Mama Odessa (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31152-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mama Odessa -  Maxim Biller
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Mit beeindruckender Leichtigkeit spannt Maxim Biller einen Bogen vom Odessa des Zweiten Weltkriegs über die spätstalinistische Zeit bis in die Gegenwart.

Alles hängt bei der Familie Grinbaum miteinander zusammen: das Nazi-Massaker an den Juden von Odessa 1941, dem der Großvater wie durch ein Wunder entkommt, ein KGB-Giftanschlag, der dem Vater des Erzählers gilt und die Ehefrau trifft, die zionistischen Träumereien des Vaters, der am Ende mit seiner Familie im Hamburger Grindelviertel strandet, wo nichts mehr an die jüdische Vergangenheit des Stadtteils erinnert - und wo er aufhört seine Frau zu lieben, um sie wegen einer Deutschen zu verlassen.

Dennoch scheint ständig ein schönes, helles Licht durch die Zeilen dieses oft tieftraurigen, außergewöhnlichen Buchs.

»Mama Odessa« ist ein literarisches Meisterstück von größter Präzision und poetischer Kraft, wie es auf Deutsch nur selten gelingt.

Maxim Biller, geboren 1960 in Prag, lebt seit 1970 in Deutschland. Von ihm sind bisher u.a. erschienen: der Roman »Die Tochter«, die Erzählbände »Sieben Versuche zu lieben«, »Land der Väter und Verräter« und »Bernsteintage«. Seinen Liebesroman »Esra« lobte die FAS als »kompromisslos modernes, in der Zeitgenossenschaft seiner Sprache radikales Buch«. Billers Bücher wurden in neunzehn Sprachen übersetzt. Bereits nach seinem Erstling »Wenn ich einmal reich und tot bin« (1990) wurde er von der Kritik mit Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen und Philip Roth verglichen. Zuletzt erschienen sein Memoir »Der gebrauchte Jude« (2009), die Novelle »Im Kopf von Bruno Schulz« (2013) sowie der Roman »Biografie« (2016), den die SZ sein »Opus Magnum« nannte. Sein Bestseller »Sechs Koffer« stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Über den Roman »Der falsche Gruß« (2021) schrieb die NZZ: »Das ist große Kunst.«



»... ein leichtes, schweres Meisterwerk - und das gegenwärtig beste erste Kapitel der deutschen Literatur« Marlene Knobloch Süddeutsche Zeitung 20230816

Die Welt der russisch-jüdischen Familie aus Hamburg, um die es in Maxim Billers neuem Roman »Mama Odessa« geht, ist voller Geheimnisse, Verrat und Literatur. Wir lesen aber auch ein kluges, schönes und wahrhaftiges Buch über einen Sohn und eine Mutter, beide Schriftsteller, die sich lieben, wegen des Schreibens immer wieder verraten - und einander trotzdem nie verlieren.

»... ein leichtes, schweres Meisterwerk - und das gegenwärtig beste erste Kapitel der deutschen Literatur«

»Sollte Maxim Biller aufhören zu schreiben und ›Mama Odessa‹ tatsächlich sein letztes Buch bleiben, er hätte damit aufs Schönste sein Gelöbnis konterkariert. Gerade solche Bücher braucht unsere Zeit: Sie sind Zeugnis eines großen Humanismus und Ausdruck der unerschütterlichen Kraft des dichterischen Wortes.«

»Literatur tritt hier nicht mit dem Anspruch auf, den Menschen besser zu machen, sondern ist sich - völlig zu Recht - selbst genug.«

»... sein vielleicht zärtlichstes Buch«

Inhaltsverzeichnis

13.


Gleich wegen der ersten Demonstration, die Lassik organisierte, verlor mein Vater seinen oberen linken Schneidezahn. Er bekam nach einem halben Jahr in der staatlichen Stomatologischen Klinik von Odessa einen neuen, der aus strahlendem sowjetischen Gold war, aber später, in Hamburg, ließ er sich von dem ersten Geld, das er bei Brinkmann in der Spitalerstraße verdiente, lieber einen unauffälligen Keramikzahn einsetzen. Lassik, Papa und die andern – alle sehr jung, nur Männer und für damalige Zeiten extrem bärtig – hatten sich irgendwann Ende Oktober 1965 vor einen kleinen grauen Gedenkstein an der südlichen Peripherie von Odessa gesetzt, auf dem stand, dass an dieser Stelle »25000 Sowjetbürger von den nazistischen Bestien« umgebracht wurden, und dabei hatten sie immer wieder laut gerufen: »Es waren keine Sowjetbürger, es waren Juden!« Sofort kamen die stummen Riesen von der Miliz angelaufen und ließen ihre langen schwarzen Schlagstöcke fliegen. Mein Vater war der Einzige, der es schaffte, mit blutüberströmtem Gesicht und darum kurz wie blind, wegzulaufen. Alle anderen bekamen zwischen zwei und fünf Jahren Lager, mein Vater ging aber weiter in die Universität, machte seine Prüfungen und gründete seine zionistische Diskussionsgruppe.

»Du hast es damals richtig gemacht«, sagte Lassik oft zu meinem Vater, wenn wir in den siebziger Jahren bei ihm im Abendrothsweg in der Küche saßen, »ich hätte auch weglaufen sollen.«

»Du hast es versucht«, sagte mein Vater, »aber du warst schon immer zu dick und zu langsam.«

Sie lachten beide, ich lachte natürlich auch, obwohl ich als Junge das Ganze noch nicht richtig verstand, nur meine Mutter saß stumm und ernst daneben, jedenfalls so lange, wie sie in den Abendrothsweg mitkam.

Einmal sagte sie aber doch etwas. Sie drehte sich zu meinem Vater, lächelte ihn so falsch an, wie man nicht einmal einen fremden Menschen anlächelt, und flüsterte: »Schade, dass sie dich damals nicht gekriegt haben, Gena. Dann wäre Mischa und mir sehr viel erspart geblieben, auch dieses verdammte Deutschland.«

Als ich das hörte, stand ich schnell auf und fragte, ob ich im Wohnzimmer Fernsehen schauen dürfte.

»Du kannst ruhig hier bleiben«, sagte meine Mutter, »jetzt wird es interessant, auch für dich.«

»Natürlich, guck so viel du möchtest«, sagte Lassik fast gleichzeitig. Wie immer lachte sein Mund, aber seine Augen tränten, als würde er gleich weinen oder als sei er ziemlich krank, das konnte man nie so genau unterscheiden.

Ich guckte fragend meinen Vater an, der damals noch seine dicke schwarze russische Hornbrille hatte und mit den dichten, langen Koteletten und wild zugewachsenen Geheimratsecken wie jeder zweite osteuropäische Emigrant aussah. Aber er schwieg.

»Hör dir nur ruhig alles an, Mischenka«, sagte meine Mutter wieder zu mir.

»Die Fernbedienung liegt im Regal bei den Karten«, sagte Lassik.

»Du bleibst hier«, sagte Mama jetzt strenger.

»Wer seine eigene Frau versteht, hat Pech in der Liebe«, zitierte Lassik offenbar einen von seinen tausend Aphorismen.

Mein Vater sagte noch immer nichts. Er faltete seine Serviette immer wieder zusammen und auseinander und wieder zusammen, aber als meine Mutter noch mal sagte, ich solle da bleiben und mir anhören, wie er ihr Leben mit seinem ewigen Zionisten-Unsinn zerstört hätte, nahm er sein Glas und schüttete ihr den Rest seines Wassers ins Gesicht. »Komm endlich zu dir«, sagte er, »und lass Mischa damit in Ruhe.« Sie wischte sich wortlos mit ihrer Serviette das Gesicht ab und ging ins Nebenzimmer – es war Lassiks Arbeitszimmer mit den deckenhohen Bücherregalen an allen Wänden, dem riesigen englischen Schreibtisch neben dem Fenster und einer kleinen Schlafcouch –, wo sie minutenlang leise weinte. Sie verstummte erst, nachdem Lassik zu ihr gegangen war, kurz darauf hörte ich sie sogar ein bisschen zu laut und verlegen lachen, und ich setzte mich wieder an den Küchentisch. Mein Vater schüttelte den Kopf, mehr nicht, er sagte kein Wort, und als er mich wie zufällig mit dem Blick streifte, kam er mir vor wie ein fremder Mann, der versucht, in der U-Bahn an einem vorbeizuschauen.

Dabei fällt mir ein: Die verrückteste Sache, die sich mein ruhiger, immer etwas zu kühler Vater wahrscheinlich jemals ausgedacht hat, war die Besetzung der Kommunistischen Parteizentrale von Odessa. Das war in der Zeit, als Lassik nicht mehr täglich irgendwo hinter dem nördlichen Polarkreis um sein Leben kämpfte, sondern in Hamburg lebte, als Schützling des deutschen PEN-Clubs und Lieblingsdissident der Springer-Leute, und vielleicht wollte Papa endlich auch einfach nur weg aus Russland. Jedenfalls hatte er sich eines Tages zusammen mit seinen Jungisraeliten fast acht Stunden in der Kantine der Parteizentrale am Kulikowo Polje eingeschlossen und auf Plakaten in Russisch und Englisch den längsten Hungerstreik aller Zeiten versprochen, sollte man ihnen nicht erlauben, nach Israel auszureisen. Dass ihnen nichts passiert ist, vor allem Papa nicht, keine Verhaftung, kein Lager, kein zweiter kleiner unauffälliger Giftanschlag, ja, dass sie nicht einmal verhört wurden, war natürlich ein Wunder. Aber es hatte auch damit zu tun, dass es in den USA inzwischen die AJCSJ gab, die American Jewish Conference on Soviet Jewry, die Leuten wie meinem Vater immer wieder das Leben rettete.

Auf dem einzigen Foto, das ich von dem Sit-in kenne, sieht man ihn – damals noch so bärtig und langhaarig wie John Lennon oder Tolstoi – im Gespräch mit einem Mann um die vierzig, dessen schmal geschnittener westlicher Anzug, glatt rasiertes Gesicht und militärisch kurze Haare so wirken, als sei er ein berühmter CBS-Reporter oder jemand von der amerikanischen Botschaft in Moskau. Oder eben ein wichtiger AJCSJ-Mann. Das Foto war neben einem Artikel in der Welt vom 2. Januar 1971 abgedruckt, den ich während meines Studiums in der Münchener Staatsbibliothek zufällig entdeckt und mir fotokopiert habe. Dort stand, dass eine Gruppe junger sowjetischer Juden bei einer spektakulären Aktion die Ausreise in ihre historische Heimat gefordert habe. Drei Monate später waren wir dann tatsächlich draußen.

»Deine Mutter hat recht«, sagte mein Vater, nachdem ich mich wieder neben ihn an den Küchentisch gesetzt hatte, »es ist nichts so geworden, wie es werden sollte.«

Jetzt fing ich an, mit meiner Serviette zu spielen. Dabei dachte ich an das Tor, das ich vor ein paar Tagen beim Fußball in der Schule geschossen hatte – Flanke von rechts, ich Volley mit links in die obere rechte Ecke –, ich dachte an dieses lustige Mädchen bei uns in der Klasse, das bei der Klassenfahrt nach Föhr einmal die Toilettentür nicht abgeschlossen und laut geschrien hatte, als ich zufällig reinkam, ich dachte an das Buch, das ich gerade angefangen hatte auf Deutsch zu lesen, Verlorene Illusionen von Balzac, das ich kaum verstand, aber sehr mochte. Wann hört das alles hier wieder auf, dachte ich dann, warum mögen sie sich nicht, obwohl sie mich beide so lieben? Mein Vater legte seine Hand auf meinen Arm, was er sonst nie machte, er nahm mir die Serviette weg und sagte: »Ich erzähl dir, wie alles angefangen hat, Mischa, in Ordnung?«

»In Ordnung«, sagte ich und nickte und dachte, er soll mich bloß in Ruhe lassen.

Alles fing – für Lassik, meinen Vater und die anderen – am 21. Oktober 1941 an, als die Deutschen und Rumänen jeden Juden von Odessa, den sie finden konnten, in die verlassenen Baracken des alten Munitionslagers am Tolbuchinplatz hineintrieben, die Baracken mit Benzin übergossen und anzündeten. Einer der wenigen, der das überlebte, war ausgerechnet mein melancholischer armenischer Großvater, den die neuen Herren bei ihrer Treibjagd auch eingesammelt hatten, weil sie ihn für einen Juden hielten. Er sprang durch ein Loch in der brennenden Baracke nach draußen und irrte halb verbrannt stundenlang durch die Gegend, bis er, wie er uns später erzählte, zum Zweiten Jüdischen Friedhof in der Lustdorfskaja kam, über die Mauer kletterte und dort einschlief. Als er zwei Tage später steif vor Kälte aufwachte, erinnerte er sich an die vielen Bilder, von denen er geträumt hatte, sie hingen alle in einem großen alten Museum, und es tropfte aus ihnen Blut. Darum – und nur darum – wurde er später Maler.

Und warum war für die Demonstranten vom Tolbuchinplatz der 21. Oktober 1941 so wichtig? Dass die Kommunisten nach dem Krieg so taten, als wären bei der Verbrennung der Juden von Odessa gar keine Juden verbrannt worden, sondern lauter brave Sowjetbürger, war eigentlich nichts Besonderes in einem Land, in dem man keine Juden mehr haben wollte. Nur wieso, fragten sich Lassik, mein Vater und alle anderen Refuseniks immer öfter, stand trotzdem in ihren Pässen bei Punkt 5 »Nationalität: Jude«? Darauf gab es für sie bloß eine Antwort: Ende des großen kommunistischen Traums, den die Gojim schon immer ohne uns träumten, und Anfang von etwas Eigenem, Neuem.

»Als der Sechstagekrieg losging«, sagte mein Vater dann auch noch an diesem dunklen Hamburger Januarnachmittag voller Überraschungen und Tränen, »saßen wir alle zu Hause an unseren Spidola-Radios und hörten von morgens bis nachts über Kurzwelle die Stimme Israels. Und als er zu Ende war und Israel das zweitgrößte Pogrom des 20. Jahrhunderts abgewehrt hatte, rannten wir ins alte Jiddische Theater, sangen dort alle zusammen hundertmal Am Israel Chai und tanzten, bis wir nicht mehr konnten. An diesem Tag...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • Autofiktion • Der falsche Gruß • Esra • Familien-Beziehungen • Familiengeheimnis • Familienkonflikt • Gesellschaftsroman • Jüdische Familiengeschichte • Literaturbetrieb • Maxim Biller neuer Roman • Mutter-Sohn-Beziehung • Mythologie • Neuer Biller • Odessa • Politische Literatur • Sechs Koffer • Sowjetunion
ISBN-10 3-462-31152-2 / 3462311522
ISBN-13 978-3-462-31152-5 / 9783462311525
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