Das krisenfeste Kind (eBook)

Lernen für die Welt von morgen
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9645-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das krisenfeste Kind -  Verena Friederike Hasel
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Mit den Methoden von gestern können wir unsere Kinder nicht auf die Welt von morgen vorbereiten. 

Was müssen LehrerInnen und Eltern tun, damit Kinder motiviert sind, Leistung zu bringen, aber auch kritisches Denken erlernen, emotionale Intelligenz entwickeln und ihren Platz in der Welt finden? Die Schulen von heute entscheiden daru?ber, wie unsere Welt morgen aussieht, und ob unsere Kinder gut durch schwierige Zeiten kommen. Ku?nstliche Intelligenz wird immer mehr Aufgaben u?bernehmen, zahlreiche Jobs werden wegfallen, andere neu entstehen. Verena Friederike Hasel widmet sich der Frage, was und wie Kinder im 21. Jahrhundert lernen sollten. Sie fährt an Orte in Finnland und Deutschland, wo die Zukunft schon begonnen hat. Sie erklärt die lernpsychologischen Grundlagen neuer Methoden, räumt mit verbreiteten Missverständnissen auf und entwirft ein sehr konkretes Bild davon, wie Lehrer und Lehrerinnen, Mütter und Väter Fähigkeiten wie Selbstregulation, Eigenverantwortung, Kreativität, Gemeinschaftsgefühl und Kommunikationsfähigkeit am besten fördern. Ein privates und politisches, ein theoretisches und praktisches Buch zu einem Thema, das alle umtreibt, denen Kinder am Herzen liegen.

Verena Friederike Hasel, geboren 1978 in Berlin, ist Psychologin, Drehbuchautorin und Journalistin. Sie war für den Theodor-Wolff-Preis nominiert und erhielt 2018 den Deutschen Reporterpreis. Bei Kein & Aber erschienen die Sachbücher Der tanzende Direktor, Eine Linie ist ein Punkt, der spazieren geht sowie Das krisenfeste Kind. Sie war Co-Initiatorin des #wirfürschule-Hackathon 2021. Mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern lebt sie in Deutschland und Neuseeland.

Vor einiger Zeit war ich abends im Konzerthaus. Ich saß recht weit vorne, konnte die Bühne gut erkennen und hatte alle Musiker:innen deutlich im Blick. Nachdem das Orchester Platz genommen hatte, betrat der Pianist die Bühne. Er wirkte schüchtern und tat mir etwas leid, da er nicht recht zu wissen schien, wo er mit seinen Armen und Beinen hinsollte. Nach einer Weile setzte er sich, weiterhin in sich selbst verknotet.

Doch sobald die Geiger:innen ihre Instrumente ans Kinn hoben und zu spielen begannen, geschah etwas mit ihm. Er schloss die Augen, wie Kinder es tun, wenn man ihnen einen Löffel mit einer besonders köstlichen Speise entgegenstreckt, sein Körper faltete sich auf und ließ sich in die Musik hineinsinken, und seine Arme wirkten nicht mehr wie angeschraubt, sondern bewegten sich hin und her, als seien die Geigentöne, die nun erklangen, ein Tanzpartner, dem man folgen müsse.

Dann hatte er selbst seinen Einsatz, und sein Körper hielt schlagartig inne. Einen Augenblick lang befürchtete ich, dass sich erneut eine Klammer um seinen Körper legen würde, aber stattdessen senkte er seine Hände wie in Zeitlupe auf die Tasten des Konzertflügels und tat das so ehrfürchtig, zärtlich und vorsichtig, dass ich mich wiederum an ein Kind erinnert fühlte, dieses Mal an eines, das die erste Seifenblase seines Lebens sieht, sich ihr behutsam nähert und sie versucht zu berühren, ohne dass sie kaputtgeht.

Als die Tasten des Instruments unter dem sanften Druck seiner Finger nachgaben, zeichnete sich im Gesicht des Pianisten die Verzückung ab, die ein Mensch erleben würde, falls eine Seifenblase einmal nicht zerplatzt. Für einen Moment schloss er die Augen, um sie im nächsten wieder zu öffnen, als müsse er sich vergewissern, dass alles noch da war und er diese Schönheit nicht nur träumte. Dann lächelte er, glitt nicht allein mit den Fingern, sondern dem ganzen Körper übers Klavier, sprang manchmal sogar auf – und war wieder wie ein Kind, dieses Mal wie eines, das vor Begeisterung keine Sekunde still sitzen kann.

Als der Pianist schließlich die letzten Takte spielte, fielen ein paar Tropfen auf die Tasten des Flügels.

Vielleicht war es Schweiß. Vielleicht aber auch Tränen des Glücks.

Ich war gerade auf dem Weg ins Büro, als mich morgens die Nachricht eines Freundes erreichte. »Hast Du Chat GPT probiert? Das ist eine große Sache. Wir erleben möglicherweise den Beginn der Singularität.«

Chat GPT ist ein Computerprogramm, das Sprache nicht nur versteht, sondern selbst erzeugt, sodass man mit ihm kommunizieren kann, als handle es sich um einen Menschen. Singularität bezeichnet den Zeitpunkt, von dem an sich Künstliche Intelligenz alleine weiterentwickeln und stetig dazulernen wird – mit für uns unabsehbaren Folgen.

Kaum war ich im Büro angekommen, testete ich Chat GPT, indem ich den Bot aufforderte, ein Pro und Kontra zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu verfassen, eine lustige Kurzgeschichte zu schreiben und auf eine Textnachricht zu antworten, die mir eine Freundin geschickt hatte. Der Abtreibungsargumentation fehlten konkrete Zahlen und Fakten, die Geschichte brachte mich nicht zum Lachen, und meine Freundin erkannte sofort, dass die Nachricht nicht von mir stammte. Ich war also nicht sonderlich beeindruckt, vielleicht sogar ein bisschen beruhigt, dass der Bot so wenig konnte. Einige Wochen später schickte mir ein Freund ein Gedicht, ebenfalls von Chat GPT verfasst, das sehr gelungen war. Offenbar hatte sich das Programm durch die zahlreichen Interaktionen mit Menschen, die genau wie ich neugierig gewesen waren, sehr verbessert.

Lernende Systeme wie der Chatbot werden unsere Welt extrem verändern. Nach einer Studie der Universität von Oxford ist damit zu rechnen, dass in den USA fast die Hälfte aller Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz vernichtet werden. Vor Kurzem entwickelten Schweizer Forscher deshalb einen Automatisierungs-Risiko-Index für Berufe. Er gibt Auskunft darüber, wie leicht ein Job durch KI zu ersetzen ist. Schon jetzt werden Menschen, die Liebe suchen, von Algorithmen verkuppelt, Computerprogramme erkennen Brustkrebs in Gewebeproben zuverlässiger als Ärzt:innen, und Rechtsroboter sollen für Gerechtigkeit sorgen.

In derselben Woche, in der ich den Chatbot kennenlerne, treffe ich abends in einer Bar eine Freundin, mit der ich DALL-E ausprobiere, ein Programm, das binnen Sekunden Bilder im gewünschten Kunststil produziert. Danach liege ich lange wach. Am nächsten Morgen frage ich meine drei Kinder, ob sie im Unterricht über diese Dinge gesprochen hätten. Womöglich haben sie den Chatbot im Deutschunterricht getestet oder DALL-E in der Kunststunde verwendet? Meine Töchter schütteln die Köpfe. Nein, nichts dergleichen. Sie hatten, so sagen sie mir, »Schule wie immer«.

Und diese menschliche Trägheit ist erschreckender als das, was uns durch Künstliche Intelligenz droht.

Wir alle wollen, dass unsere Kinder ein gutes Leben haben.

Wann hören wir also auf, »Schule wie immer« zu machen, und beginnen, ernsthaft darüber nachzudenken, wie man dem Vormarsch der Künstlichen Intelligenz sinnvoll und selbstbewusst begegnet?

Was muss geschehen, damit wir uns eingestehen, dass wir Kinder nicht mit den Methoden von gestern auf die Welt von morgen vorbereiten können?

Auf der Welt gibt es insgesamt mehr als 500 verschiedene Primatenarten. Unter ihnen sind wir Menschen die Einzigen, die einen deutlich abgegrenzten und sehr großen weißen Bereich um die Pupille herum besitzen, die sogenannte Sklera. Dem US-Anthropologen Michael Tomasello zufolge liegt das daran, dass wir unbedingt sehen wollen, was unsere Mitmenschen sehen – und die Sklera es uns ermöglicht, die Blickrichtung einer anderen Person klar zu erkennen. Wissenschaftler sprechen von shared attention. Diese Fähigkeit und dieses Interesse, das uns offenbar innewohnt, ist die Voraussetzung für vieles, was unser Leben und Zusammensein prägt. Ohne shared attention gäbe es keine Empathie, kein Mitgefühl und keinen Perspektivwechsel, und ohne shared attention könnten wir nie voller Freude zusammen mit anderen an einer Sache arbeiten. »Die (…) Grundemotionen – Angst, Freude, Wut – haben wir mit den Affen gemein; die Freude jedoch, etwas (…) zu teilen und gemeinsam zu tun, ist ein menschliches Gefühl«, sagte Tomasello in einem Interview. Hat man mit Kindern zu tun, sollte die Förderung von shared attention, egal ob zu Hause oder in der Schule, eines der großen Lernziele sein, denn eines steht fest: Die Herausforderungen unserer Zeit können wir nur lösen, wenn wir unseren Blick beharrlich in dieselbe Richtung schicken.

Zugleich gibt dieser Fokus auf das Zwischenmenschliche die Antwort darauf, was wir Menschen Künstlicher Intelligenz voraushaben. Die sozioemotionalen Fähigkeiten, die wir besitzen, machen uns viel mehr aus als die Verarbeitungsgeschwindigkeit unseres Hirns – und dieses genuin Menschliche sollten wir in unseren Kindern nähren. Dem World Economic Forum zufolge sind kritisches Denken, Entschlusskraft und Innovationsfreude zentral für die kommenden Jahrzehnte. Ich möchte die Liste gern ergänzen. Um sich durch eine Welt zu navigieren, in der die einzige Sicherheit darin besteht, dass man Unsicherheit akzeptieren muss, benötigen unsere Kinder Verantwortungsbewusstsein, Ambiguitätstoleranz, Fantasie und Vertrauen – sowohl zu anderen als auch zu sich selbst.

In Japan gibt es seit vielen Jahrhunderten die Kunst des Kintsugi. Bekommt eine Schale einen Sprung, oder fällt ein Gefäß zu Boden und zerbricht, setzt man die Scherben unter Verwendung eines speziellen Lacks und pulverisierten Goldes wieder zusammen – Kintsugi, zu Deutsch Goldverbindung, kaschiert die kaputten Stellen also nicht, sondern hebt sie durch das Gold sogar hervor.

Das heutige Leben ist selten aus einem Guss und weist etliche Bruchstellen auf. Das fordert seinen Tribut. Weltweit leidet jedes siebte Kind, das zwischen 10 und 19 Jahren alt ist, an einer psychischen Krankheit, und unter den 15- bis 19-Jährigen ist Selbstmord die vierthäufigste Todesursache. Deshalb müssen wir alles daransetzen, unseren Kindern psychische Stabilität zu vermitteln, sodass sie die Veränderungen und Wechsel, Rückschläge und Richtungswechsel meistern können, mit denen sie um einiges häufiger konfrontiert sein werden als wir in unserem Leben. Falls uns das gelingt und wir Kindern die Überzeugung mitgeben, dass man Brüche nicht verbergen muss und Unvollkommenes besonders leuchten kann, haben wir schon unfassbar viel geschafft.

Nun stehen wir, was die Entwicklung von Kindern betrifft, seit Jahren vor einem großen Paradox. Einerseits belegen inzwischen etliche Studien, dass schon Babys äußerst kompetent sind. Dafür nur ein Beispiel: Versteckt man vor den Augen eines zwölf Monate alten Babys eine Blume und einen Dinosaurier und holt anschließend zwei Dinosaurier hervor, schaut das Kind deutlich länger hin, als wenn man lediglich einen Dinosaurier zutage fördert. Offenbar wundert sich das Kind und versucht zu verstehen, wie aus einem Dinosaurier zwei werden konnten.

Andererseits sind zwei Drittel aller Zehnjährigen auf der Welt nicht in der Lage, eine einfache Geschichte zu lesen, in einem wohlhabenden Land wie Deutschland fehlen einer internationalen Studie zufolge, die 2023 veröffentlicht wurde, jedem vierten Kind in diesem Alter basale Lesekenntnisse, und manche Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Zutrauen...

Erscheint lt. Verlag 15.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Bildungstheorie
Technik
Schlagworte Bildung • Bildungsrankings • Bildungssystem • Chatbot • Classsroom Management • Curriculum • Eigenverantwortung • Finnisches Schulsystem • Finnland • Gemeinschaftsgefühl • Kommunikationsfähigkeit • Kreativität • Lehrerfortbildungen • Lernpsychologie • multidisziplinäre Lernmethoden • Nachhaltigkeit in Bildung • Persönlichkeitsentwicklung • Positive Erziehungsmethoden • Schule der Zukunft • Schulen • Schulsystem • Selbstregulation • Shared attention • Singularität • sozioemotionale Fähigkeiten • verbesserte Unterrichtsmethoden • zeitgemässe Bildung • zukunftsfähiges Bildungssystem
ISBN-10 3-0369-9645-1 / 3036996451
ISBN-13 978-3-0369-9645-5 / 9783036996455
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