Sommer war, wenn der Asphalt schmolz (eBook)

(Autor)

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2023 | 3. Auflage
366 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7578-9738-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sommer war, wenn der Asphalt schmolz -  Rainer Deppe
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"Wir waren so, weil die Zeiten so waren." "Die Zeiten waren so, weil ihr so wart." Eine Familie nach der Flucht ins Ruhrgebiet. Kälte und Hunger, Penicillin und Trümmer, Stacheldrahtzaun, Währungsreform und Umzug in die Provinz. Jetzt geht es aufwärts, mit dem Vater und dem Städtchen. Beide haben zwei Gesichter. Wer nicht? Für Marko ist nichts, für Huck ist alles todsicher. Andi hört Kofferradio und die Mutter kennt Billy Jenkins. Julius Goldschmidt kehrt zurück und der Direktor auch. Ein Panorama der fünfziger Jahre. Eine berührende Erzählung und ein zeitgeschichtliches Dokument.

Rainer Deppe. Sozialwissenschaftler und Autor. Letzte Veröffentlichungen: Die Liebe wirst Du los, das Virus nie Brandes&Apsel 2014 und Invasiv Brandes&Apsel 2018. Langjähriges Engagemnent bei der Aids-Hilfe und in Flüchtlingsinitiativen. Passionierter Fussballfan.

Erster Teil


Kein Abschied


Es war ein heißer Sommertag im Juni. Kein Windhauch regte sich. Der Himmel war so hell, dass ihm die Augen schmerzten, als er aus dem Auto stieg und nach oben schaute. Er ließ den Wagen auf dem geteerten Vorplatz stehen, ging auf die andere Straßenseite hinüber und passierte das schmiedeeiserne Eingangstor zum Friedhof. Rechter Hand stand geduckt die weiße Kapelle mit dem grauen Schieferdach und dem knolligen Türmchen mit Wetterhahn. Die Jahrhunderte alte »Totenkirche«. Vor Jahren hatte man darin die Särge seiner Eltern, die nur kurze Zeit nacheinander gestorben waren, unter dem schlichten Holzkreuz vor dem Altartisch aufgebahrt, um Abschied von ihnen nehmen zu können. Er war nicht mehr in die Kapelle gegangen. Erst war der Vater, dann die Mutter gestorben. Alle hatten gedacht, dass es umgekehrt geschehen würde. Er hatte den nahen Tod der Mutter kommen sehen, den des Vaters nicht. Als der Vater starb, war er nicht da.

Nach Mitternacht hatte der Hausarzt des Vaters ihn angerufen, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater vor einer Stunde an seinem zweiten Herzinfarkt gestorben sei. Er habe sich noch aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer zum Telefon geschleppt und ihn angerufen. Zwanzig Minuten später sei er angekommen und da habe das Telefon samt Kabel und herunter gefallenem Hörer neben dem toten Vater auf dem Teppich gelegen. Als Marko frühmorgens in der Wohnung der Eltern eintraf, lag der Vater lang ausgestreckt und glatt rasiert in seinem dunklen Anzug mit weißem Hemd und gemusterter Krawatte auf einer Trage aufgebahrt im Wohnzimmer. Der Bestattungsdienst war schon da gewesen und hatte ihn angekleidet.

Der Vater war der erste Tote, den Marko in seinem Leben sah. Sein Gesicht trug die vertrauten Züge. Es war noch nicht vom Tod entstellt, sowie er es auf Fotos gesehen hatte. Es war sehr schmal, aber nicht ausgemergelt. Ohne seine schwarze Hörbrille und mit den sanft zugedrückten Augen sah der Vater so friedlich aus, als schliefe er. Als wolle er sagen »Alles gut, es ist vollbracht.« Stunden zuvor, als er zum Telefon gestürzt war, hatte der Vater unbedingt noch leben wollen. Jetzt schien es so, als sei er froh, das Leben hinter sich zu haben. Neben der Bahre stand der wie üblich mit allerlei Papieren bedeckte Schreibtisch, für den der Vater im Sitzen immer viel zu groß gewesen war und an dem er zuletzt immer weniger gesessen hatte. Dahinter das Bücherregal mit den wenigen Büchern, die er besaß, obwohl er Deutsch am Gymnasium unterrichtet hatte. Auf der anderen Seite stand der Ende der sechziger Jahre angeschaffte Fernsehapparat, wohin der Vater, seit die Mutter nicht mehr da war, abends immer mehr häufiger Zuflucht gesucht hatte. Marko küsste den Vater auf die Stirn und setzte sich auf einen Stuhl an seine Seite. Vor zwei Wochen hatte er den Vater für ein paar Stündchen in Frankfurt getroffen. Auf dem Rückweg von einem Aufenthalt in einer süddeutschen Rehaklinik hatte dieser einen Zwischenstopp eingelegt, um ihn zu sehen. Da Marko in einer Wohngemeinschaft lebte, übernachtete der Vater bei einem seiner Brüder, Markos Patenonkel. Am Abend gingen sie zu dritt in ein chinesisches Restaurant in der Bahnhofsgegend. Draußen war es nach dem Essen schon dunkel. Auf dem Weg zum Auto des Onkels bemerkte er, wie der hochgewachsene Vater weit nach vorn gebeugt und sehr langsam ging. Schrittchen für Schrittchen tastete er sich wie ein Greis voran, so als suchte er, fast erblindet, etwas verloren Gegangenes auf dem von ein paar Straßenlampen fahl erleuchteten Bürgersteig. Alle paar Meter blieb er stehen, um nach Luft zu schnappen. Marko erschrak, aber ließ keine weiteren Gedanken zu.

Jetzt, neben dem toten Vater sitzend, kam es ihm unwirklich vor, dass er ihm nur drei Tage zuvor, an einem Sonntag, hier, in diesem Raum, gegenüber gesessen hatte. Bei diesem letzten Besuch, von dem er nicht ahnte, dass es der letzte sein würde, stand der Vater öfter auf, um ein paar unruhige Schritte in der Wohnung auf und ab zu gehen. Es war ihm anzusehen, wie erleichtert er war, sich wieder im Sessel niederlassen zu können. Seit seinem kurz vor Weihnachten erlittenen Herzinfarkt rauchte er nicht mehr. Er hatte erst mit fünfzig Jahren mit dem Rauchen angefangen und nie viel geraucht. Höchstens zehn Zigaretten am Tag. Erst solche aus der flachen blauen Schachtel mit dem gelben Aufdruck Mercedes. Später ein halbes Päckchen Lord. Zu Hause immer nur ein paar davon und die nur auf dem Balkon. Marko konnte sich weder an Zigarettenstummel und zerdrückte Kippen in überquellenden Aschenbechern erinnern noch an vergilbte Gardinen und Vorhänge. Das wollte die Mutter nicht haben. Sie hatte nie geraucht. Mit einer Zigarette in der Hand oder hinter dem Ohr konnte er sich die Mutter nicht vorstellen. Unmöglich. Freilich war der Vater für Marko auch kein echter Raucher gewesen. Die Zigarette hatte ihm geschmeckt, obwohl er eigentlich immer nur gepafft hatte. Nie hatte er das Nikotin genüsslich über die Lunge eingezogen. Mit einem Glimmstängel lässig im Mundwinkel, so wie James Dean oder Humphrey Bogart, hatte Marko den Vater nie gesehen. Nach dem Infarkt hatte er seit Wochen gar keinen Zug mehr gemacht. Nur das Feuerzeug lag so wie immer auf seinem Schreibtisch. Dagegen qualmte Marko mindestens eine Packung Reval am Tag. Zum Rauchen ging er an diesem letzten Sonntag ab und zu auf den Balkon, auch wenn die Mutter nicht mehr da war und er wegen der Kälte fror. Zum Anzünden benutzte er noch immer Streichhölzer, die er solange brennen ließ, bis er sich fast die Fingerkuppe verbrannte. Eine Angewohnheit, von der er nicht lassen konnte.

Anders als sonst kam ein Gespräch zwischen ihnen nur schleppend in Gang. Zwar waren der Vater und er es nicht gewohnt, langatmig miteinander über persönliche Dinge zu reden. Selten aber hatten sie sich so schwer dabei getan wie an diesem Sonntag. Der Vater fragte ihn, wie ihm seine neue Arbeit gefalle und ob es seiner Freundin Elisa gut ginge. Er antwortete, dass alles in Ordnung sei, Elisa ließe ihn herzlich grüßen. Er fragte den Vater, ob er noch in die städtische Bibliothek gehe, wo er nach dem Ende seiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer ehrenamtlich aushalf. Nur manchmal noch, antwortete dieser. Natürlich sprachen sie auch über die Mutter, doch auch das nur zögernd und spärlich. Sie war seit einem Vierteljahr in einem Pflegeheim in einer etwa zwanzig Kilometer entfernten Stadt untergebracht. Schweren Herzens hatte der Vater auf Anraten seines Arztes ihrer dortigen Unterbringung zugestimmt. Nach seinem schweren zweiten Infarkt war er nicht mehr in der Lage, seiner Frau zu Hause ausreichend beizustehen. Marko und seine beiden Geschwister waren mit der Unterbringung der Mutter einverstanden gewesen. Ja, sie hatten ihn dazu gedrängt. Die Mutter galt ihnen schon als verloren, der Vater noch nicht. Für die Mutter gab es, so schmerzlich es sie berührte, keine Rettung mehr. Das Schicksal des Vaters war noch nicht entschieden. Der Vater ähnelte sich noch, die Mutter sich nicht mehr. Er sollte und durfte noch nicht sterben. Darum sollte er jede Aufregung vermeiden. Der tägliche, ohnmächtige Anblick seiner depressiven und verwirrten Frau hatte ihn schwer mitgenommen. Lange würde er diesen Anblick nicht mehr ertragen. Er musste vor dem Anblick der Schwerkranken geschützt werden. An diesem Sonntag war es mehr als zwei Monate her, dass die Mutter nicht mehr zu Hause war. Anfangs hatte der Vater sie noch besuchen können. Doch nach seiner Rückkehr aus der Rehaklinik riet sein Arzt ihm davon ab, weiter mit dem eigenen Auto zu seiner Frau zu fahren. Er hatte sie seit sechs Wochen nicht mehr gesehen. Als Marko ihn fragte, ob er sich nicht ein Taxi nehmen oder einen befreundeten früheren Kollegen bitten könne, ihn ab und zu zur Mutter ins Pflegeheim zu fahren, schwieg er eine Weile. Schließlich erwiderte er kaum hörbar, sein Arzt habe ihm dringend geraten, jede Aufregung zu vermeiden und auf Besuche seiner Frau vorerst ganz zu verzichten.

Neben dem toten Vater sitzend, spürte er, dass dieser geglaubt hatte, seine geliebte Frau, mit der er vierzig Jahre lang zusammen gelebt hatte, verraten zu haben. Schuld und Einsamkeit waren der Preis, den er dafür bezahlte. Marko befiel ein beklemmendes Unbehagen, das sich nicht vertreiben ließ. Auch er und seine Geschwister hatten die Mutter verraten, die sie als Kinder umsorgt und behütet hatte. Seine häufigen Besuche im Pflegeheim änderten nichts daran, dass er die Mutter im Stich gelassen hatte. Die Mutter war immer für sie da gewesen, wohingegen der Vater manchmal für längere Zeit verschwunden war. Die Mutter blieb in ihrem Unglück allein, als sie jeden von ihnen gebraucht hätte. Dieser doppelte Verrat an der Frau und der Mutter stand wie eine unsichtbare Wand zwischen dem Vater und ihm und hatte dazu beigetragen, dass ihre Unterhaltung an diesem Sonntag immer wieder ins Stocken geriet und der Vater, entgegen seiner sonst lebhaften Art, ziemlich schweigsam blieb; dass seine Stimme ungewohnt gebrechlich klang, so als wolle er, der in seinem Leben zahllose Reden gehalten hatte, sich eigentlich nicht mehr äußern.

Das Schicksal der Mutter war allerdings nicht alles, was sie unausgesprochen bedrückte. An der Seite des toten Vaters...

Erscheint lt. Verlag 13.4.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Klassiker / Moderne Klassiker
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Flucht und Kekse • Freundschaften • Hunger und Währungsreform • Verbrechen und Aufaschwung • Verbrechen und Aufschwung
ISBN-10 3-7578-9738-2 / 3757897382
ISBN-13 978-3-7578-9738-3 / 9783757897383
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