Hässlichkeit (eBook)

(Autor)

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2023
224 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-29761-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hässlichkeit - Moshtari Hilal
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Vom Sehen und Gesehenwerden, von Selbstbildern und Selbstzweifeln - Moshtari Hilal schreibt über Hässlichkeit
Dichte Körperbehaarung, braune Zähne, große Nasen: Moshtari Hilal befragt Ideen von Hässlichkeit. In ihrem einzigartigen Buch schreibt sie von Beauty Salons in Kabul als Teil der US-Invasion, von Darwins Evolutionstheorie, von Kim Kardashian und von einem utopischen Ort im Schatten der Nase. Ihre Erkundungen, Analysen und Erinnerungen, ihre Bildzitate und eigenen Zeichnungen führen in jenen innersten Bereich, in dem jedes Selbstverständnis auf dem Prüfstand steht. Warum fürchten wir uns vor dem Hässlichen? Poetisch und berührend, intim und hochpolitisch erzählt Moshtari Hilal von uns allen, wenn sie von den Normen erzählt, mit denen wir uns traktieren.

Moshtari Hilal ist Künstlerin, Kuratorin und Autorin, sie lebt in Hamburg. Sie studierte Islamwissenschaft in Hamburg, Berlin und London mit Schwerpunkt auf Gender und Dekoloniale Studien und ist Mitgründerin des Kollektivs Afghan Visual Arts and History sowie des Rechercheprojekts Curating Through Conflict with Care. Bei Hanser erschien zuletzt 'Hässlichkeit' (2023).

Das Leiden der Nase


Die arme Nase wurde lange Zeit angeklagt.

Bereits während der sogenannten europäischen Renaissance wurde sie verdammt. Fortan sollte jede auffällige Nase an eine Syphilis-Nase erinnern. Angesichts der damals ausgebrochenen sexuell übertragbaren Infektionskrankheit wurde eine solche Nase zum Gleichnis für den Sittenverfall. Die Syphilis-Nase wurde als gerechte Strafe für die Sünden derjenigen verstanden, die sie wie ein Zeichen im Gesicht zu tragen hatten. Die durch die Krankheit oft eingesunkene, zerstörte Nase wurde zum Schreckensbild, dabei hätte sie auch ein Abzeichen jener sein können, die Schlimmeres überlebt hatten. Der Mensch ohne Nase war markiert und wurde verabscheut. Um von der Nase geheilt zu werden, durfte keine Narbe, kein Hinweis auf einen Chirurgen hinterlassen werden. Eine Nase mit einer Narbe war eine ehemalige Syphilis-Nase. Niemand sollte erinnert werden, dass an der Stelle der neuen eine alte Nase gewesen war.

Jacques Joseph war Anfang des 20. Jahrhunderts einer der ersten, aber nicht der einzige Vertreter seiner Disziplin, der eine chirurgische Lösung fand, anders als bei früheren Hauttransplantationen oder äußeren Schnitten sichtbare Narben zu vermeiden. Er dominierte das Feld, denn seine Patientenklientel litt besonders an der Sichtbarkeit ihrer Nasen in Europa. Ihre Nasen wurden als jüdische Nasen oder Hakennasen inspiziert, markiert, identifiziert und gedemütigt. Die Gesellschaft trieb sie in die Arme des Chirurgen, der ihnen Erlösung versprach.

Der deutsche Antisemitismus war besessen davon, eine Fremdheit der Jüd*innen zu beweisen. Einige Rassenideologen des späten 19. Jahrhunderts versuchten, anthropologische Belege für die nicht-europäische Abstammung von Jüd*innen zu sammeln, um ihren Ausschluss aus der »weißen Rasse« und damit nordischen Bevölkerung zu begründen. Ethnologen und Mediziner verglichen entsprechend die Hautfarben, Haarfarben und -strukturen sowie die Nasenformen von Jüd*innen, um sie in die Nähe jener »Rassen« zu verdrängen, die im kolonialen Weltbild bereits als minderwertig etabliert waren. Ein besonderes Interesse bei alledem galt der Nase. Der deutsche Rassentheoretiker Hans F. K. Günther, der die Rassenideologie der Nationalsozialisten maßgeblich beeinflusste, unterschied sogar in schwarze und weiße Jüd*innen aufgrund vermeintlich flacher oder langer Nasen. Die Naturwissenschaftler studierten die Krümmungen der Nasen, weil sie glaubten, die Herkunft der Menschen in ihren Gesichtern ablesen zu können. Über die Nase hinaus entwickelte sich die vermeintliche Form der Ohren und Füße zu Schwerpunkten pseudowissenschaftlicher Diskussionen über jüdische Physiognomie. Diese gelangten bald in standardisierte Physiognomie- und Anatomielehrbücher des deutschen Bildungsbürgertums. Sie bildeten den Kern jener Rassenlehre, die das Aussehen nutzte, um zu bestimmen, wer gut und wer schlecht war, wer gesund und wer krank, wer sich fortpflanzen durfte und wer nicht, wer leben durfte und wer nicht.

*

Nur in einer Welt, in der die Krümmung der Nase oder das Abstehen der Ohren ein Gesicht anders machen, in der also die Krümmung oder das Abstehen an das herrschende Menschenbild ausliefern, kann eine chirurgische Intervention lebensverändernd sein. Die Schönheitschirurgie des 20. Jahrhunderts verspricht, den Körper so zu verändern, dass er gesund erscheint und damit als rassisch akzeptabel. Erst nachdem die damalige Rhinoplastik den Zusammenhang etabliert hatte, dass die Korrektur der Hässlichkeit von Krankheit, Verletzung und »Rasse« eine medizinisch anerkannte Begründung für eine Operation sein könne, vermochte sich die plastische Chirurgie auszubreiten und konnte die moderne Disziplin entstehen, auf der die heutige Schönheitsindustrie begründet ist. Erst nachdem die Möglichkeit eröffnet war, ein rassistisches Merkmal, das gesellschaftlich als unveränderlich galt, zu verändern, waren der Vorstellung der körperlichen Modifizierung keine Grenzen mehr gesetzt. Der Historiker Sander L. Gilman schreibt in seiner Kulturgeschichte der ästhetischen Chirurgie »Making the Body Beautiful«, dass sowohl das moderne Assimilationsversprechen als auch das Versprechen der Autonomie über den eigenen Körper immer begrenzt bleiben mussten, weil beide Versprechen ein rassistisches Vorbild benötigten. Je stärker sich das Subjekt umgestaltet, desto stärker weiß das rassistische Vorbild um seinen vermeintlichen höheren Wert, seine eigene Authentizität im Vergleich zum assimilierten Subjekt: »Du wirst zu einer bloßen Kopie und gibst dich als das Echte aus«, schreibt Gilman. Die Angst, entlarvt zu werden, begleitet die neue Nase.

*

Seit ungefähr 2004 taucht immer wieder ein verpixeltes Vorher-Nachher-Bild in den Boulevardmedien auf: Chinese man sues his wife for being ugly. Chinese verklagt Ehefrau, weil sie ihm eine hässliche Tochter geboren hat. Laut dieser modernen Sage habe das Gericht dem Kläger recht gegeben. The court AGREES, der Mann bekommt umgerechnet 120.000 Dollar von seiner Frau, weil sie ihm vorgetäuscht hat, schön zu sein.

Der Mann namens Jian Feng soll seine Frau aus Liebe zu ihrer Schönheit geheiratet haben. Aus einem digital abgenutzten Foto, das wieder und wieder heruntergeladen und hochgeladen wurde, starren zwei verschwommene Frauengesichter zurück. Sie gleichen einander nicht. Die Frau auf der rechten Seite — angeblich die, die Jian Feng glaubte geheiratet zu haben — hat große Augen und eine schmale Nase. Sie wirkt, auch wenn sie ein Kind aus Fleisch und Blut geboren haben soll, künstlich. Die linke Frau scheint erschöpft oder ungeschminkt. Sie hat schmale Augen und Augenringe. Sie könnte echt sein. Wir erkennen ohne jede weitere Beschriftung, dass links vorher ist, das sie das Vorher ist, in einem Vorher-Nachher, das wir von links nach rechts lesen sollen. Als läge auf der Hand, dass die Chinesin mit den großen Augen und der schmal zulaufenden Nase rechts selbstverständlich das Ergebnis einer Transformation, einer Verschönerung ist im Gegensatz zur Chinesin mit den schmalen Augen. Als hätte sie sich aus dem vorangegangenen Zustand befreit, von links nach rechts eben, wie sich die lateinische Schrift lesen lässt.

Nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes soll Jian Feng schockiert gewesen sein über die Hässlichkeit des Säuglings, so berichten es die ersten zwei Seiten der 6.470.000 Google-Ergebnisse zu »Chinese man sues wife for being ugly«: »Unsere Tochter war so unglaublich hässlich, dass es mich schockierte.« Jian Feng soll die Scheidung eingereicht und seiner Ehefrau Untreue unterstellt haben. Doch ein DNA-Test habe bewiesen, dass das hässliche Kind ihr gemeinsames Kind war — das Kind des niemals näher beschriebenen Jian Feng und das seiner schönen und schönheitsoperierten Frau, die er aus Liebe geheiratet haben soll und von der er sich nun aufgrund der Vortäuschung falscher Tatsachen zu scheiden versuchte. Das schöne Gesicht der Mutter wurde durch die Geburt ihres ersten Kindes als hässlich entlarvt: »Die Wahrheit kam erst mit der Geburt des Mädchens ans Licht — denn am Erbgut seiner Frau haben die Schönheits-OPs nichts geändert«, berichtet der deutsche Fernsehsender RTL: »Seiner Ehefrau war ihr Aussehen nicht in die Wiege gelegt worden.«

*

Der englischsprachige Begriff Passing bezeichnet das »Durchgehen« als etwas oder jemand, der man eigentlich nicht ist. Schon im 19. Jahrhundert steckten in ihm zugleich eine Überlebensstrategie und ein Vorwurf. Der Vorwurf bestand darin, dass im Akt der Verschleierung des wahren Selbst die eigene Kondition, im Falle von Passing meist die Rasse, versteckt wurde und stillschweigend eine Überschreitung der Grenzen der sozialen Ordnung stattfand.

In den USA lässt sich die Entwicklung einer Art chirurgischer Eugenik im Umgang mit der sogenannten irischen Nase beobachten. Der Chirurg John Orlando Roe arbeitete in den 1880er Jahren an dem Projekt, eine neue, amerikanische Nase...

Erscheint lt. Verlag 4.9.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Ableismus • Afghanistan • Aktivismus • Alice • Alptraum • Aminata • amiri • Amjahid • Antirassismus • Armut • Ästhetik • Asyl • Aydemir • Biennale • Booktok • Cemile • Coming of Age • Czollek • didion • Diederichsen • Diedrich • Diskriminierung • Diskriminierungskritik • Emran • Engagement • Essay • Facebook • fatma • Feminismus • feroz • Frauen • Gender • Gesicht • Globaler Süden • Graw • Gümüsay • Hass • Hässlich • Hässlichkeit • Hasters • hate • Heimat • Hilal • Identität • Illustrationen • influencer • Instagram • Isabelle • Joan • Kabul • Kardashian • kaur • Kiyak • Klassengesellschaft • Klassismus • Körper • Kübra • Kunst • Lange • Lyrik • Mädchen • Mely • Migration • Mohamed • Monster • Moshtari • Natalie • Othmann • Privilegien • Pubertät • Rassismus • Ricarda • Roman • Ronya • Rupi • Sahin • Schön • Schönheit • Senthuran • Sichtbarkeit • Sinthujan • sontag • Susan • TikTok • tolentino • Toure • transnational • Twitter • Ulrich • Varatharajah • Wolfgang • Zuschreibungen
ISBN-10 3-446-29761-8 / 3446297618
ISBN-13 978-3-446-29761-6 / 9783446297616
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