Macht und Müdigkeit (eBook)

Eine überfällige Kritik unserer Politik der Selbstausbeutung

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
240 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-30884-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Macht und Müdigkeit -  Antje Kapek
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Wege aus der kollektiven Erschöpfung
18-Stunden-Tage, Dauererreichbarkeit, keine Zeit für Familie oder die eigene Gesundheit: Zehn Jahre lang sah so Antje Kapeks Alltag als Politikerin aus - bis es ihr reichte. Der Preis war zu hoch. Auch ein Großteil der Bevölkerung leidet unter Erschöpfung und fordert mehr Zeit für Selbstfürsorge. Doch wie sollen völlig übermüdete Politiker*innen, die selbst keine Zeit für Lebensqualität haben, bessere Bedingungen für alle schaffen? Erschöpfte Regierungen treffen keine guten Entscheidungen - und das betrifft uns alle, warnt Kapek. Klug knüpft sie Verbindungen zwischen politischem Leistungsdenken, starren Machtstrukturen und sozialen Missständen.

Ein klares Nein zur Selbstausbeutung und ein starkes Plädoyer dafür, gesellschaftlich neue Wege zu gehen.

»Erschöpfung kennen alle Menschen. Antje Kapek legt nicht nur den Finger in die Wunde - sie zeigt auch Wege aus der Krise auf.« Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bündnis 90/Die Grünen

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Antje Kapek, geb. 1976, zog 2011 für Bündnis 90/Die Grünen ins Berliner Abgeordnetenhaus ein, 2012 wurde sie zur Fraktionsvorsitzenden gewählt. Bereits zuvor war die Diplomgeografin und Stadtplanerin Mitglied im Bezirksparlament Friedrichshain-Kreuzberg. 2022 erklärte sie überraschend ihren Rücktritt als Fraktionsvorsitzende. Seitdem hat sie endlich mehr Zeit fürs Nachdenken über unsere kapitalistische Leistungsgesellschaft, eine feministische Vision für die Welt und darüber, wie wir Politikbetrieb und Gesellschaft menschlicher machen können. Sie lebt mit Mann und zwei Kindern in Berlin.

Interview im Krankenhaus –

Grenzüberschreitungen als Normalität

Gleichmäßig pulsiert der Herzschlag meines ungeborenen Kindes auf dem CTG, bis das Klingeln meines Handys das Gerät übertönt. Ich befinde mich im Vorraum des OP-Saals eines Krankenhauses und werde gerade auf die Geburt vorbereitet, als ich den Anruf entgegennehme.

Ein Redakteur eines Radiosenders ist dran: »Hallo Frau Kapek, können wir Ihnen ein paar Fragen bezüglich der Müllproblematik bei Großveranstaltungen im Tiergarten stellen?«

»Klar«, antworte ich routiniert. Und dann gebe ich wenige Minuten vor der Geburt meiner Tochter ein Radiointerview.

Das war 2013. Nur etwa eine Stunde nach dem Interview hielt ich mein zweites Kind im Arm. Es erschien mir völlig normal, buchstäblich bis zur letzten Minute der Schwangerschaft zu arbeiten. Noch fünf Tage vor der Geburt hatte ich acht Stunden in der sengenden Hitze am Brandenburger Tor gesessen, um den damaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama zu hören, der zu Besuch in Berlin war. So ein historisches Ereignis verpasst man ja nicht.

Ich war zu dieser Zeit nicht einmal ein Jahr lang Fraktionsvorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus. Im Oktober 2012 wurde ich in dieses Amt gewählt – genau einen Tag später erfuhr ich, dass ich wieder schwanger war. Wäre die Reihenfolge andersherum gewesen, wäre ich vermutlich nie Fraktionsvorsitzende geworden. Die Balance zwischen den Herausforderungen der Mutterschaft und der Verantwortung im Job ist nicht nur in der Politik ein Thema, das mit einem andauernden Kampf verbunden ist und regelmäßig in Frust und Enttäuschung endet.

Doch ein Zurück oder gar Aufgeben war keine Option. Ich wusste: Ich will das unbedingt – irgendwie bekommen wir das schon hin. Und das haben wir auch. Allerdings nur, weil ich einen sehr engagierten und verantwortungsvollen Partner habe, der mir bis heute regelmäßig den Rücken freihält und große Teile der Care-Arbeit übernimmt. Doch selbst mit diesem Support war mir damals noch nicht vollständig klar, was es bedeuten würde, ein Baby, ein Kleinkind und meine Leitungsfunktion unter einen Hut zu bekommen.

Nur einen Tag nach der Geburt meiner Tochter holte mich die Arbeit im Krankenhaus ein. Es mussten Entscheidungen getroffen, Verträge unterschrieben und die Arbeitsfähigkeit der Fraktion gewährleistet werden. So wie die Kapitänin nicht von Bord des Schiffes gehen kann – auch nicht für die Geburt eines Kindes –, so muss auch im Politikbetrieb jeden Tag Kurs gehalten werden. Tagespolitik wartet nicht und nimmt keine Rücksicht auf persönliche Umstände. So wurde das Krankenhausbett zum Büro umfunktioniert: In den folgenden Tagen führte ich von dort aus Telefonate, schrieb Dutzende von Mails und beantwortete Messenger-Nachrichten. Alles, während ich gleichzeitig am Tropf hing und körperlich wie psychisch einiges zu verarbeiten hatte.

Für mich war so ein Verhalten völlig normal und auch in meinem Arbeitsumfeld fand es niemand seltsam, dass ich mir keine Pause gönnte. Im Gegenteil: Es kam eher die Frage auf, wann ich denn endlich wieder im Büro sei. So war ich geradezu dankbar für diese Momente im Krankenhaus, in denen ich ja immerhin nicht physisch anwesend sein musste, sondern »nur« Mails und Telefonate erledigte. Erst durch die Reaktion von Menschen außerhalb der Politik fiel mir auf, dass dies mitnichten für alle Menschen normal ist.

Natürlich waren meine Familie und Freunde regelmäßig genervt, enttäuscht oder wütend über den Umstand, dass die Politik bis in die intimsten Ecken unseres Privatlebens vordrang. Aber sie haben sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt (und nur noch gelegentlich mit mir geschimpft).

So gab es in den zehn Jahren als Fraktionsvorsitzende keine Ferien oder Auszeiten, in denen ich nicht telefonisch an Krisensitzungen teilgenommen oder unter dem Tisch beim Abendessen »nur mal kurz« eine Mail getippt hätte. Bei Bergtouren wanderte meine Familie voraus, während ich ständig auf der Suche nach dem höchsten Punkt mit dem besten Handyempfang war. Und selbst bei Geburtstagen verfolgte ich mitunter per Kopfhörer Videokonferenzen und verschwand für eigene Wortbeiträge kurz auf der Toilette.

»Selbst schuld!«, werden jetzt einige sagen. »Augen auf bei der Berufswahl!« Es sei doch meine freie Entscheidung, ob ich im Krankenhausbett auf das Smartphone schaue oder nicht. Doch was in der Theorie so einfach klingt, ist in der Praxis um einiges komplizierter. Denn Krisenmanagement wartet nicht darauf, bis die Geburtstagsfeier beendet ist, und dem Redaktionsschluss ist es egal, ob du mit dem Kind beim Zahnarzt sitzt. Zeit ist sehr oft ein kritischer Faktor, der in der Politik alle betrifft – und zunehmend auch in andere Gesellschaftsbereiche und Berufszweige überschwappt. Dementsprechend müssen sich persönliche »Befindlichkeiten« – auch wenn es eigentlich Grundbedürfnisse sind – dem Zeitdruck unterordnen. Wer dazu nicht bereit ist, kann in diesem Beruf nicht viel bewirken. So einfach, so brutal. Deshalb lautet das Credo: Sei immer und jederzeit erreichbar und leistungsbereit. Schaffst du deine Arbeit am Tag nicht, dann schieb eine Nachtschicht ein.

Kolleg*innen und Bürger*innen erwarten, dass Politiker*innen in Führungspositionen jederzeit funktionieren und ansprechbar sind. Auf familiäre Verpflichtungen wird keine Rücksicht genommen. Ebenso wenig auf Erschöpfung nach Belastungsphasen oder sogar Krankheit. Sie werden deshalb oft verheimlicht.

Als beste Beispiele dafür könnten die Reaktionen auf die wiederkehrenden Zitteranfälle von Angela Merkel 2019 oder die verheimlichte Sorge von Anne Spiegel um ihren schwer erkrankten Mann im Sommer 2021 gelten. Sicherlich haben diese Politikerinnen auch Fehler in der Außenkommunikation gemacht. Aber der Fakt, dass es in der Öffentlichkeit und in der Politik geradezu null Verständnis dafür gab, dass diese Frauen auch einfach Menschen mit Bedürfnissen sind, ist schockierend.

So wurde beispielsweise das Zittern von Merkel, das laut ihrer eigenen Aussage den Grund hatte, dass sie zu wenig getrunken habe, in der Berichterstattung sofort als politische Schwäche ausgelegt: »Drei Zitteranfälle in drei Wochen – kann Merkel so noch die volle Leistung als Kanzlerin bringen?«3

Auch ich habe diese Erfahrung immer wieder gemacht. Egal, was im Privatleben passierte, die Funktion steht vor der Menschlichkeit. Mein Interview im Kreissaal ist nur eines von sehr vielen Beispielen dafür, welche Anforderungen ein Job in der Politik mit sich bringt. Wer Einfluss haben und etwas bewegen will, muss überall dabei sein und kann es sich nicht erlauben, sich rauszuziehen. So funktioniert Politik bis heute.

Ich glaube, dass die meisten Politiker*innen tatsächlich ein unheimlich hohes Maß an Resilienz haben müssen, also eine große psychische Widerstandskraft, um schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Sie müssen mehr aushalten. Mehr Belastung, mehr Gegenwind, mehr Kritik. Es sind Menschen, die gern auf der Bühne stehen und bereit sind, viel Verantwortung zu tragen. Menschen, die als Erste die Hand heben, wenn gefragt wird, wer sich kümmert, auch wenn ihnen der konstante Einsatz viel abverlangt.

Der Lohn für all die Herausforderungen ist ein Beruf mit Verantwortung und der Gewissheit, etwas bewirken zu können. Das Wissen, dass durch die eigene Arbeit anderen Menschen geholfen werden oder schädliche Politik beendet werden kann, wiegt so viel, dass es das Ungleichgewicht zwischen Arbeit und Erholung immer wieder in den Schatten stellt.

Selbst wenn einigen Politiker*innen hin und wieder auffällt, dass sich dieser Lebensstil auf Dauer negativ auf die Gesundheit auswirkt, so reden sie sich schnell ein, dies sei ja nur eine Phase, die in ein paar Wochen wieder vorüber sei. Doch Menschen sind keine Roboter. Auch Politiker*innen nicht. Und für alle Menschen gilt: Körperliche und geistige Ressourcen sind endlich.

Man kann jahrelang über den eigenen Leistungsgrenzen leben und die Symptome der Überlastung kaschieren. Doch selbst, wenn dies keine unmittelbaren Auswirkungen haben sollte, leidet auf lange Sicht doch die Lebensqualität – und damit auch die Qualität der Arbeit. Regeneration und die Pflege sozialer Kontakte sind kein Luxus, sondern eine Grundbedingung, um gesund zu bleiben. Im politischen Umfeld ist es dennoch oft schwierig, diese menschlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Die hohe Leistungs- und Einsatzbereitschaft verändert Menschen und macht sie weder gesünder noch sympathischer.

Es gibt beispielsweise Abgeordnete, die sogar mit schweren Entzündungen und Fieber zwölf Stunden am Verhandlungstisch sitzen. Eigentlich sind jegliche Kraftreserven aufgebraucht – und trotzdem powern sie weiter. Kein Wunder, dass dabei die Laune kippt: Es wird gemotzt, geschimpft und beleidigt. Diese Grundstimmung überträgt sich auf alle und das Arbeiten wird deutlich unentspannter. Auf Angriffe folgen Gegenangriffe, und statt Ergebnisse und Lösungen zu finden, schaukelt sich die unsachliche Diskussion hoch. Empathie und das Gefühl, an einem Strang zu ziehen, gehen schlimmstenfalls völlig verloren.

So traf ich einmal eine Kollegin morgens um 7 Uhr im Berliner Abgeordnetenhaus. Wir waren beide auf dem Weg zu einer Sitzung. Ich war extrem müde und erklärte ihr, dass ich unbedingt einen Kaffee brauche. Ich hatte »dank« einer Kombination aus viel Arbeit und schlaflosen Kindern gerade einmal drei Stunden geschlafen und stöhnte, wie anstrengend dieser Morgen sei.

»Mh«, machte meine...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2023
Co-Autor Anna Maas
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2023 • alle zeit buch • Allgemeinbildung • Arbeitsbedingungen • burnout in der politik • Die erschöpfte Gesellschaft • Die Grünen • eBooks • Frauen • frauenporträts, berühmte frauen • gesellschaftliche Transformation • Hochleistungs-Gesellschaft • kritik leistungsgesellschaft • Leistungsdruck • Mental Health • Neuerscheinung • new work • Politikbetrieb • Politiker-Biografie • politikerin buch • Resilienz • Sachbuch • Selbstliebe • Selbstreflexion • Teresa Bücker • was tun gegen stress • Work-Life-Balance
ISBN-10 3-641-30884-4 / 3641308844
ISBN-13 978-3-641-30884-1 / 9783641308841
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