Irmgard Keun (eBook)

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2023 | 1. Auflage
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01778-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Irmgard Keun -  Hiltrud Häntzschel
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Irmgard Keun (1905-1982) veröffentlichte 1931 mit 26 Jahren ihren ersten Roman und galt als eines der großen Talente der deutschen Literatur - doch die Nazis trieben sie ins Exil und verboten ihre Bücher. Keuns Werke zeichnen in einer Mischung aus Satire, Melancholie und Realismus ein treffendes Bild der späten Weimarer Republik und des Dritten Reiches. In der Nachkriegszeit konnte die Autorin an die früheren Erfolge nicht anknüpfen, erst in jüngerer Zeit wurde sie wiederentdeckt.   Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Hiltrud Häntzschel absolvierte eine Ausbildung zur Diplombibliothekarin. Anschließend Studium der Germanistik und Philosophie, Promotion 1967 in Heidelberg mit einer Arbeit über den «Aphorismus als Stilform bei Nietzsche». Freiberufliche Literaturwissenschaftlerin und Publizistin in München. Mitarbeit an der «Süddeutschen Zeitung», Features im Bayerischen Rundfunk, Lehrbeauftragte an der LMU in München und Gastdozentin in Chicago. Mitarbeit an Ausstellungsprojekten, u.a. über Wolfgang Koeppen 2006. Forschungsschwerpunkte: historische Friedensforschung, Exilforschung, Wissenschaftsgeschichte, Literatur der Weimarer Republik, jeweils unter dem weiblichen Aspekt.

Hiltrud Häntzschel absolvierte eine Ausbildung zur Diplombibliothekarin. Anschließend Studium der Germanistik und Philosophie, Promotion 1967 in Heidelberg mit einer Arbeit über den «Aphorismus als Stilform bei Nietzsche». Freiberufliche Literaturwissenschaftlerin und Publizistin in München. Mitarbeit an der «Süddeutschen Zeitung», Features im Bayerischen Rundfunk, Lehrbeauftragte an der LMU in München und Gastdozentin in Chicago. Mitarbeit an Ausstellungsprojekten, u.a. über Wolfgang Koeppen 2006. Forschungsschwerpunkte: historische Friedensforschung, Exilforschung, Wissenschaftsgeschichte, Literatur der Weimarer Republik, jeweils unter dem weiblichen Aspekt.

«Das kunstseidene Mädchen». Der Glanz


Und jetzt sitze ich hier mit 120 [Mark] und überlege mir eine neue Existenz und warte auf Therese, der ich telefoniert habe, damit sie mich tröstet und beruhigt, denn schließlich habe ich eine Sensation durchgemacht. (KuM 20)

Ich – das ist Doris aus Kölns Kleinbürgertum, soeben aus ihrer Bürostelle geflogen mit einem Monatsgehalt Abfindung. Sie hat doppelten Ehrgeiz. Nicht den von Gilgi, aufzusteigen durch Arbeit, durch Prinzipien und eisernen Fleiß. Doris will ein Glanz werden, Glamour, sie will scheinen, nicht sein. Dieses Ziel macht nur Sinn und nur Vergnügen, wenn sie gesehen wird, zunächst vor allem von sich selbst. Deshalb ihre zweite Absicht: Und ich denke, daß es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. […] Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino – ich sehe mich in Bildern. (KuM 6)

Mein Kopf war ein leeres, schwirrendes Loch. Ich machte mir einen Traum und fuhr mit einem Taxi eine hundertstundenlange Stunde hintereinander immerzu – ganz allein und durch lange Berliner Straßen. Da war ich ein Film und eine Wochenschau.

Irmgard Keun, «Das kunstseidene Mädchen»

Doris sind die sogenannten inneren Werte und Tugenden, wie sie die konventionelle Literatur, voran die Frauenliteratur, heilig hält – Treue, Ehrlichkeit, Bescheidenheit, Mütterlichkeit –, zunächst einmal aufreizend gleichgültig. Sie lebt in der Provinz, ist eine ziemlich unbrauchbare Sekretärin, die die fehlenden Kommata in ihren Geschäftsbriefen beim Chef durch sinnliche Blicke gutmachen muss. Es hapert mit der Bildung, aber das weiß sie genau, wie sie überhaupt viel Überlebensklugheit mitbringt: Wenn man Glück bei Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen. (KuM 52) Sie weiß, wann und warum ein Mädchen mit einem Mann schläft und wie das Verhältnis von Investition und Begehren zu verstehen ist. Am allersichersten ist ihr eines: […] bei den Tiefsten bleibe ich nicht. (KuM 26) Ich will so ein Glanz werden, der oben ist. Mit weißem Auto und Badewasser, das nach Parfüm riecht, und alles wie Paris. Und die Leute achten mich hoch, weil ich ein Glanz bin. […] Ich werde ein Glanz, und was ich dann mache, ist richtig – nie mehr brauch ich mich in acht nehmen und nicht mehr meine Worte ausrechnen und meine Vorhabungen ausrechnen – einfach betrunken sein – nichts kann mir mehr passieren an Verlust und Verachtung, denn ich bin ein Glanz. (KuM 34)

«Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino» betitelten die späteren Herausgeber Siegfried Kracauers berühmten Essay «Film und Gesellschaft» in der «Frankfurter Zeitung» über die Zerstreuungsindustrie und die verführenden Lügen des Films.[55] Die Kinohelden sieht man nur im Licht und von Paris nur das Ritz, «und darum wird», wie Tucholsky zwei Jahre zuvor in der «Weltbühne» gereimt hatte, «beim happy end/Im Film jewöhnlich abjeblendt».[56]

In Doris zeichnet Keun eine der Verführten, von der Zelluloidoberfläche auf doppelte Weise Geblendeten. Einerseits will sie sich selbst aus dem Zuschauerraum ihres armseligen Lebens in die Kinowelt hineinkatapultieren, andererseits will sie ihren Aufstieg zum Glanz selbst ‹verfilmen›, schreiben wie Film. (KuM 6) Zum Aufstieg ins Licht ist Doris vorerst jedes Mittel recht. Erst sticht sie auf ziemlich üble und hochstaplerische Weise eine Konkurrentin im Theater aus, dann lässt sie einen kostbaren Pelz an der Garderobe mitgehen und muss nach Berlin verschwinden: So hochelegant bin ich in dem Pelz. Der ist wie ein seltener Mann, der mich schön macht durch Liebe zu mir. Sicher hat er einer dicken Frau unrichtig gehört – einer mit viel Geld. Er hat Geruch von Schecks und Deutscher Bank. Aber meine Haut ist stärker, jetzt riecht er nach mir und Chypre – was ich bin, seit Käsemann mir großzügig drei Flaschen davon geschenkt hat. Der Mantel will mich, und ich will ihn, wir haben uns. (KuM 48)

Aber die große Stadt Berlin hält nicht, was ihre Bilder versprochen haben. Berlin ist sehr großartig, aber es bietet einem keine Heimatlichkeit, weil es verschlossen ist. (KuM 65) Doris lebt immer hart zwischen Glanz und Gosse. Mal wohnt sie bei ihrer Freundin Tilli beim Alexanderplatz, da sind nur Arbeitslose ohne Hemd, und furchtbar viele. (KuM 49) Sie kriegt es zu tun mit der Großindustrie (aber Die Großindustrie bin ich schon wieder quitt, denn die Politik vergiftet schon im voraus menschliche Beziehungen, [KuM 34]), mit einem Mädchenhändlerartigen, an dem mir sonst nichts liegt. Aber ich komme dadurch in Milieu, das mir Aussichten bietet (KuM 50), mit dem Zuhälter Rannowsky, mit weinerlichen dicken Alten, mit einem Schmiss […], der war zu Besuch in Berlin und wollte gerne Gefährliches, um Mut haben zu dürfen. (KuM 107) Schließlich drüben das Romanische Café mit den längeren Haaren von Männern! Und da verkehrte ich einmal Abend für Abend mit einer geistigen Elite, was eine Auswahl ist, was jede gebildete Individualität aus Kreuzworträtseln weiß. Und wir bildeten alle einen Kreis. Und das Romanische Café ist eigentlich nicht anzuerkennen. Und jeder sagt: Gott, dieses Lokal, wo diese herabgekommenen Literaten sitzen, man sollte da nicht hingehn. Und gehn dann doch hin. Ich bildete mich ungeheuer, und es war, als wenn ich eine fremde Sprache lerne. (KuM 77)

Endlich findet sie das passende Ambiente für den kunstseidenen Glanz: Alexander, sehr reich, sehr alt, eine fröhliche rosa Kugel mit Zimmerflucht am Kurfürstendamm (KuM 91), für Doris Mercedes mit Chauffeur. Und dann tue ich etwas ganz Großes. In meinem Negligé, das meine Füße seidig umwallt und meine Knie streichelt, bewege ich mich vor und hebe ganz langsam meine beiden Arme, die von Spitzen überstürzt werden – und an meinen Füßen rosa seidene Pantoffeln mit Pelz dran – und dann hebe ich meine Arme wie eine Bühne und schiebe die große Schiebetür auseinander und bin eine Bühne. Ich glaube, daß eine Schiebetür das äußerste an Vornehmheit ist. Und schiebe sie wieder zusammen und gehe zurück und tue es noch mal – und bin eine Bühne mindestens zehnmal jeden Vormittag. So ein Leben, so ein Leben. (KuM 93)

Man kann furchtbar billig leben, wenn man reich ist.

Irmgard Keun, «Das kunstseidene Mädchen»

«Glanz und Konsum sind identisch. Als Doris den ‹Glanz› kurzfristig erleben darf, geht ihr Ich in der Kaufkraft auf: Ich habe es erreicht. Ich bin – o Gott, Mutter, ich habe eingekauft.»[57]

So ein Zelluloidtraum muss platzen. Die Gattin kommt überraschend nach Hause, und der Runde wird verhaftet. Wieso? Wegen Geld sicher. Aber es werden gerade die feinsten Leute heutzutage verhaftet. (KuM 95f.) Dann nimmt sie einer mit nach Hause, der über die Liebe zu seiner Frau nicht wegkommt, die ihn verlassen hat. Er will weiter nichts von Doris, als dass sie da ist. Er passt nicht in den Film vom Glanz, denn er ist echt, und Doris’ Gefühle zu ihm werden es auch. Ihre Liebe verbietet jede Berechnung, sie gewinnt Größe, indem sie – selbst verzichtend – die Rückkehr der Ehefrau arrangiert. Sie geht dann doch lieber nicht auf die Vergnügungsmeile Tauentzien, um ein Glanz zu werden, aber wahrscheinlich ein schlechter. Sie geht mit Karl, wird ihm in seinem Schrebergarten Gemüseziehen helfen, vielleicht. Auf den Glanz – so lautet der letzte Satz des Romans – kommt es vielleicht gar nicht so furchtbar an. (KuM 162)

Was sich in Gilgi schon angekündigt hatte im Wechsel der Perspektive von der erzählenden Autoreninstanz zum inneren Monolog der Heldin, wird nun mit Das kunstseidene Mädchen zum Markenzeichen der Erzählweise Irmgard Keuns: Die Erzählerin verschwindet hinter der Rollenprosa ihrer Heldinnen (in ihrem letzten Roman Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen wird es eine männliche Rolle sein). In schroffem Gegensatz etwa zur Romantechnik Alfred Döblins in «Berlin Alexanderplatz», in der der Erzähler an der «Geschichte vom Franz Biberkopf» ständig kommentierend teilnimmt, gibt es in Das kunstseidene Mädchen keine andere Instanz mehr, die die Geschichte reflektiert, als die Heldin selbst, die die Handlungen, die Befindlichkeiten der Personen, auch ihr äußeres Erscheinungsbild begutachtet. Indem sich Keun überwiegend kindliche oder naive, eher ungebildete und in jedem Fall unintellektuelle Figuren erfindet, gewinnt sie mit der Diskrepanz zwischen dem ‹unreifen› Wahrnehmen der Welt durch die Protagonistin, ihrem Sprechen, Beobachten, Bewerten und der – scheinbar – besseren Einsicht der Leser Raum für Satire, für Witz und für eine kritische Sicht auf die Fragwürdigkeit gültiger Moralvorstellungen, ohne je den moralischen Zeigefinger erheben zu müssen.

In dem kleinen Spot auf das Romanische Café zeigt sich Keuns höchst artifizielle Erzähltechnik exemplarisch. Trotz strikt...

Erscheint lt. Verlag 13.6.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte Alkoholismus • Das kunstseidene Mädchen • Deutschland • Exil • Gilgi - eine von uns • Hermann Kesten • Joseph Roth • Monografie • Niederlande • Schriftstellerin
ISBN-10 3-644-01778-6 / 3644017786
ISBN-13 978-3-644-01778-8 / 9783644017788
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