Die Sprache der Sonne (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
331 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-80005-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Sprache der Sonne - Matthias Göritz
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Die junge Amerikanerin Lee, unruhig, frisch getrennt, reist auf der Suche nach der Vergangenheit ihrer Großmutter nach Istanbul. Helene Bischoff hatte sich als deutsche Jüdin in den 30er Jahren vor der Verfolgung durch das NS-Regime dorthin gerettet. Damals bot Kemal Atatürk großzügig Juden Asyl in der Türkei, er hatte vor allem Intellektuelle, Ingenieure, Ärzte und Juristen im Blick, die mithelfen sollten, die radikale Modernisierung der Türkei voranzutreiben. Lee entdeckt in Istanbul, dieser geschichtsträchtigen und überbordenden Megacity zwischen Orient und Okzident, dass der ehemalige Weggefährte und zeitweilige Geliebte ihrer Großmutter, der Journalist und Agent Georg Naumann, immer noch lebt, weit über hundert Jahre alt. Was verbindet ihn mit Helene und vielleicht sogar mit ihr, Lee? In diesem spannenden, facettenreichen Roman erleben wir die Gewalt der Geschichte, die Macht der Liebe und Istanbul als Labyrinth und Rettung. Kenntnisreich und sinnlich - der neue, große Roman von Matthias Göritz.

Matthias Göritz lebt in St. Louis, wo er an der Washington University lehrt. Er ist Lyriker, Übersetzer und Theaterautor und veröffentlichte die Romane "Der kurze Traum des Jakob Voss" (2005), bei C.H.Beck "Träumer und Sünder" (2013) und "Parker" (2018) und zuletzt u.a. den Gedichtband "Spools" (2021). Er erhielt den Mara-Cassens-Preis, den William H. Gass Award und den International Pretnar Award.

Teil I

Das Wunder


Istanbul, Januar 2016


11:11 blinkt es auf dem Display des Radioweckers in ihrem Eckapartment in den Emre Pascha Suites. Sie hat nicht gedacht, dass sie um diese Zeit noch im Bett liegen würde, aber der Flug gestern und die lange Fahrt mit dem Taxi von der asiatischen Seite nach Galata hatten sie angestrengt.

Sie hatte es bis zum letzten Abend aufgeschoben, Ayaz zu sagen, dass es aus war. Ihre Sachen hatte sie in den letzten Wochen heimlich in drei riesige Koffer gepackt, vor allem die schwere Winterkleidung aus den Secondhandshops in Berlin. Ein kleiner Lagerraum war gefunden, die Miete fürs Zimmer, es sollte doch eigentlich nur eine Zweck-WG sein, würde sie noch für weitere drei Monate zahlen. Ihr Fulbright-Stipendium lief bis Mai. Ihre CDs, die sie in Ayaz’ Zimmer auf dessen Denon-Anlage gehört hatten, während sie sich liebten oder ihre Ausflüge ins Nachtleben planten, wollte sie ihm schenken. Ayaz sagte nichts, dann kamen ihm die Tränen, später folgte der Wutausbruch. Als Lee mit ihrem Reisegepäck unten an der Straße aufs Taxi wartete, begannen die ersten Aimee Manns, Kruder und Dorfmeisters, Lali Punas und Barbara Morgensterns durch den kalten Berliner Nachthimmel zu segeln. Hart prasselten die Plastikhüllen auf die Autodächer, die Silberscheiben flogen noch weiter und spiegelten das Licht, wenn sie durch den Schein der Straßenlaternen rauschten wie dankbare Blicke zurück. Lee sah zum Fenster hoch. Ayaz war vom Fenstersims wieder ins Zimmer getreten. Wahrscheinlich für Nachschub. Sanft flatterte ein Booklet an Lees Kopf vorbei, die Textseiten wirbelten wie die schönen Tänzer in ihren Gazeshirts auf Dr. Mottes Loveparades. Lost in Space. Die hatte sie immer besonders gemocht, der Song war auf Endlosschleife gelaufen, als sie nach dem Abend im Arkadasch im gemeinsamen Wohnzimmer gesessen hatten, ganz nah beieinander. Ihre Beine hatten sich berührt, es war wie ein Stoß aus elektrischer Energie gewesen, dann hatten sie getanzt. Baby kiss me like a drug/like a respirator, Ayaz warf weitere CDs herunter. Eine der scharfkantigen Hüllen schlug auf der Haube eines Daimlers auf. Die Alarmanlage begann zu quäken. Dann kam ihr Taxi.

Sie ist noch zu müde, ihre Maschine war erst nach Mitternacht, aus Berlin kommend, auf dem Flughafen Sabiha Gökçen gelandet. Die Luft auf dem Flugfeld, sie waren auf einer Außenposition zum Halten gekommen und mussten in Busse umsteigen, war erstaunlich kühl gewesen. Lee war froh, dass sie warme Sachen dabeihatte. Die Einreiseformalitäten verliefen unkompliziert, als Amerikanerin brauchte sie für die ersten neunzig Tage kein Visum. Der Beamte, der ihren blauen Pass mit großer Sorgfalt durchblätterte, bis er endlich die richtige Seite für den Einreisestempel gefunden zu haben schien, hatte zum Schluss sogar freundlich gelächelt und ihr auf Englisch ein «Welcome to Istanbul» mit auf den Weg gegeben. Sie hatte sich an den Duty-free-Ständen, die neben den Gepäcklieferbändern aufgebaut waren, noch ein Parfüm gekauft, Alien. Der Name und das merkwürdige, kronenartige Helmgesicht als Flaschenkopf auf dem violetten Körper der kleinen Flasche gefielen ihr. Sonnengöttin. Kriegerin. Etwas Machtvolles war von der Flasche ausgegangen und hatte sich auch in dem Duftkörper auf ihrem Handgelenk ausgebreitet. Sie hatte vor der Beziehung mit Ayaz eigentlich nie Parfüm benutzt, er hatte ihr zwei sehr schöne Flaschen geschenkt, Opium und J’adore, die er wunderbar zu ihrer Haut passend fand, nun hatte sie plötzlich Lust, sich ein neues zu kaufen. Wie einen Talisman. «Very warm», sagte die Verkäuferin und lächelte trotz der späten Stunde geduldig. «You can refill.» Während der stundenlangen Fahrt im Taxi roch Lee immer wieder an ihrem Handgelenk, merkte, wie groß die Stadt wirklich war und wie fremd. Bereits während des Anflugs war ihr beim Blick aus dem Fenster die schier endlose Wüste aus Lichtern mit dunklen Flecken dazwischen aufgefallen, jetzt, von unten, sah sie die noch unbebauten Täler oder Hügel. Sie sind im Irrtum, sie bauen und bauen … Hatte sie diese Zeile nicht vor Kurzem noch in Berlin gehört?

Der türkische Taxifahrer, der ihr erst begeistert in schlechtem Englisch von seiner russischen Frau erzählte, von der er sich nun leider scheiden ließ, what a pity, von einem schnalzenden Lippenlaut begleitet, als wollte er seine Verachtung über ein missratenes Gericht zum Ausdruck bringen, hatte lange vergeblich nach dem «Hotel» gesucht, fuhr durch enge Gassen voller Plastik und Kartonagen an gespenstisch verriegelten Läden mit Graffititoren vorbei, fragte dann ein paar Jungen, die an einem spät nach Mitternacht noch geöffneten Kiosk an ihren Liefermofas lehnten. Die zuckten auch nur mit den Schultern. Aber dann standen sie davor, gar nicht so weit von der Metrobrücke entfernt, im Hang unterhalb Galatas. Im «Hotel» hatte Gott sei Dank noch eine Frau mit blond gefärbtem Haar auf sie gewartet, ihre Daten in den Computer eingetragen, ihr den Schlüssel zu ihrem Apartment mit Küchenzeile und das Internetpasswort ausgehändigt und ihr überaus herzlich Welcome to Istanbul gewünscht. Lee hatte den schweren Koffer allein die Treppe hinaufgeschleppt, der Aufzug funktionierte nicht, und die Frau an der Rezeption, Melek Hanım?, war schon wieder von dem formlosen Schreibtisch mit dem Registrationscomputer verschwunden. Lee trat in ihr Eckapartment, ließ den Koffer und die Laptoptasche fallen, öffnete das Erkerfenster, ließ Luft in das stickige Zimmer, streifte die Schuhe ab und legte sich angezogen aufs Bett. Das alles hatte sie mehr angestrengt, als sie sich selbst eingestand. Die ganze Aufregung der letzten Tage …

Das Hämmern, Klirren, Reden, Hupen begann im Morgengrauen, sie war aufgewacht, aber noch zu müde, wieder eingeschlafen, doch der Lärm hielt sie zusammen mit der Müdigkeit in diesem Folterkreis von Schlafen und Hochschrecken gefangen – wo war sie hineingeraten? 11:11. Sie schlägt die Decke zurück, sie trägt nur Unterwäsche, hatte sie sich irgendwann nachts noch ausgezogen? Sie geht ans Fenster, sieht hinaus in die Gassen, da sind Geschäfte, die gestern Nacht hinter den Metalltoren und Stahljalousien verborgen gewesen waren, Schaufenster voller Eisenwaren, Lampen, Sanitärinstallationsartikel. Davor Männer an Fräsen; die Gasse ist Belade-, Ablade-, offener Arbeitsplatz. Funken sprühen, Rohre werden zurechtgeschnitten, Kartons ein- und ausgepackt, ein Kleinlaster bahnt sich durch das Gewimmel. Ohrenbetäubender Lärm. 11:11. Erinnert an eine Engelszahl. Sie lächelt. Das könnte sie gut gebrauchen. Einen Engel. Sie stellt den Wasserkocher an, ein eingetrocknetes Glas Instantcafé steht noch vom Vormieter im Schrank. Emre Pascha Suites … Na ja. Lee setzt sich an den kleinen Tisch in der Ecke und googelt:

Sehr oft wird die Zahl 1111 als Weckruf wahrgenommen. Dies bedeutet, dass diese Zahl Sie aufwecken und Ihnen helfen sollte, herauszufinden, was in Ihrem Unterbewusstsein verborgen ist.

Diese Zahl sagt Ihnen auch, dass Sie ein spirituelles Wesen sind, also sollten Sie sich Ihrem spirituellen Leben mehr widmen. Die Engelszahl repräsentiert auch Ihren Weg zum Erfolg.

Diese Zahl hat immer eine positive Symbolik und kündigt etwas Gutes an, das in Ihrem Leben passieren wird. Sie müssen sich nur auf Ihre Lebensziele konzentrieren und nicht aufgeben.

Ihre Lebensziele? Nun, sie ist hier! Sie liest weiter:

Die geheime Bedeutung und Symbolik

Die geheime Bedeutung der Zahl 1111 hängt immer mit Neuanfängen und neuen Möglichkeiten um Sie herum zusammen. Ihre Engel geben Ihnen die Chance, etwas in Ihrem Leben zu ändern und von vorne zu beginnen.

Wenn Sie in der Vergangenheit Fehler gemacht haben, ist es jetzt an der Zeit, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.

Es ist Zeit, neue Dinge zu sehen und neue Projekte in Ihrem Leben zu starten. Jetzt ist genau der richtige Moment dafür, denn alles, was Sie jetzt beginnen, wird erfolgreich sein.

Dann war sie ja richtig! Lee trinkt den Kaffee aus, stellt das Geschirr in die kleine Spüle. Abwaschen kann sie auch später. Es geht schon auf Mittag zu, und sie hat Lust, die Stadt zu erkunden, bevor sie am Nachmittag Naumann besuchen wird, über den ihre Großmutter in ihrem Tagebuch so viel geschrieben, aber auch so viel verschwiegen hat.

Sie speichert die Seite mit der Engelszahl für später, macht sich ausgehfertig, überlegt, ob sie auch den Laptop mitnehmen soll oder ob sie den am besten irgendwo einschließt? Nach dem...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2023
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 30er Jahre • Amerikanerin • Belletristik • Flucht • Georg Naumann • Geschichte • Großmutter • Helene Bischoff • historisch • Istanbul • Liebe • Literatur • Matthias Göritz • Megacity • Nationalsozialismus • NS-Regime • Roman • Türkei
ISBN-10 3-406-80005-X / 340680005X
ISBN-13 978-3-406-80005-4 / 9783406800054
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