Andy Africa (eBook)
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01084-0 (ISBN)
Stephen Buoro wurde 1993 in Nigeria geboren. Er absolvierte ein Studium des Creative Writing an der University of East Anglia mit einem Stipendium der Booker Prize Foundation Scholarship. Gegenwärtig lebt er in Norwich. Andy Africa ist sein Romandebüt.
Stephen Buoro wurde 1993 in Nigeria geboren. Er absolvierte ein Studium des Creative Writing an der University of East Anglia mit einem Stipendium der Booker Prize Foundation Scholarship. Gegenwärtig lebt er in Norwich. Andy Africa ist sein Romandebüt. Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem Colum McCann, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.
I Die Todesangst im Garten
Definition: Eine Permutation ist die eineindeutige Abbildung einer Menge auf sich selbst.
1
Dear White People,
ich liebe weiße Mädchen. Besonders blonde. Blonde, die einen Pferdeschwanz tragen und einmal in der Woche Zöpfe. Ist das ein Fetisch? Keine Ahnung. Ich bin mir einfach ziemlich sicher, dass ich mal ein weißes Mädchen heirate, ein blondes. Ob ich Schwarze Mädchen hässlich finde? Natürlich nicht. Das hieße ja, Mama wäre hässlich. Und das sagt niemand ungestraft.
Das Problem ist: Ich habe keine Ahnung, wie blonde Mädchen eigentlich sind. Ja, ich habe eine Million Hollywoodfilme auf illegalen DVDs gesehen. Mein Telefon ist eine Datenbank aus Blondtönen, weil ich an keinem Bild von einer Blonden vorbeikomme, ohne es runterzuladen. Ich habe genau zweiundsiebzig blonde Freundinnen auf Facebook. Und abends, wenn alle im Schlafexpress in Richtung Mars fliegen, suche ich auf Pornhub nach blonden Schamhaaren und lege Hand an usw.
Aber ich habe noch nie ein blondes Mädchen in echt gesehen. Das hier ist Afrika. Und der Blondenanteil beträgt hier 0,001 Prozent.
Ich hasse mich dafür, dass ich euch mein 64000-Dollar-Geheimnis verrate. Meine Mama, müsst ihr wissen, ist dunkler, als ihr euch vorstellen könnt. Haut dunkel wie Brombeeren, Hände rau wie Schmirgelpapier, Küsse feucht und kühl wie Lipgloss. Zweimal wurde ihr der Bauch aufgeschnitten: das erste Mal, als Ydna sich weigerte, geboren zu werden, das zweite Mal bei meiner Geburt. Sie haben ihr den Bauch aufgeschnitten, damit ich diese verdammte Welt betreten konnte. Und sagen kann, dass ich auf Blonde stehe! Papa kenne ich nicht. Aber Mama hat mich, solange ich denken kann, mit Liebe überschüttet. Mir Ohrläppchen und Lider abgeschleckt. Und zum Dank sage ich, dass ich lieber Blonde mag. Obwohl ich noch nie einer begegnet bin!
Krass.
Ich meine, ich hasse mich nicht. Aber ihr versteht schon.
Ydna hasst es, wenn ich von blonden Mädchen rede, da bin ich mir sicher. Er kam zwei Jahre vor mir aus Mama. Wie eine Holzfigur. Der offene Mund stumm. Kein Herzschlag in seiner Brust. Ich weiß, dass ich und er irgendwie eins sind. Dass ich einen Blick auf diese Welt warf, sah, wie beschissen sie war, und wieder umkehrte. Jeden Tag fühle ich ihn, um mich, in mir. Seine Wut pulsiert in meinen Adern, sein Atem schäumt unter meiner Haut. Er muss so etwas wie meine andere Seite sein. Weil er mir Sachen über mich erzählt, die ich nicht hören will.
Ich stehe trotzdem auf Blonde. Jede Haarsträhne wie eine lange, süße Sonne. Haare wie Wellenkreise, die einander übers Wasser jagen. Ich schwöre, ich kann in jeder Strähne mein Gesicht sehen. An den meisten Abenden gehe ich hungrig ins Bett. Ich liege auf meiner abgeranzten Matte in unserem abgeranzten Wohnzimmer ohne Strom. Schiebe mit letzter Kraft die Hand in meine Unterhose und denke an blonde Mädchen. Eine friedliche Ruhe strömt dann von meinem Herzen durch meinen Bauch bis zu den Füßen. Und ich bin satt. Schlafe zufrieden ein. Wie ein Junge, der ein Dutzend Cheeseburger verdrückt hat, obwohl ich gar nicht weiß, wie die Dinger schmecken. Ich schlafe in dem Bewusstsein ein, dass die Zukunft mir gehört.
Ein fünfzehnjähriger afrikanischer Ministrant und genialer Dichter, der auf Blonde steht, ist weder ein Krimineller noch ein Rassist noch ein Verräter.
Nur ein lieber, cooler, bedauernswerter afrikanischer Junge.
Offenbar stellt Gott meine Schwäche für blonde Mädchen auf die Probe. Denn ausgerechnet jetzt, wo ich überall und immer von ihnen träume, sogar während der Messe, kommt Eileen nach Kontagora. Isaiah erzählt Mama und mir von ihr.
«Sie ist nicht aus Ikeja oder von der Obudu Ranch», sagt er, als wäre Mama und mir entgangen, dass ihr Name ausländisch klingt. «Sondern aus England. Aus Father McMahons Heimat. Sie ist nämlich seine älteste Nichte.»
Das ist typisch für Isaiah mit seinem glänzenden, rasierten Kopf und den dauerroten Augen: jede Menge überflüssige Informationen. Er ist Father McMahons Koch. Dauernd bettelt er beim Father um englische Chips, Zahnpasta, Sahne. Fragt ihn dauernd nach Schnee: «Schmeckt er süß wie Eiscreme? Lecken Hunde ihn auf?»
Er hängt mit übergeschlagenen Beinen in dem Plastikstuhl, den wir Gästen anbieten. Vor ihm auf dem Tisch steht unberührt ein Becher Wasser, eine Fliege umschwirrt den Becher, unschlüssig, weil keine Fanta drin ist. Ein leichter Schweißgeruch trennt Mama und mich. Wir sitzen auf dem Sofa, tun so, als würden wir die Täler und Schluchten darin nicht fühlen oder die Ameise nicht bemerken, die im Zickzack über die Armlehne läuft. Bei der Fußmatte macht sich eine ganze Ameisenflotte an einer toten Küchenschabe zu schaffen. Sie ziehen und treten. Rufen fluchend nach Verstärkung. Wenn Mama die Ameisen sieht oder, noch schlimmer, die Schabe, klatscht sie mir auf den Rücken, weil ich das Wohnzimmer nicht ordentlich gefegt habe.
Es ist Sonntag. Wir sind gerade zurück von der Messe, uns brennt von der brutzelnden gelben Sonne noch der Nacken. Mama hasst Sonntage. Da muss sie das Fotostudio schließen und verdient kein Geld. Weil jeder in der Stadt, sogar die Imame in unserer Straße, erwartet, dass sie den siebten Tag heiligt.
In unserem Viertel gibt es wie in den meisten Vierteln der Stadt Kirchen und Moscheen. Manche waren mal Läden und haben noch die alten Fenstergitter und Regale, andere sind in dunklen, stickigen ehemaligen Lagerhallen. Wir hören die Gemeinde der Soul-of-Christ-Church beim A-cappella-Gesang. Sie singen Bass und Sopran, rufen schreiend wie Almajirai die Erzengel Michael und Uriel an, das Himmelstor zu öffnen und Feuer herabzuschicken, Afrika mit Gottes Gnade zu überschütten. Bei ihnen wird weder geklatscht noch getanzt, und Musikinstrumente gibt es auch keine. Weil all das ins Höllenfeuer führt. Weil Christus und seine Jünger nicht geklatscht oder auf der Gitarre geklimpert haben, weil Gott nicht tanzt. Ich frage mich, ob Christus und seine Zwölf auch mit so hungrigen, hilflosen Stimmen a cappella gesungen haben, ob Christi Stimmlage Bass war und Judas’ Falsett.
Wir hören Trommelwirbel und den Makossa-Chor, der vom apostolischen Glauben singt, die Leadsängerin stößt das «Devil shame on you» hervor wie eine Mutter, die ihren missratenen Sohn anspuckt, mit ihrem kalten Speichel all die verschwendete Liebe, all das verschwendete Herzblut zurückfordert. Wir spüren die Ekstase der Backgroundsänger, die Erregung der Gemeinde.
Isaiah fächelt sich mit dem Liedblättchen vom heutigen Gottesdienst Luft zu. «Sie ist sehr weiß, müsst ihr wissen», sagt er und guckt dabei extra für uns mehrmals auf die rostige Armbanduhr, die Father McMahon ihm geschenkt hat. «Total weiß, so wie Kreide. Ganz anders als Father McMahon, den unsere böse Sonne zum roten Mann gemacht hat.»
Er streicht den Kragen seines englischen Polohemds mit dem London Eye auf der Brust glatt. Nimmt das Bein vom Knie, beugt sich vor.
«Und sie hat langes Haar. Wie Weißgold. Im Ernst.» Seine großen Augen glänzen, als könnte er ihre Haare stehlen und reich damit werden. «Die Farbe heißt blond. Oder Platin? Egal, sie ist jedenfalls ein gutes Mädchen. Wie alle Weißen hat sie Geschenke aus England mitgebracht. Stellt euch vor, meine Kleine hat ein Stoffkaninchen bekommen. Und ich dieses Hemd. Ein guter Mensch, ich sag’s euch. Wie alle Weißen.»
Sein Blick schnellt von mir zu seinem Nokia und wieder zurück. Durchdringend. Die Augen röter denn je.
«Was guckst du mich so an, Junge?», sagt er. «Ich bin nicht sie, weißt du?»
Mama lacht. Ihre vom Palmöl fleckigen Zähne blitzen auf. «Da musst du dir keine Sorgen machen, Bro Isaiah.» Sie klopft mir auf die Schulter. «Andrew mè heiratet mal ein Mädchen, das so Schwarz ist wie ich. Nicht wahr, Andy?»
Sie zwinkert mir zu.
Ich ringe mir ein Lächeln ab. Aber das leichte Funkeln in ihren Augen verrät mir, dass ihr Lachen nur Show ist, dass sie nicht daran glaubt, dass ich mal ein Mädchen wie sie heirate.
Mein Blick wandert. Das Schränkchen aus poliertem Holz. Darauf der Fernseher. Im Glas unsere verkleinerten Spiegelbilder. Daneben der Tischkalender mit dem Foto von Father Achis Priesterweihe – er zwischen schwebenden goldenen Kelchen, die Handflächen gottesfürchtig zusammengepresst wie eine Flamme. Dann: der Riss in der blauen Wand, das Kreuz mit dem bleichen Jesus, aus dessen Händen, Füßen und Seiten hellrotes Blut tropft.
Oft denke ich, dass Mama gar nicht meine richtige Mutter ist, weil ich so gar nichts von ihr habe. Ihre Haut sieht für mich so schwarz aus wie Kohle, meine mehr schokoladenfarben. Ihre Augen sind dunkelgrau, meine braun. Sie hat Grübchen, ich habe hohe Wangenknochen. Sie liebt es, in den Spiegel zu gucken und zu fotografieren; ich meide Spiegel und verstecke mich bei Gruppenfotos ganz hinten. Sie summt Lieder, ich höre weg. Ich checke in Filmen blonde Mädchen ab, sie befiehlt mir, jeden Film auszustellen, in dem auch nur ein blonder Junge auftaucht.
Vielleicht bin ich wie Papa. Verdammt, ich will endlich wissen, wer er ist.
seine staubigen füße
seine dröhnende stimme
seine hand auf meiner schulter
Aber Mama weigert sich standhaft, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren.
Was soll’s, es interessiert mich...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2023 |
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Übersetzer | Volker Oldenburg |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Afrika • Afrikanische Literatur • Afrofuturismus • Alleinerziehende Mutter • Armut • Black Power • Bürgerkrieg • Coming-of-Age-Roman • Familienroman • Gegenwartsliteratur • Gesellschaftskritischer Roman • humorvoller Roman • Kolonialgeschichte • Kolonialismus • Liebe • Mutter Sohn Beziehung • Nigeria • Romane 2023 • Romane Neuerscheinung • Satiere • Satire • Teenager • The Five Sorrowful Mysteries of Andy Africa • Zeitgenössische Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01084-6 / 3644010846 |
ISBN-13 | 978-3-644-01084-0 / 9783644010840 |
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