Die Angst vor Nähe (eBook)

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2023 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01060-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Angst vor Nähe -  Wolfgang Schmidbauer
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«?Die Angst vor Nähe? ist ein anregendes, manchmal aufregendes Buch. So wie Schmidbauer die Muster unserer Beziehungen aufdeckt, können viele Leser sich selbst und ihr zwanghaftes Verhalten, den Partner nach dem eigenen Bild umformen zu wollen, wiedererkennen. Schmidbauer ist auf der Suche nach den einfachen Gefühlen: nach der Fähigkeit, sich einem anderen zu öffnen und seine Andersartigkeit anzunehmen ...» (WDR 2)

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis.Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis. Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften. Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

2 Wartezeiten


Als er erkannte, daß sie nicht zueinanderpaßten, beschloß er, von ihr Abschied zu nehmen. Aber das zog sich noch eine Weile hin. Er brauchte dazu ein ganzes Leben.

Anton Kuh[4]

Nachdem ich die Arbeit am ersten Kapitel abgeschlossen hatte, kam Beate in ihre Stunde. Sie war guter Dinge. Ihr Vater, den sie lange Zeit als kalt und uninteressiert erlebt hatte, hatte sich von einer anderen Seite gezeigt. Er war bereit gewesen, sie mit ihrer Tochter auf eine Reise mitzunehmen, obwohl sie immer gedacht hatte, er sei nicht an Kindern interessiert. Wir kamen darauf zu sprechen, wie sie ihren Ehemann kennengelernt hatte. Ein Freund Beates, den sie während des Studiums kennengelernt hatte, war tödlich verunglückt. Sie fühlte sich schuldig. Er wollte eigentlich mit ihr in Urlaub fahren. Sie lehnte das ab, weil ihre Eltern dagegen waren. Nun wollte sie in eine andere Stadt. Ihr künftiger Mann nahm sie in seinem Auto mit. Sie sprachen auf der Fahrt viel miteinander. Dann ging sie auf ein Fest, wo viele Freunde sie nach dem Tunesier fragten: «Wo ist denn dein netter Freund?» Sie konnte diese Fragen nicht mehr ertragen, lief fort und fuhr weinend auf dem Rad durch die Stadt – zu dem Fahrer. So begann ihre Beziehung. Als das erste Kind geboren war, erhoffte sie von ihrem Partner Hilfe. Er zog sich hinter seine Bücher zurück. «Wenn ich krank war und nicht mehr kriechen konnte, kam er um eins und sagte: ‹Gibt’s was zum Essen?› – ‹Du siehst ja, daß ich nicht kann›, sagte ich. ‹Dann komme ich später wieder›, sagte er. Ich habe getobt. Aber ich habe mich nur abreagiert und nichts geändert. Ich habe immer gewartet, daß es anders wird, viel zu lange.»

Zu dieser Wartesituation fällt Beate ihre Mutter ein. «Es war immer so. Ich weiß nicht warum. Ich habe gehofft, daß sie einmal kommt, wenn ich krank im Bett lag. Aber sie ist nie gekommen. Manchmal lag ich den ganzen Tag. Am Abend hat sich das Hausmädchen gewundert, daß das Frühstückstablett noch dastand. Da habe ich gedacht, ich muß mal so richtig krank werden, daß sie sich um mich kümmert. Neulich habe ich die Kinderbücher wieder gesehen, die mir meine Mutter geschenkt hat. Sie hat immer reingeschrieben, welche Krankheit ich da hatte. Es ist wie mit meinem Ex-Mann. Da hab ich auch immer gedacht, er versteht mich irgendwann. Oder mit Vater. Entweder muß er mir alles geben, ohne daß ich etwas sage, oder ich will nichts, ich kann mir überhaupt nicht mehr vorstellen, daß er das geringste Interesse für mich hat.»

«Ihr Vater ist weder ganz nah noch ganz fern», sage ich. «Er gibt Ihnen nicht alles, was sie bräuchten, aber er ist auf seine Weise bereit, Ihnen etwas zu geben, wie Sie ja jetzt gesehen haben.» – «Aber wie kommt es nur, daß ich so viel verlange und denke, ich kann es gar nicht sagen, weil ich ja doch nichts kriege?» – «Ich glaube, Sie haben sich als das letzte von den fünf Geschwistern so übersehen und mißachtet gefühlt, daß Sie die gute, ideale Mutter, die Sie sich so gewünscht hätten, in Ihrer Phantasie erschufen. Die reale Mutter, die nur noch wenig Zeit und Kraft übrig hatte, schien Ihnen dann wertlos. Dem Vater, aber auch Ihrem Mann ist es ähnlich gegangen. Deshalb konnten Sie sich auch so lange nicht trennen, nicht von den Eltern und nicht von ihm: Sie haben die Sehnsucht nach dieser guten, idealen Mutter behalten und wollten sie immer noch finden, auch wenn Sie von der wirklichen Mutter jedesmal enttäuscht wurden.» – «Da fällt mir ein, daß ich als Kind jeden Abend geglaubt habe, jemand hat mir ein Bonbon unters Kissen gelegt. Ich bin immer schlafen gegangen und habe nachgesehen. War keines da, aber vielleicht morgen! Das habe ich sehr lange gemacht. Einmal war ich bei einer Tante. Sie war in der Familie nicht beliebt, weil sie so extravagant war. Da habe ich an einem Abend eine ganze Bonbonniere unter dem Kopfkissen gefunden.»

Dieser Einfall weist darauf hin, wie solche Phantasien überleben. Die reale Enttäuschung durch die Mutter und andere Menschen – den Vater, den Ehemann – führt dazu, daß sich eine Phantasie von wunschlosem Glück, von idealer Erfüllung bildet. Sie nährt sich aus den Enttäuschungen, die den Betroffenen in der Wirklichkeit widerfahren. Es ist so, als ob sich für Beate jedes entgangene Bonbon, das sie unter dem Kissen vermißte, endlich in der gefüllten Bonbonniere wiederfindet. Gegenüber dem Ehemann war es später so, daß jede Leistung für ihn, jede Rücksichtnahme das geheime Ideal nährte, endlich doch noch die gefüllte Bonbonniere zu finden. Umgekehrt entsprach die dienende Fürsorge auch einer Buße für soviel Anspruch und Bedürftigkeit. Diese Helfer-Schützling-Beziehungen zerbrechen dann, wenn die Einsicht entsteht, daß die auf eine schönere Zukunft ausgestellten Wechsel nicht eingelöst werden. Im Gegenteil: die wirkliche Beziehung polarisiert sich. Der Ehemann wird, anstatt sich irgendwann als ideale, fürsorgliche Mutter, idealer, liebender Vater, vollkommener Geliebter zu entpuppen, immer mehr zum anspruchsvollen Baby. Aber die Trennung von ihm würde auch bedeuten, auf die Utopie der Erfüllung zu verzichten und sich einzugestehen, daß man selbst ein Stück dieser gefräßigen Made in sich trägt.[5]

Mittags in der Therapeutengruppe unserer Praxisgemeinschaft stellt ein Kollege eine Frau vor, die mich an Beate erinnert. Sie hat sich vor einiger Zeit von ihrem alkoholkranken Mann getrennt und muß jeden Monat noch einige hundert Mark seiner Schulden zurückzahlen. Ihr gegenwärtiges Problem ist eine enge Freundin, die gerade ihren Abschluß an der Meisterschule für Mode macht. Diese Freundin lebt praktisch in ihrer Wohnung. Ihre Bude ist ihr zu ungemütlich. Sie leert den Kühlschrank, benutzt das Telefon, lädt ihre Freunde ein, läßt alles liegen. Zur Rede gestellt, läuft sie gekränkt weg. Auch diese Klientin kann die Made in ihrem Speck nicht loswerden. Sie kann ihren Wohnungsschlüssel nicht zurückfordern. Sie beklagt sich, aber sie ändert nichts. Was den Therapeuten am meisten verblüfft, ist die Aussage der Klientin, wenn sie einmal wirklich den Schlüssel zurückfordere, dann sei sie voller Angst, ihre Freundin nie wiedersehen zu wollen. «Ich könnte verstehen, wenn sie fürchtet, daß die Freundin sie nie mehr sehen will», sagt er. «Aber daß sie selbst dann für immer Schluß macht? Das habe ich nicht verstanden.» Der Kollege ist bedrückt. Die Spannung lockert sich etwas, als die übrigen Teilnehmer anfangen, ihre Phantasien zu beschreiben, was denn der Klientin das Verhalten nützt, an dem sie wider ihr und des Therapeuten besseres Wissen festhält.

«Sie kann die ganzen Teile von sich, die jetzt ihre Freundin ausdrückt, aus sich selber draußen lassen», sagt eine Therapeutin. «Es erinnert mich, wie inkonsequent ich gegen die Schlamperei meiner Tochter war, manchmal ganz streng und dann wieder ganz großzügig. Sie hat mir da was abgenommen.» Ein anderer sagt: «Sie würde ihre ganze Identität verlieren, ihr Selbstbewußtsein, daß sie die Gute und Tolerante ist. Alles Negative kann sie der Freundin zuschieben … Es erinnert mich an meine Ehe. Wir haben fünf Jahre furchtbar um die Scheidung gestritten, weil ich einfach nicht mit den gemeinen, schmutzigen Mitteln kämpfen wollte, die meine Frau anwandte. Ich doch nicht! Und dann hat mir meine Freundin gesagt, sie wäre genauso böse, wenn ihr immer alles Schlechte hingeschoben würde. Da hab ich angefangen, auch unfair zu werden, und nach drei Monaten waren wir geschieden. Aber ich habe es lange nicht verkraftet. Ich wollte doch immer der Gute sein!»

«Wenn jemand in meine Wohnung kommt und mir meinen Kühlschrank leerfrißt, gibt es zwei Möglichkeiten: Ich kann ein Schloß an meinen Kühlschrank hängen, oder ich kann in seine Wohnung gehen und seinen Kühlschrank leerfressen.» Mein Kollege, selbst ein sehr hilfsbereiter Mensch, der sich nicht leicht etwas nehmen kann, blickt mich zweifelnd an. «Meinst du wirklich? Ich weiß nicht, ob das stimmt.» Ein anderer sagt: «Natürlich stimmt das. Erst wenn sie auch etwas nimmt, kann sich das ausgleichen.» – «Aber die andere hat ja gar keinen Kühlschrank», sagt mein Kollege triumphierend. «Es geht doch um die Bereitschaft – zu warten und zu geben, oder sich etwas zu nehmen», meine ich. «Es fällt ihr eben schwer, den anderen als jemanden zu erleben, der nicht nur fordert, sondern auch gibt. Das ist ein innerer Vorgang. Ein gutes Objekt im Inneren, das erst Wünsche an die äußeren Objekte ermöglicht. Diese Frau kann es nirgends finden. Sie ersetzt es durch die Neigung, sich ausnehmen zu lassen wie eine Weihnachtsgans. Daher hat sie auch Angst, daß von ihr aus alles vorbei ist, wenn sie damit aufhört.»

«Das Warten! Mich beschäftigt dieses Warten», sagt ein Kollege. «Es ist unglaublich, worauf Menschen immer warten. Sie trennen sich nicht, sie kämpfen nicht, sie warten. Gelegentlich äußern sie ihre Enttäuschung – und warten. Warten auf Godot.» – «Ich warte zur Zeit auch, auf die Weihnachtsferien. Wenn sie nur schon da wären. Mir reicht’s wirklich», stöhnt eine andere. «Mir fällt zum Warten eine Geschichte von Heinrich Böll ein, über die meine Tochter gerade eine Textanalyse schreiben muß – gerade darüber. Ihr kennt die Pointe sicherlich. Da sieht ein Urlauber am Strand von Capri einen Fischer faul in seinem Boot liegen. Er knüpft ein Gespräch an, das sich so entwickelt, daß der Erholungsuchende dem trägen Südländer einen Plan entwirft, mehr zu fischen, weitere Boote zu...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Partnerschaft / Sexualität
Schlagworte Einsamkeit • Muster • Partnerschaft • Zwangsvorstellungen
ISBN-10 3-644-01060-9 / 3644010609
ISBN-13 978-3-644-01060-4 / 9783644010604
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