Neues aus Kaerstrup (eBook)
336 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-4355-7 (ISBN)
Anne M. Weilandt ist 1961 geboren. Die Theologin lebt und arbeitet in Hamburg, verbringt aber schon seit ihrer Kindheit gern Zeit in Dänemark. Die Ideen zu ihren Romanen schöpft sie aus ihren Reiseeindrücken und aus der Beschäftigung mit Dänemarks Kultur und Geschichte.
II
Elsie zog das Leintuch vor dem Stubenfenster beiseite und wandte sich dem Spiegel über dem Handstein zu. Zufrieden betrachtete sie ihr Abbild von allen Seiten. Wie hübsch sich die weiße Seide der feinen Haarschleife von ihren kupferbraunen Locken abhob!
Hans’ Vorwurf kam ihr in den Sinn, ihr schlechtes Gewissen regte sich. Sie wollte ihm mit ihrer Künderei gewiss nicht unrecht tun, versicherte sie ihrem Spiegelbild. Nein, sie hatte nur zu Birgitta gesprochen. An seinem Kummer war allein die vorlaute Ida schuld, die Hans mit ihrer Stichelei bloßgestellt hatte!
Ihr Lächeln kam zurück. Behutsam schob sie die Schleife ein wenig tiefer zwischen ihre Locken, dann trug sie ihr Mittagsbrot zum Sofa an der hinteren Stubenwand neben dem Alkoven. Das hochbeinige Möbel mit dem geblümten Samtbezug und dem geschnitzten Rücken war zusammen mit den beiden Lehnstühlen Mutters größter Schatz gewesen. Um den Samt zu schonen, hatte die Mutter sie unter der Woche nur ausnahmsweise auf dem schönen Sofa sitzen lassen. Doch seit Elsie ihr Mittagsbrot allein verzehren musste, saß sie jeden Tag darauf.
Sie biss von ihrem Schmalzbrot ab und baumelte ein wenig mit den Beinen, während sie nachdenklich zum großen Stubentisch hinübersah. Neben dem Nähkästchen wartete dort der Korb mit den löchrigen Strümpfen, die sie noch zu stopfen hatte. Die Frauen aus dem Dorf hatten der Mutter gelegentlich Flick- und Plättwäsche gebracht. Nun ließen ihnen einige Kundinnen weiterhin kleine Stopfarbeiten zukommen. Der Bruder hatte Elsie erklärt, dass sie für diese Hilfe dankbar sein konnten. Dennoch saß sie nicht gern allein in der stillen Stube, da konnte Jens ihr noch so viele Vorhaltungen machen. Lieber streifte sie draußen umher, derweil der Haufen Strümpfe im Korb wuchs, obwohl sie jeden Abend stopfte.
Sie stellte den Brotteller ab und zählte die Münzen aus ihrer Schürzentasche auf ihre Handfläche. Drei Einer, einen Zweier und ein ganz neues, kupferglänzendes Fünførestück hatte sie diese Woche mit dem Taschentragen verdient, eine leichte Arbeit im Vergleich zu der mühsamen Stopferei. Außerdem konnte sie bei Olesens von ihrem Verdienst Zuckerlutscher und Bismarck Bolcher kaufen. Vom Stopfgeld erhielt sie ja keinen einzigen Øre, denn der Bruder sparte die Einnahmen für sie auf.
Sie ließ die Münzen in ihre Schürzentasche zurückgleiten und sah sehnsüchtig aus dem Fenster. Die Au glitzerte so herrlich im Sonnenschein … Elsie konnte nicht widerstehen, jetzt musste sie erst einmal hinaus. Dafür würde sie heute Abend besonders flink stopfen, um Jens keinen Kummer zu machen!
Sie griff nach ihrem Brot und lief kauend in den Hof. Auf dem Weg zum Hühnerhaus trippelten Agnes und Lise auf sie zu.
»Na, ihr Hübschen«, begrüßte Elsie die beiden goldbraunen Hennen, »wart ihr heute fleißig?«
Sie streckte eine Hand durch die Klappe des Hühnerhauses und tastete behutsam übers Stroh. Meist legte nur eine der Hennen ein Ei, doch an guten Tagen fand sie sogar zwei in der Einstreu. Nun, heute hatten Agnes und Lise anscheinend keine Lust aufs Eierlegen gehabt. Oder hatten sie sich dazu wieder unter die Hecke gesetzt? Elsie wandte sich zur Buchenhecke, die den Hof vom Treidelpfad abgrenzte. Jarl, ihr bunter dänischer Hahn, sah von der Pumpe aufmerksam zu ihr herüber.
Elsie schnalzte ihm beruhigend zu. »Is’ gut, Jarl, lass mich grad’ nachsehen.«
Sie bog die untersten Heckenzweige auseinander. Tatsächlich! Unter den hellgrünen Blättern schimmerte ein makelloses weißes Ei.
»Ach, ihr seid doch die Besten!«, rief sie den beiden Hennen fröhlich zu und trug das Ei in ihrer Schürze zum Hühnerhaus. Vielleicht könnten Jens und sie sich heute Abend ein Zuckerei teilen? Meistens sammelten sie die Eier für ein warmes Gericht, aber manchmal bereitete Jens ihnen auch ein frisches Zuckerei zum Nachtisch zu. Der Bruder liebte die süße Nachspeise genauso sehr wie sie.
Sie streute den Hühnern Mais und Körner hin und füllte ihnen frisches Wasser von der Pumpe in ihre Trinkschale. Während Agnes, Lise und Jarl munter pickten, schloss Elsie sorgfältig die Heckenpforte hinter sich. Die Hühner ließen sich nur schwer wieder einfangen, wenn sie erst einmal auf den Treidelpfad vor der Kate hinausgelaufen waren. Aber an der geschlossenen Pforte würde der Bruder gleich sehen, wie gut sie aufgepasst hatte, wenn er von seiner Arbeit im Stahlwerk nach Hause kam.
Im strahlenden Sonnenschein lief Elsie der Au entgegen. Unten bei den Uferwiesen hatte ihr Farfar früher die Waren für Aabys Kaufleute von kleinen Segelbooten auf flache Treidelkähne umgeladen. Als eines der letzten Schiffe hatte noch der Ewer des Vaters bei der Anlegestelle gelegen. Doch weil Jens kein Fischer sein mochte, hatte er nach Vaters Tod im letzten Herbst ihr Boot fortgegeben und nur die kleine Ruderjolle behalten.
Elsie sah zum Himmel auf. Schäfchenwolken trieben gemächlich über Fluss und Wiesen ins Land hinein. Von irgendwo dort oben sah der Vater nun auf sie herab. Schmerzte es ihn, dass Jens die Elsine nicht behalten hatte? Sie biss sich auf die Lippe. An so einem herrlichen Sommertag wollte sie nicht traurig sein!
Sie verließ den Treidelpfad und streifte querfeldein durch das hohe Gras. Zwischen den sattgrünen Rispen leuchteten rote Wiesenknöpfe und rosafarbene Schafgarben. Elsie blieb stehen und schaute zu, wie sich ein braun getupfter Schmetterling auf einem Wiesenknopf schaukeln ließ. Vom Ufersaum zog der reinliche Duft des Mädesüß über die Wiese. Die Sonne schien warm auf ihr Haar, ein Lufthauch strich sacht über ihr Gesicht. Plötzlich fühlte sie sich so leicht, als wäre sie selbst ein Schmetterling. Beschwingt breitete sie ihre Arme aus und lief das letzte Stück Weg zum Bootshaus hinüber. Dort sah sie gern nach den Netzen und Reusen, die sich noch genau so an den lehmverputzten Wänden entlang spannten, wie der Vater sie nach seinem letzten Fischzug zurückgelassen hatte. Immer wenn sie das Garn berührte, lebte die Erinnerung an die schöne Zeit mit den Eltern wieder auf. Die Mutter und sie waren dem Vater beim Aufhängen und Richten der Netze oft zur Hand gegangen. Sein beifälliges Nicken über ihre Netzknoten war sein schönstes Lob gewesen.
Sie stieß die Schuppentür auf, der Werggeruch der Netze und der erkaltete Rauch aus dem Räucherschrank hingen noch in der Luft. Elsie lächelte. Dieser Geruch hatte auch immer an Vaters Kleidern gehaftet. Sie schaute zum Brennholzstapel neben dem Ofen. Als sie die Wolldecken auf dem Steinboden erblickte, tat ihr Herz vor Freude einen kleinen Sprung.
»Ol’ Jon!«, rief sie strahlend.
»Tag auch, Elsie!«, tönte es vom Bootssteg her.
Sie wandte den Kopf. Der große, schwere Mann kam gemächlich auf sie zu, mit einem Wasserbecher in der Hand. Seine roten Locken leuchteten in der Sonne und die beiden geflochtenen Bartzöpfe unter seinem Kinn schwangen beim Gehen.
Meist hauste Ol’ Jon bei Abel Absalom, dem Wirt des nahe gelegenen Schifferkrugs. Manchmal stritten die beiden, dann packte Ol’ Jon seine Decken zusammen und zog ins Bootshaus hinüber. Der Bruder litt seine Besuche ungern, aber da der Vater ihn geduldet hatte, mochte Jens Ol’ Jon nicht fortweisen.
Elsie hingegen freute sich, wenn Ol’ Jon zu ihnen herüberkam. Er war der Nachfahre eines großen Wikingergeschlechts und kannte viele spannende Geschichten aus alter Zeit. Sollte Jens ihn ruhig einen Lügenbold heißen, sie glaubte Ol’ Jon aufs Wort!
»Erzählst du mir nachher was?«, fragte sie eifrig.
Ol’ Jon schmunzelte. »Gemach, gemach, meine Kleine! Hab wohl ordentlich die Zeit verschlafen«, sagte er mit einem prüfenden Blick zur Sonne, die hoch über dem Südufer der Auwiesen stand.
Elsie schaute auf Ol’ Jons Jacke. Seine Uhrkette hing nicht am Revers. »Du hast deine Uhr wohl wieder bei Abel Absalom gelassen?«, erkundigte sie sich.
Ol’ Jon brummte missfällig. »Der olle Abel hatte gestern ordentlich Oberwasser«, erklärte er. »Und ich vertrag seinen hochfahrenden Ton nun mal nicht. Also hab ich ihm meine Deckeluhr als Pfand für meine Zeche dagelassen und bin fort.« Er reichte Elsie seinen Becher zum Halten hin. »Zeit fürs Frühstück, ich hole uns eine Decke und den Brotsack aus dem Schuppen.«
Für gewöhnlich radelte Ane gern den von mächtigen Hainbuchen gesäumten Treidelpfad an der Au entlang. Doch heute hatte sie keine Freude an der malerischen Szenerie. Immer noch verärgert über Fru Olesens kleinliche Beschwerde, trat sie kräftig in die Pedale. Sich über ein Kind zu beklagen, das seine Eltern entbehrte und viel zu oft auf sich allein gestellt war! Und noch dazu die Lehrerin vorzuschicken, statt ihre Angelegenheit selbst zu regeln! Hoffentlich würde das Märchenbüchlein Elsie über Thomasine Olesens Unfreundlichkeit...
Erscheint lt. Verlag | 3.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
ISBN-10 | 3-7578-4355-X / 375784355X |
ISBN-13 | 978-3-7578-4355-7 / 9783757843557 |
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