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Sinkende Sterne (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32124-1 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
22,99 inkl. MwSt
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Ein einsames Haus in den Bergen und eine Naturkatastrophe, nach der ein Schweizer Kanton sich plötzlich lossagt von unserer Gegenwart: »Sinkende Sterne« ist ein virtuoser, schwebend-abgründiger Roman, in dem eine scheinbare Idylle zur Bedrohung wird und der uns tief hineinführt in die Welt der Literatur selbst. Thomas Hettche erzählt, wie er nach dem Tod seiner Eltern in die Schweiz reist, um das Ferienhaus zu verkaufen, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Doch was realistisch beginnt, wird schnell zu einer fantastischen, märchen-haften Geschichte, in der nichts ist, was es zu sein scheint. Ein Bergsturz  hat das Rhonetal in einen riesigen See verwandelt und das Wallis zurück in eine mittelalterliche, bedrohliche Welt. Sindbad und Odysseus haben ihren Auftritt, Sagen vom Zug der Toten Seelen über die Gipfel, eine unheimliche Bischöfin und Fragen nach Gender und Sexus, Sommertage auf der Alp und eine Jugendliebe des Erzählers. Grandios schildert Hettche die alpine Natur und vergessene Lebensformen ihrer Bewohner, denen in unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Gegenwart neue Bedeutung zukommt. Im Kern aber kreist die musikalische Prosa dieses großen Erzählers um die Fragen, welcher Trost im Erzählen liegt und was es in den Umbrüchen unserer Zeit zu verteidigen gilt.

Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Thomas Hettche wurde in einem Dorf am Rande des Vogelsbergs geboren und lebt in Berlin. Seine Essays und Romane, darunter »Der Fall Arbogast« (2001), »Die Liebe der Väter« (2010), »Totenberg« (2012) und »Pfaueninsel« (2014) wurden in über ein Dutzend Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Premio Grinzane Cavour, dem Wilhelm-Raabe-Preis, dem Solothurner Literaturpreis und dem Josef-Breitbach-Preis. Sein letzter Roman »Herzfaden« (2020) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

Inhaltsverzeichnis

2


Im Westen, hinter den Burghügeln von Sion, tragen die Berge französische Namen, eine Kette nervös gezackter Gipfel, aus denen der Grand Chavalard hervorragt. Auf der südlichen Talseite Meretschihorn, Schwarzhorn, Rothorn und Emshorn, zu denen die Wälder hinaufkriechen bis auf einen Kranz in zweitausend Metern, dann der Wechsel aus grünen Matten zu nacktem grauem Stein. Dahinter das Weisshorn, das an klaren Tagen rasiermesserscharf vor dem Blau steht, Bishorn und Barrhorn. Ganz nah Gorwetschgrat und Illhorn. Mit einem mulmigen Gefühl sah ich, bevor ich mich auf den Weg machte, dort unten die Geröllmauer, hinter der sich der Fluss zum See gestaut hatte.

Es wimmelte nur so von Menschen und Autos und dauerte einen Moment, bis ich einen Parkplatz fand auf der Wiese an der Ringackerkapelle neben der Umgehungsstraße, die früher ins Tal hinabführte und nun unvermittelt im Wasser des Sees endete. Die Kapelle liegt etwa fünfzig Meter unterhalb des Felsdorns, auf dem Leuk thront. Hier war nun so etwas wie der Hafen des Städtchens. Gerade näherte sich eine Fähre, und ich sah zu, wie sie langsam herankam und an dem stählernen Ponton anlegte, der ins Wasser ragte, eine Wagenkolonne entließ und die neuen Passagiere aufnahm. Wie warm es hier war. Seit Tagen hatte ich zugesehen, wie der Schnee auf den Gipfeln weggeschmolzen und immer mehr grauer, stumpfer Stein zum Vorschein gekommen war, doch den Temperaturunterschied zwischen dem Maiensäß und der Stadt im Tal hatte ich vergessen.

Als ich den Weg zwischen den Rebgärten zur Stadt hinaufstieg, überblickte ich zum ersten Mal das ganze Ausmaß des Felssturzes, das Ineinander der riesigen Gesteinsbrocken, von entwurzelten Bäumen, Schotter und Sediment, das nun den Damm bildete, der die Rhone aufstaute. Ich verstand nicht, warum man nicht längst alles daran gesetzt hatte, dieses Geröll zu beseitigen und dem Fluss sein Bett wiederzugeben, der nun als Wasserfall über die Dammkrone ins Tal stürzte. Stattdessen hatte man Unterstände errichtet und Absperrgitter über die ganze Talbreite aufgestellt. Soldaten patrouillierten daran entlang, lehnten an den Gittern und rauchten, schauten ruhig talabwärts, wo alles wie immer war, das Weindorf Varen am Hang, der Pfynwald, in der Ferne Sierre und dahinter die Hügel von Sion. Und ich sah erst jetzt, auch das alte Sträßchen nach ebenjenem Varen endete im Nichts, die mittelalterliche Brücke über die Dala versunken im Felsgeröll, nur die Zinnen des Torturms ragten noch daraus hervor, und auch die Stahlbetonbrücke, die hoch über Leuk und enthoben der Katastrophe in den Nachbarort führte, war zerstört. Ich konnte mir nicht erklären, wodurch.

In meiner Kindheit war der Hauptplatz von Leuk immer so still und verlassen gewesen, als träumte der Ort von einer Vergangenheit, die lange vorüber war. Am oberen Ende thront die uralte Kirche, in deren Krypta man die Reste jener römischen Feuerstelle ausgegraben hatte, aus der die Scherbe stammte, die mich als Kind so faszinierte. Die meisten Geschäfte am Platz waren früher geschlossen gewesen, in den Schaufenstern verstaubte Seidenblumensträuße und Spinnräder, die Wohnungen hinter den Gardinen leer. Umso mehr überraschte es mich, dass der Platz jetzt wie der ganze Ort schier aus allen Nähten zu platzen schien. Auf der Terrasse des Restaurants La Poste war jeder Tisch besetzt, alle Läden waren geöffnet, selbst Verkaufsbuden gab es, als habe jenes alte Leuk, das in meiner Kindheit schon im Verschwinden begriffen war, nun, nachdem die Supermärkte unten an der Kantonalstraße im Wasser versunken waren, die Geschäfte wieder übernommen.

Wenn wir im La Poste saßen, die Eltern einen Kaffee tranken und ich ein Eis bekam, hatte der Vater mir immer die Namen der alten Bezirke des Wallis aufgezählt, bis ich sie auswendig kannte, Brig, Goms, Visp, Raron, Leuk, Siders und Sion. Sie bildeten, hatte er mir erklärt, im Mittelalter die Republik der Sieben Zenden, immer im Konflikt mit dem Adel und dem Bischof, regiert von einem Meier oder Kastlan oder Gubernator. Diese Welt endete mit der Französischen Revolution, und doch stand ich nun, in der Hand den Brief eines Kastlans von Leuk, inmitten des geschäftigen Treibens vor dem alten Rathaus, einem mächtigen mittelalterlichen Bau, der in meiner Kindheit nur mehr als Ort für Hochzeiten und Familienfeiern gedient hatte, nachdem die Stadtverwaltung vor Jahrzehnten in einen Neubau ins Tal gezogen war. Über der breiten Rundbogentür prangte wie auf meinem Brief das Wappen der Stadt, der aufrecht schreitende Greif mit dem Schwert in der Hand.

Uniformierte inmitten einer Traube von Menschen. Ausweispapiere wurden gezeigt, Anliegen erläutert, es dauerte eine Weile, bis ich dem jungen Soldaten, dessen helles Gesicht voller Sommersprossen war, den Brief des Kastlans vorzeigen konnte, er wortlos die alte Tür öffnete und mich in den zweiten Stock hinaufschickte. Menschen eilten die uralten, abgetretenen Steinstufen der Wendeltreppe hinauf und hinab, durch eine offene Tür erspähte ich in einem weiten Saal mit Kreuzgewölbe mehrere Reihen von Schreibtischen mit Bildschirmen, Bittsteller warteten davor auf der Treppe. Als ich mich an ihnen vorbeidrückte, wurde es plötzlich laut, jemand fluchte, ein anderer protestierte, und dann schubsten zwei ältere Männer einen Mann von der Tür des Saals weg, dass er beinahe die Stufen hinabstürzte.

»Raus mit den Secondos!«, rief eine alte Frau. FREMDENPOLIZEI stand an der geschlossenen Tür im zweiten Stock, ich klopfte und trat ein.

»Herr Hettke?«

Der Mann hinter dem Schreibtisch sah von seinen Akten auf. Einer jener kompakten Walliser mit kantigem Schädel und starken Backenknochen, klein und dunkel, mit struppigem, dichtem Haar, wie man sie hier überall in den Bergdörfern sieht, und wie viele, die sich darum bemühen, Hochdeutsch zu sprechen, sprach er das ch in meinem Namen wie ein hartes k. Über der Uniformjacke im Tarnfleck eine breite goldene Amtskette. Der Raum holzgetäfelt mit einem großen runden Giltsteinofen und kleinen bleigefassten Buntglasfenstern, die das Licht dämpften und filterten durch all die Wappen der alten Geschlechter der Stadt. Ich reichte ihm den Brief. Worum es sich bei der Vorladung denn handele, wollte ich wissen, und ob er Herr Zen Ruffinen sei.

»Jesko Zen Ruffinen, ja.« Er gab mir das Schreiben zurück. »Kastlan von Leuk und Bannerherr der Sieben Zenden.« Eine kurze Bewegung der schwarzbehaarten Hand hin zu der goldenen Kette. Hinter ihm die Walliser und die Schweizer Fahne.

»Weshalb sind Sie im Wallis?«

»Was meinen Sie damit?«

»Nun, Sie sind kein Schweizer.«

»Mein Vater hat unser Haus vor vierzig Jahren gekauft.«

»Aber Ihr Vater ist gestorben.«

Es habe, wovon ich sicherlich auch in Deutschland gehört habe, sich hier im Oberwallis vieles verändert. Der Bergsturz blockiere das Tal. Die Brücke über die Dala habe man gesprengt.

»Man hat sie gesprengt?«

Ich sah ihn ungläubig an.

»Ja.« Und da der Lötschbergtunnel geflutet sei, erfolge nun aller Verkehr wieder wie früher über die Bergpässe, über Furka, Simplon, Grimsel und den Lötschberg. »Wissen Sie, Herr Hettke, der Transit hat die Menschen hier immer nur am Rand tangiert. Ein Zubrot war das für die meisten, und das gilt auch für den Tourismus, den die Straßen in unsere Täler brachten. Aber er hat die Seelen der Bergbewohner angegriffen, er hat sie erniedrigt, weil er sie zwang, die eigene Lebenswirklichkeit als Schauspiel aufzuführen. Das hat jetzt ein Ende.«

Ein Lächeln spielte plötzlich um den Mund des Kastlans. Ich sei doch Schriftsteller, sagte er sanft. Ich nickte verwirrt. Ob ich denn über das Wallis schreibe. Nein, sagte ich, das hätte ich noch nie getan. Und weshalb nicht? Meine Familie genieße doch schon so lange das Gastrecht in ihrer Gemeinde. Ich entscheide über meine Stoffe nicht auf diese Weise, sagte ich. Und ich sei auch nicht der Ansicht, als Künstler der Gesellschaft etwas zurückgeben zu müssen. So habe ich meinen Beruf nie verstanden.

»Ich verstehe.« Er musterte mich abschätzig. »Es tut mir leid, Herr Hettke, aber ich muss Sie davon in Kenntnis setzen, dass Ihre Parzelle entsprechend der gültigen Verordnung zum Umgang mit Ausländern enteignet wird.«

Ich schüttelte entgeistert den Kopf. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass das der Grund dieser Vorladung sein könnte. Stets hatten meine Eltern sich hier willkommen gefühlt, die Zeit geschlossener Grenzen schien für immer vorüber zu sein, seit Jahrzehnten regelten bilaterale Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, was längst Normalität in Europa war. Ich spürte Angst in mir aufsteigen.

»Das meinen Sie nicht ernst.«

»Die Tagsatzung hat diese Verordnung Anfang Jahr beschlossen, es handelt sich um gültiges Recht.«

Die Grundbuchänderung, erklärte der Kastlan ruhig und ließ mich dabei nicht aus dem Blick, sei für den einunddreißigsten August vorgesehen. Das Haus werde dann baldmöglichst an Kaufberechtigte, also Besitzer eines Schweizer Passes, versteigert. Der Erlös werde mir, nach Abzug der allfälligen Gebühren und Steuern, selbstverständlich vollumfänglich überwiesen.

»Sie haben das Wallis zum Stichtag zu verlassen, da damit auch Ihr Aufenthaltsrecht erlischt.«

Das bunte Licht der Bleiglasfenster flimmerte mir noch vor den Augen, als ich schon am Brunnen vor dem Rathaus stand, dessen graue Säule wiederum der hochgereckte Leuker Greif krönt. Ich hätte in dem Moment nicht zu sagen vermocht, was ich dem Kastlan erwidert hatte, wie ich aus dem...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2023
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alpen • Apokalypse • Arbogast • Autofiktion • Autofiktionaler Erzähler • dystopisch • Freiheit • Gesellschaftsikritik • Gesellschaftskonflikte • Herzfaden • Kunstfreiheit • literarische Autofiktion • Parallel-Gesellschaft • Schweiz
ISBN-10 3-462-32124-2 / 3462321242
ISBN-13 978-3-462-32124-1 / 9783462321241
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