Der Fluss und das Meer (eBook)
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01785-6 (ISBN)
Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Auf ihr Romandebüt Die gläserne Stadt, das 1983 erschien, folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter die Romane Nachtgeschwister und Irgendwo in diesem Dunkel. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, für Sie kam aus Mariupol wurden ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen. 2022 wurde sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Natascha Wodin lebt in Berlin und Mecklenburg.
Natascha Wodin, 1945 als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Fürth/Bayern geboren, wuchs erst in deutschen DP-Lagern, dann, nach dem frühen Tod der Mutter, in einem katholischen Mädchenheim auf. Auf ihr Romandebüt Die gläserne Stadt, das 1983 erschien, folgten zahlreiche Veröffentlichungen, darunter die Romane Nachtgeschwister und Irgendwo in diesem Dunkel. Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Hermann-Hesse-Preis, dem Brüder-Grimm-Preis und dem Adelbert-von-Chamisso-Preis ausgezeichnet, für Sie kam aus Mariupol wurden ihr der Alfred-Döblin-Preis, der Preis der Leipziger Buchmesse und der Hilde-Domin-Preis für Literatur im Exil 2019 verliehen. 2022 wurde sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Natascha Wodin lebt in Berlin und Mecklenburg.
Nachbarinnen
Ich weiß nicht, Frau Meisinger, ob Sie sich noch an mich erinnern. Es ist lange her, dass wir Haus an Haus wohnten, über ein halbes Jahrhundert, und ich bin nicht sicher, ob Sie mich, die junge Frau, die Ihnen damals von ihrem Balkon nebenan so oft böse Worte zuwarf, überhaupt jemals wahrgenommen haben. Sie haben nie auf meine Anwürfe reagiert, auch nicht auf die Anfeindungen anderer Nachbarn. Vielleicht sahen Sie uns alle gar nicht mehr, vielleicht gab es keine Brücke mehr zwischen Ihnen und der Außenwelt.
Sie wohnten hinter den Wucherungen Ihres Grundstücks in einer Art Laube, einem gemauerten Häuschen mit zwei winzigen Fenstern und einem Schornstein, aus dem im Winter Rauch aufstieg. Eigentlich waren Sie eine reiche Frau, aber das wussten Sie vielleicht gar nicht. Ihnen gehörte ein ziemlich großes Grundstück in einem exklusiven Villenvorort der bayerischen Landeshauptstadt, an ihren südlichen Ausläufern, eine Stunde entfernt von den Skipisten und den Seen. Sie blockierten mit Ihrer elenden Existenz hinter einem morschen Holzzaun Bauland von höchstem Wohn- und Freizeitwert. Sie waren ein Irrtum, ein Skandal in dieser Gegend, die Anwesenheit einer Realität, für deren Abwesenheit man hier ein Vermögen bezahlt hatte.
Wir, ein junges Ehepaar, waren wahrscheinlich die einzigen Mieter in der Straße, jung und besitzlos, vor Kurzem eingezogen ins Dachgeschoss einer kleinen, ockerfarbenen Villa, deren Fenster mit prachtvollen Geranien und Petunien geschmückt waren. Unten auf der Terrasse stand eine Hollywoodschaukel, in der Mitte des Gartens, der hinter dem Zaun in einen Wald überging, ein kleiner Holzpavillon, der nie benutzt wurde und dessen Zweck sich mir nie erschloss. Herr und Frau Stoiber, ein kinderloses Ehepaar, betrieben, bevor sie Rentner wurden, ein großes Blumengeschäft im Stadtzentrum, jetzt hatten sie die Patronage über zwei junge Leute übernommen, die für billige Miete unter ihrem schützenden Dach wohnen durften, in ihrer ersten gemeinsamen Wohnung. Frau Stoiber zeigte mir, wie man Leberknödel zubereitet und wie ich die weißen Hemden meines Mannes stärken und bügeln musste. Er gehörte zur ersten Generation von Programmierern in Deutschland und arbeitete in einer Niederlassung von IBM, ich war Stenotypistin im Büro einer Garnfabrik. An den Wochenenden durften wir abends bei unseren Wirtsleuten fernsehen, in einem großen Wohnzimmer mit Perserteppichen und einer moosgrünen Polstergarnitur, auf der auch Seppl einen festen Platz hatte, ein roter Langhaardackel, der Frau Stoibers Ersatzkind war und ständig versuchte, mich mit seinen kleinen, scharfen Zähnen ins Bein zu zwicken. Auf dem Couchtisch stand eine Kristallschale mit Salzletten, die Männer tranken Weißbier, für uns Frauen mixte Frau Stoiber zwei Blondies, Bluna mit Eierlikör, mein Lieblingsgetränk, das wir durch einen Strohhalm schlürften, während wir uns am Schwarz-Weiß-Fernseher einen Krimi ansahen. Ich fieberte immer Edgar-Wallace-Filmen mit Joachim Fuchsberger und Karin Baal entgegen.
Harald, der neben mir auf dem Sofa saß, hatte ich nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil er der einzige deutsche Mann war, der mich heiraten wollte. Durch ihn hatte ich endlich doch noch das Unerreichbare erreicht, sogar mehr als das. Ich wäre mit dem bescheidensten Lebensplatz zufrieden gewesen, hätte dieser Platz sich nur in der deutschen Welt befunden. Nun war ich durch meine Heirat im Alter von neunzehn Jahren über Nacht aus einem Nachkriegslager für slawische Untermenschen, ehemalige Zwangsarbeiter der Nazis, zu denen meine Eltern gehört hatten, in einem vornehmen Münchner Vorort gelandet, mitten im gehobenen, wohlhabenden deutschen Bürgertum, dem mir fernsten aller Sterne. Bis vor Kurzem noch war ich die Russenlusch, jetzt hatte ich die deutsche Staatsbürgerschaft und trug Haralds deutschen Namen. Immer wenn ich wegen meines verdächtigen Vornamens gefragt wurde, ob ich Russin sei, log ich und sagte, ich sei nach einer adeligen russischen Großtante benannt, die im alten St. Petersburg gelebt habe. In meinem Kleiderschrank hingen bayerische Dirndl, Faltenröcke aus Trevira und ein Abendkleid für meine Opernbesuche mit Harald. Zum ersten Mal seit meiner Geburt wusste in meiner deutschen Umgebung niemand, wer ich war und woher ich kam, zum ersten Mal war ich eine wie alle.
Mein neues Leben hatte nur einen einzigen kleinen Fehler, und der waren Sie, Frau Meisinger. Ausgerechnet an Ihr Grundstück grenzte das erste deutsche Haus, in dem ich wohnen durfte, an einem Ort, an dem nichts weniger zu erwarten gewesen war als jemand wie Sie. Sie sahen noch schlimmer aus als der menschliche Nachkriegsabfall, aus dem ich hervorgegangen war, Sie waren eine Steigerung dessen, was ich gerade hinter mir gelassen hatte, was ich mit aller Kraft vergessen, streichen, aus der Wirklichkeit tilgen wollte. Sie waren der tägliche Anblick des Abschaums, den ich gerade von mir abgestreift hatte, Sie waren das Gespenst meiner Vergangenheit, das mir auf die andere Seite der Welt gefolgt war, Sie waren mein veröffentlichtes Geheimnis, das ich in ständiger Angst vor Entlarvung verbarg. Sie waren ein tägliches Ärgernis für alle und insbesondere für mich.
In den letzten Wochen vor Ihrem Ende, Frau Meisinger, hatte man Ihnen Ihr Alter nicht mehr angesehen. In meinen damaligen Augen, den Augen der Jugend, waren Sie von Anfang an eine steinalte Frau gewesen, aber mit meinem heutigen Blick auf Sie erkenne ich, dass Sie wahrscheinlich nicht einmal fünfzig waren, als Sie starben. Man erzählte sich von Ihnen, dass Sie einst eine ausgesprochen schöne und gepflegte junge Frau gewesen seien, die hin und wieder kam, um ihre Erbtante zu besuchen, der das erbärmliche, damals noch zwischen Wiesen und Feldern stehende Häuschen gehörte, das erst nach und nach in die unaufhaltsamen Ausdehnungen der Großstadt geraten war. Sie seien immer elegant gekleidet gewesen, sagte man, schlank wie ein Reh, aber etwas Sonderbares hätten Sie schon damals an sich gehabt, etwas, das Sie von den anderen unterschied. Ihre Tante, eine wortkarge, verschlossene Frau, habe nie etwas über Sie erzählt, aber es sei bekannt gewesen, dass Sie weder verheiratet noch verlobt waren, und allein das verwunderte bei einer so attraktiven jungen Frau wie Ihnen. Niemand wusste, wovon Sie lebten, wie Sie das Geld für all die extravaganten Sachen verdienten, die Sie trugen, die feschen Blusen und die feinen Ledertaschen.
Irgendwann, so erzählte Frau Stoiber, hätten Sie die Besuche bei Ihrer Tante eingestellt, lange Zeit habe Sie niemand mehr gesehen. Erst nach dem Tod der Tante seien Sie eines Tages wiederaufgetaucht und hätten bald darauf die schäbige Behausung auf dem Nachbargrundstück bezogen. Schon zu dieser Zeit seien Sie bereits eine ganz andere gewesen, noch nicht so heruntergekommen wie heute, aber man habe schon deutlich gesehen, dass Sie nichts mehr auf sich hielten, dass Sie eine Asoziale geworden waren. Nach und nach seien Sie immer unansehnlicher geworden und nicht mehr auf die Straße hinausgegangen, unter die normalen Leute, und schließlich hätten Sie sogar aufgehört, sich anzuziehen, nur noch im Nachthemd würden Sie jetzt dort drüben herumstreichen und den Abfall vor die Tür werfen, sodass die Ratten kämen und die ganze Gegend schon verpestet sei von dem Gestank. Seit Jahren würden Sie dort drüben hausen wie ein Vieh, sagte Frau Stoiber, so etwas wie Sie hätte man unter Hitler vergast.
Ich kann Sie nicht mehr danach fragen, Frau Meisinger, was Ihnen im Leben zugestoßen ist, aber im Grunde muss einem ja nichts Besonderes zustoßen, um an der Welt zu verzweifeln. Ich weiß nicht einmal, ob Sie wirklich eine Verzweifelte waren, vielleicht wollten Sie nur einfach nichts mehr mit den anderen zu tun haben, Ungeheuern in der Art Ihrer Nachbarn, und wären die nicht gewesen, wären Sie mit Ihrem aufgegebenen Leben vielleicht nicht einmal unglücklich gewesen, einem Leben ohne Hoffnungen, die die Quelle aller Enttäuschungen sind. Sie waren wahrscheinlich eine bereits endgültig Ent-täuschte, Sie hatten alle Verluste schon hinter sich, Ihnen gehörte nur noch das erbärmliche Häuschen, das Ihrem verwilderten Körper Zuflucht bot und nur den Fehler hatte, dass es an einer falschen Stelle stand.
Ich sehe Sie noch heute deutlich vor mir, von keiner anderen Stelle aus konnte man in Ihr Grundstück besser hineinsehen als von meinem Balkon im Nachbarhaus, über den morschen, vermoosten Holzzaun, hinter dem der Wildwuchs herrschte. Alte, knorrige Obstbäume, die kaum noch Früchte trugen, Buschwerk, Gestrüpp und andere, unkenntlich gewordene Gewächse hatten sich zu einem urwaldähnlichen Dickicht verschlungen, dessen Wucherungen haltlos in die Nachbargärten drängten, in denen die Ränder des frisch gemähten Teppichrasens mit Nagelscheren begradigt wurden. Büsche und Bäume warfen ihr Laub auf das gehegte Territorium der anderen ab, erdrückten mit ihren Schatten die Frühlingstulpen und Krokusse, wilde Triebe krochen in die akkurat geschnittenen Hecken, fraßen sich hinaus auf den Bürgersteig, wo sie den Asphalt aufbrachen, und im Herbst, wenn die Bäume sich zu schütteln begannen in den ersten stürmischen Nächten, ertrank die halbe Straße im Laub aus Ihrem Garten. Der Wind wehte es auf die soeben gerechten Rasenflächen, vor die Haustüren an der soeben gefegten Straße. Sie fegten nie, Frau Meisinger, Ihnen war das Laub, das vor Ihrem Gartentor verfaulte, schnurzegal.
Sie waren eine Verschwindende, aber genauso wie Ihr Garten verschwanden Sie durch Ausdehnung, durch eine zunehmende, immer maßloser werdende Körperfülle, die alles an Ihnen zum Verschwinden brachte, was man gemeinhin ein...
Erscheint lt. Verlag | 12.12.2023 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Asowsches Meer • Außenseiter der Gesellschaft • Autobiografisch • Deutschland • Einsamkeit • Erzählungen • Freundschaft • Heimatlosigkeit • Herkunft • Joseph-Breitbach-Preis • Literatur • Musik • Preis der Leipziger Buchmesse • Regnitz • Reisen • Sie kam aus Mariupol • Soziales Elend • Sri Lanka • zwischenmenschliche Beziehungen |
ISBN-10 | 3-644-01785-9 / 3644017859 |
ISBN-13 | 978-3-644-01785-6 / 9783644017856 |
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