Die Farbe meines Blutes (eBook)
656 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-28936-2 (ISBN)
Brooklyn 1969: Als die unverheiratete Afroamerikanerin Grace schwanger wird, will sie nur eines: ihr Kind gegen alle Konventionen behalten. Doch das Baby wird ihr weggenommen und wächst bei einem jungen Ehepaar auf. Obwohl Rae sehr früh von ihrer Adoption erfährt, stellt sie keine Fragen. Für sie sind Delores und Tommy ihre 'richtigen' Eltern. Das ändert sich jedoch, als mit dem Tod ihres Vaters ein Geheimnis ans Licht kommt, das Rae dazu zwingt, sich mit ihrer Herkunft auseinanderzusetzen - und mit ihren beiden Müttern.
Meisterhaft verwebt Denene Millner die Leben von Grace, Delores und Rae zu einem Generationen umspannenden Epos von den Südstaaten in den 1960ern über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung bis ins heutige New York. Ein hochaktueller Roman darüber, wie Herkunft, Kultur und die Last der Geschichte afroamerikanische Frauen bis heute prägen und darüber, dass es keine stärkere Macht gibt als die Liebe einer Mutter.
Denene Millner ist eine preisgekrönte Journalistin, New York Times Bestsellerautorin und leitet ein amerikanisches Verlagsimprint. Sie arbeitet als Kolumnistin für das Parenting Magazine und ist Gründerin von MyBrownBaby.com, einem Online-Erziehungsratgeber für afroamerikanische Eltern. »Die Farbe meines Blutes« ist das fulminante Romandebüt der Autorin. Denene Millner lebt in Atlanta.
2
Grace hatte auf dem Weg zum Haus der Brodersens schon Anweisungen bekommen. Deshalb wusste sie, dass sie sich in die Ecke stellen und nicht mehr als atmen sollte, außer wenn Maw Maw ihr etwas anderes auftrug. Sie war da, um zu lernen und bei Miss Ginnys vier anderen Kindern zur Hand zu gehen. Die saßen jetzt alle im Wohnzimmer und flüsterten miteinander, während sie auf das Stöhnen ihrer Mama lauschten. Die Kinder wussten, dass ein Baby kam, aber Genaueres wussten sie nicht, denn Fragen zu stellen war unmöglich. Ihr Vater, streng, brummig und überhaupt kein gesprächiger Typ, würde ihnen sofort auf den Mund hauen und sich auch eher selbst die Hand vor den Mund schlagen, als seinen Kindern zu antworten. Und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als wilde Fantasien darüber zu entwickeln, was es mit den Kesseln voll kochendem Wasser auf dem Herd und der Schere, die in die blubbernden Blasen getaucht wurde, auf sich hatte. Oder mit den Bürsten und Stoffquadraten, die Granny, eine Erscheinung ganz in Weiß – vom Kopf bis zu den Strümpfen in den weißen Schwesternschuhen – auf ein kleines Tablett gestapelt hatte. Außerdem reckten sie jedes Mal die Hälse, wenn jemand die knarzende Tür zum Schlafzimmer öffnete. »Vielleicht schneiden sie das Baby aus ihrem Bauch«, flüsterte die Älteste, sie war sieben, als ihr Vater sich außer Hörweite befand. »Und vielleicht binden sie ihren Bauch mit den Tüchern wieder zu«, meinte die Fünfjährige und zog das dreijährige Kleinkind auf ihrem Schoß näher an sich heran. Die Unterlippe des Vierjährigen begann bei dem Gedanken zu zittern, und als kurz danach eine Wehe seine Mama kehlig aufschreien ließ, begann er heftig zu zittern.
»Heul bloß nicht«, warnte die Älteste und verzog missbilligend den Mund, während sie ihrem kleinen Bruder ins Ohr flüsterte. »Daddy wird kommen und dir das Fell über die Ohren ziehen, wenn du nicht tust, was er gesagt hat, und still bist.«
Der kleine Junge presste sich die Hand auf den Mund. Er hatte den Gürtel seines Vaters heute schon zu spüren bekommen und wollte nicht noch mehr davon. Die Siebenjährige überlegte ernsthaft, eine Tracht Prügel in Kauf zu nehmen, um rauszukriegen, warum sie wie ein kleines Baby hier hocken musste, während das kleine Nigger*mädchen im Zimmer bei ihrer Mama sein durfte. Ihr Daddy, der damit beschäftigt war, aus einer großen Holzkiste, Kissen und Decken ein Babybett zu machen, achtete nicht auf das Geflüster, Gejammer und die Spekulationen.
»Aber, aber«, sagte Maw Maw, während sie der stöhnenden Miss Ginny aus dem Bett half. Ihre Fruchtblase war ja schon vor geraumer Zeit geplatzt, und die Wehen kamen inzwischen in gleichmäßigem Rhythmus, doch ihr Körper signalisierte ihr noch nicht, zu pressen. So war es Maw Maws Aufgabe, es der ihr Anvertrauten so bequem zu machen, wie das eben möglich war, wenn der Schmerz wie ein Messer durch ihren Bauch fuhr. Wie bei allen anderen Gebärenden vor Miss Ginny ging Maw Maw auf und ab, redete und erinnerte Ginny an die Süße, die sie jenseits all der sauren Pein erwartete. »Das wird bestimmt eine wunderbare Zeit für Sie und Ihren Mann und das süße kleine Baby. Machen Sie sich wegen der Schmerzen bloß keine Gedanken. Mit Gottes Hilfe haben wir das schon viermal geschafft, und jedes einzelne der Babys kam gesund und kräftig auf die Welt. Das wird bei dem hier ganz genauso sein, sorgen Sie sich da mal nicht. Wir werden gleich wieder so ein Wunder erleben.«
»Yes, Ma’am«, war alles, was Miss Ginny herausbrachte. In ihren Augen stand Furcht.
»Gracie, mach du jetzt das Bett hier«, schaffte Maw Maw ihr freundlich an. »Genau so, wie ich es dir beigebracht habe. Breite das Plastik über die Matratze, dann das Laken und dann das große Kissen, das Maw Maw genäht hat. Es ist in der Tasche da drüben, hübsch sauber. Das machst du als Erstes, und dann kümmerst du dich um die Waschschüsseln. Eine für Miss Ginny hier, eine für mich und eine für dieses neue Bündel der Freude, das bald bei uns sein wird.«
»Yes, Ma’am«, sagte Gracie. Sie machte sich sofort an die Arbeit, während Maw Maw weiter Anweisungen gab.
»Also, Mr Brodersen, ich werde Miss Ginny noch ein bisschen hier herumführen, während meine Enkeltochter das Bett vorbereitet. Und wenn dann auch die Waschschüsseln fertig sind, werden ich und meine Enkeltochter hier, wir werden dann raus in die Küche zu den Kindern gehen, während Sie und Miss Ginny dableiben und noch in Ruhe ein bisschen Zeit miteinander verbringen.«
»Das mach ich nicht«, sagte er kurz angebunden und stellte dabei das Bettchen für das Baby auf einen Hocker neben dem Ehebett.
Miss Ginny stöhnte erneut, als eine Wehe ihren Bauch zusammenkrampfte. Diesmal war der Schmerz so stark, dass er bis in ihre Zehenspitzen ausstrahlte. Sie krümmte sich zusammen, presste eine Hand gegen ihren Bauch und krallte sich mit der anderen in Maw Maws Arm.
»Oh, Mr Brodersen, jetzt genieren Sie sich vor mir nicht! Sie und ihre wundervolle Frau waren doch schon vor diesem Baby allein, und Sie sollten zusammen sein, nur Sie beide, während dieses Kind auf dem Weg in die Welt ist.«
»Ich hab Nein gesagt!«, schnauzte er. Das tiefe Dröhnen seiner Stimme ließ Grace zusammenzucken. Beim Zusammenzucken ließ sie das Kissen fallen. Und das Herabfallen des Kissens ließ Maw Maws Stimme genauso scharf und rücksichtslos werden wie die des weißen Manns.
»Heb das Kissen auf!«, herrschte Maw Maw sie an, obwohl Gracie es so schnell wieder hochgerissen hatte, dass nur eine winzige Ecke den frisch gefegten Teppich auf dem Holzboden berührt hatte. »Du weißt, wie lang wir gebraucht haben, damit der Bezug von dem Kissen steril war. Lass es mich sehen!« Dabei stützte Maw Maw immer noch Miss Ginny, die von einem Fuß auf den anderen trat, um sich vom Schock der letzten Wehe zu erholen.
Grace hielt ihrer Großmutter das Kissen hin, damit sie es inspizieren konnte. Makellos.
»Du musst besser aufpassen, Chile«, sagte Maw Maw, jetzt in sanfterem, freundlicherem Ton. »Alles hier drin muss sauber und steril sein, damit dieses Baby und seine Mama keine Infektionen bekommen, verstehst du?«
»Yes, Ma’am«, nickte Gracie. »Ich werd besser aufpassen, Maw Maw«, sagte sie und legte das Kissen aufs Bett. Die Ecke, die den Boden berührt hatte, drehte sie ans Bettende, wo Miss Ginnys Füße sein würden.
Maw Maw richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den störrischen Ehemann. Aber sie hütete sich, ihn davon zu überzeugen, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte und was genau das Richtige gewesen wäre. Seine Frau, nervös, innerlich quasi in Flammen und ängstlich, wie sie ihr neues Baby gebären würde, brauchte die weiche Seite ihres Ehemanns, um all das Harte auszugleichen. Doch dazu war er nicht in der Lage. Etwas nagte an ihm, und Liebe war ein zu schwaches Mittel für die Wunden, die er zu pflegen hatte.
Maw Maw hatte so etwas schon vorher erlebt – überforderte Ehemänner, denen die Nerven durchgingen und die sich bis tief in ihr weißes Fleisch getroffen fühlten, weil sie krampfhaft überlegten, was genau es ihnen abverlangen würde, noch ein hungriges Maul zu stopfen. Maw Maw fühlte mit den Mamas, aber mit den Pas hatte sie wenig Mitleid. Sie schienen an nichts davon zu denken, wenn sie ihren Frauen mit steifem Schwanz nachjagten. Sie weigerten sich ja sogar, die Körper der Frauen heilen zu lassen, bevor sie wieder Sex von ihnen verlangten. Ihn sich einfach nahmen. Und dann kam schon wieder das nächste Baby, nach den ein oder zwei, die sie sich auch schon nicht leisten konnten. Gelegentlich war das dann nicht nur ein Problem dieser Familie, sondern auch Maw Maws. Das war das Schicksal der armen Mary Patterson. Ihr Mann konnte keine Arbeit finden, und die beiden hatten schon im vorletzten Winter reichlich Abende erlebt, an denen sie hungrig geblieben waren, als das Baby kommen sollte. Vielleicht ein paar Maisfladen hier und da, ein paar Bohnen, wenn Mary die Kraft aufbrachte, ein, zwei Ladungen Wäsche für ein paar Münzen zu waschen, die sie dann dem alten Bunch Cleary unten im Laden geben konnte. Aber meist beugten sie sich über kleine Schalen mit Grütze und ein wenig Fett aus Rückenspeck, damit es halbwegs genießbar schmeckte. Dabei drängten sie sich an den Herd, in dessen Bauch nicht mehr als ein paar kleine Stücke Holz brannten, die Joe Patterson sich bei der Suche nach Essen erbettelt hatte. Mary war so unterernährt, als sie mit jenem ersten Baby schwanger war, dass Maw Maw sich gezwungen sah, unten am Fluss ein Extra-Opfer zu bringen. Dabei bat sie die Ahnen, dem Baby Schmerz beim Tod zu ersparen, denn der schien Maw Maw unausweichlich. Leider setzten bei Mary die Wehen in der kältesten Nacht des Jahres ein. Die werdenden Eltern waren so schwach vor Hunger, Erschöpfung und den beginnenden Anzeichen von Unterkühlung, dass in den stillsten Momenten die einzigen Lebenszeichen schwache Wölkchen ihres warmen Atems in der eiskalten Luft waren. Maw Maw war keine drei Schritte ins Haus getreten, als die Leere darin und der Zustand der beiden sie alarmierte. Sofort hatte sie eine Nachbarin gerufen, damit die sie zu sich zurückfuhr, um ein paar Vorräte zu holen: eine überzählige Steppdecke, ein paar eingelegte Rüben, einen Sack Bohnen, Kaffee, Seife. Für das Baby hatte sie schon ein Flanellnachthemdchen genäht, aber sie nahm noch ein paar Stücke Stoff, eine Kiste und sechs kleine Flaschen mit, die sie mit warmem Wasser füllen würde, um dem Baby damit ein behagliches Bettchen zu bereiten. Sie wusste, dass die Knochen seiner Mama nicht ausreichen würden, es vor der Winterkälte zu schützen. Mary Patterson hatte eine schwere Geburt – eine...
Erscheint lt. Verlag | 17.5.2023 |
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Übersetzer | Henriette Zeltner-Shane |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Beautiful Blood |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1960er Jahre • 2023 • Adoption • Bürgerrechtsbewegung • eBooks • Familiendrama • Familiengeheimnis • Hebamme • Mutterliebe • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • New York • People of Color • Rassismus • Roman • Romane • Südstaaten • The Beautiful Blood • USA • Zwangsadoption |
ISBN-10 | 3-641-28936-X / 364128936X |
ISBN-13 | 978-3-641-28936-2 / 9783641289362 |
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