliche Feldwebel, der ihm Bettwäsche, Haftkleidung, Seife, Handtuch, Zahnpasta, Zahnbürste und das Plastikgeschirr gebracht hatte; ein Pickelgesicht mit noch sehr jungen Augen. Da er seinen Namen nicht kannte, hatte Lenz ihn wegen der vielen roten, teilweise erst frisch ausgedrückten Vulkane und Vulkänchen rund um Nase, Stirn und Kinn »Marsmann« getauft.
Der nur mittelgroße Feldwebel blickte in die Runde, als müsste er sich erst davon überzeugen, dass der Untersuchungshäftling Lenz in der zurückliegenden Nacht nichts Unschickliches angestellt hatte, dann befahl er: »Von nun an gilt: Betritt jemand von der Wachmannschaft den Verwahrraum, haben Sie sich ordnungsgemäß zu melden. Ihre Verwahrraumnummer ist die Hundertzwo, der Raum ist für zwei Häftlinge vorgesehen. Wer von der Tür aus rechts schläft, bekommt die Nummer Eins. Sie haben die linke Pritsche gewählt, also sind Sie die Nummer Hundertzwo-Zwo. Das gilt auch für die Zeit, in der Sie in Einzelhaft sind. Wird also die Tür geöffnet, treten Sie so weit wie möglich zurück, legen die Hände an die Hosennaht und melden sich mit Hundertzwo-Zwo. Haben Sie verstanden?«
Lenz nickte nur.
»Ob Sie verstanden haben?«
»Ja.«
»Wie melden Sie sich?«
»Mit Hundertzwo-Zwo.«
»Gut! Singen, Pfeifen, lautes Sprechen ist laut Verwahrraumordnung verboten. Auch dürfen Sie sich tagsüber nicht auf die Pritsche legen. Das ist erst zur Nachtruhe gestattet. Haben Sie das verstanden?«
»Ja.«
»Raustreten.«
Wie er aus der Zelle zu treten hatte, hatte ihm der Marsmann am Abend zuvor, als er ihn zur Effektenkammer und zur kriminalistischen Erfassung führte, schon beigebracht. Er musste sich links von der Zellentür aufstellen – Gesicht zur Wand, die offenen Hände auf dem Rücken – und warten, bis die Tür verschlossen war. Setzte der jeweilige Schließer sich danach in Bewegung, durfte er ihm, Hände auf dem Rücken, im Abstand von drei Schritten folgen.
Wieder musste Lenz die ihm viel zu weite dunkelblaue, ehemalige Volkspolizistenhose auf dem Rücken festhalten, damit sie nicht bis auf die Knöchel runterrutschte; wieder hatte er das Gefühl, in den ihm viel zu großen, groben Wollsocken, die ihm über die schwarzgelben Filzlatschen hingen, zum Puschenheini degradiert worden zu sein; wieder ging es durch den nur schwach beleuchteten, ebenfalls beige gestrichenen Flur mit den schwarzen Riegeln und Schlosskästen an den grauen Zellentüren links und rechts. Alarmleinen aus Klingeldraht zogen sich in Griffhöhe an den Wänden entlang. Sollte der Schließer oder Läufer, der den Gefangenen führte, angegriffen werden, brauchte er nur danach zu greifen und schon würde ein Rollkommando herbeigestürzt kommen.
»Was erwartet mich denn heute?«
»Seien Se still!«
Das klang zornig. Musste ein Untersuchungsgefangener sich doch denken können, dass auf den Gefängnisfluren nicht gesprochen werden durfte; schon gar nicht in diesem vertraulichen Ton. Hier wurden keine Freundschaften geschlossen, hier wurde verwahrt und verwaltet, ermittelt und bestraft.
»Bleiben Se stehen!«
Die rote Lampe über der Gittertür, hinter der es nach rechts in einen weiteren Zellenflur ging, war Teil einer Ampelanlage; davor, auf dem Linoleumfußboden, war ein roter Stoppstrich aufgemalt. Vor dieser Markierung musste Lenz stehen bleiben und warten, bis der Marsmann die Ampel betätigt hatte und sicher war, dass keine andere Gefangenenzu- oder -rückführung ihren Weg kreuzte. Erst danach ging es durch die Gittertür und hundert Meter weiter in das zwischen den Etagen mit Stahlnetzen und an den Seiten mit Gittern gegen etwaige Suizidversuche abgesicherte Treppenhaus hoch, das Lenz bereits vom Abend zuvor kannte, als man diesen Weg mit ihm gegangen war, um ihm die Fingerabdrücke abzunehmen und von allen Seiten Fotos von ihm zu schießen. Fürs Verbrecheralbum.
Auch im Treppenhaus sorgte sich der Marsmann vor einer zufälligen Begegnung mit einem anderen Pärchen. Immer wieder ließ er einen seiner Schlüssel am Treppengitter entlangschnarren oder rasselte mit dem Schlüsselbund. Ansonsten liefen sie durch ein Totenhaus, überall tiefste Stille.
Zwei Stockwerke höher ging es durch eine schwere Stahltür in einen ebenso stillen, einem Hotelgang ähnelnden Flur hinein. In der Mitte ein roter Läufer, rechts und links hell gestrichene Türen mit schwarzen Ziffern, aber ohne Namensschilder. Vor einer der Türen blieb der Marsmann stehen und wies Lenz an, sich davor wie vor seiner Zellentür aufzustellen: Gesicht zur Tür, Hände auf dem Rücken. Er wartete, bis Lenz die verlangte Position eingenommen hatte, dann klopfte er, schob den Kopf in den Türspalt, flüsterte irgendwas und öffnete die Tür schließlich ganz.
Lenz durfte eintreten und wurde angewiesen, auf dem Hocker in der äußersten Ecke neben der Tür Platz zu nehmen. So blieb zwischen ihm und den beiden Tischen, die...
Erscheint lt. Verlag | 16.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kinder- / Jugendbuch |
ISBN-10 | 3-407-75914-2 / 3407759142 |
ISBN-13 | 978-3-407-75914-6 / 9783407759146 |
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