Das Rosencottage (eBook)
512 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-28650-7 (ISBN)
Constanze Wilken, geboren 1968 in St. Peter-Ording, studierte Kunstgeschichte, Politologie und Literaturwissenschaften in Kiel und promovierte an der University of Wales in Aberystwyth. Als Autorin ist sie sowohl mit großen Frauen- als auch mit historischen Romanen erfolgreich.
1
Edinburgh
Von der Royal Mile drang der übliche Lärm zu ihnen herein. Kirsty hielt inne … Nein, heute mischte sich ein Zug Dudelsackspieler darunter. Das würde die Touristen begeistern, die sich an den Geschäften und Restaurants vorbeidrängten. Kirsty strich sich die kinnlangen blonden Haare hinter die Ohren und widmete sich wieder ihrem Computer an der Rezeption des Grovers. Das moderne Luxushotel bot seinen Gästen alles, was man sich wünschen konnte, und war erst kürzlich von Grund auf renoviert worden. Sie beantwortete gerade eine Anfrage für die Jahreswende. Die Zeit um Weihnachten und Silvester war besonders nachgefragt. Das berühmte Hogmanay lockte Besucher aus der ganzen Welt an.
»Hallo, ich möchte mich beschweren!«
Sie hob den Blick und lächelte freundlich. Ein Mittfünfziger mit Baseballcap und einer teuren Armbanduhr trommelte vor ihr mit den Fingern auf dem Tresen. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Der Amerikaner hatte gestern mit seiner jungen Frau bei ihr eingecheckt und sofort ein Upgrade verlangt, nachdem sie das Zimmer besichtigt hatten.
»Die Matratzen sind zu weich. Durchgelegen. Das gehört sich bei diesen Preisen nicht!« Herausfordernd sah er sie an.
»Es tut mir sehr leid, dass Sie mit den Matratzen nicht zufrieden sind, die im Übrigen genauso neu sind wie die gesamte Einrichtung. Das Zimmer wurde vor zwei Monaten komplett renoviert.« Sie legte dem Gast ein Zertifikat des Matratzenherstellers vor.
»Interessiert mich nicht. Ich will neue Matratzen! Meine Frau hat Rückenprobleme.« Er sprach mit dem breiten Akzent der Südstaatenamerikaner und lehnte sich auf den Tresen.
»Welchen Härtegrad bevorzugt Ihre Frau denn? Dann lasse ich die Matratzen austauschen. Das ist kein Problem, Sir.«
Er schien überrascht. Manche Gäste suchten nach Kleinigkeiten, um den Preis zu drücken, andere beschwerten sich gern, um sich wichtig zu machen. Bei diesem Exemplar war es wohl eine Mischung aus beidem.
»Hi, Kirsty!« Ihre Freundin Mala trat zu ihr an die Rezeption. »Gibt es ein Problem?«
»Nein, wir klären das gerade. Welcher Härtegrad, sagten Sie?«
Der Mann murmelte etwas von mittel, und Kirsty machte sich eine Notiz. »Ich veranlasse den Tausch, und dann sollten Sie und Ihre Frau heute Nacht besser schlafen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mr Miller?«
»Vorerst nicht, danke.« Der Gast drehte sich um und ging davon.
»Ich hab’s geahnt, als die gestern eincheckten. Das ist genau der Typ, der dauernd was zu meckern hat. Oh, Mala, was ist nur mit den Menschen los? Da haben sie das Geld und die Zeit, um in so einem schönen Hotel zu wohnen, und was machen sie?« Kirsty verdrehte die Augen.
Ihre Freundin, die ihr den Job an der Rezeption vermittelt hatte, klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. »Vergiss es. An mir prallt inzwischen alles ab. Na ja, fast alles … Die Gruppe aus London letzte Woche hat mich an den Rand der Verzweiflung gebracht.«
Zehn junge Frauen hatten einen Junggesellinnenabschied gefeiert und die Rezeption, das Restaurant und den Spa-Bereich mit ausgefallenen Extrawünschen bis spät in die Nacht geplagt.
Mala zog einen Brief aus ihrer Handtasche. »Ich habe ihn dir mitgebracht, weil er offiziell aussieht. Vielleicht ist er wichtig.«
Sie teilten sich eine Wohnung in Boat Green, direkt am Fluss Leith. Beide hatten sie Träume. Malas Mutter stammte aus Mangalore, hatte einen schottischen IT-Experten geheiratet und war so nach Edinburgh gekommen. Während Mala einen Back-Blog betrieb, auf dem sie ihre ausgefallenen Kreationen vorstellte, war Kirstys Leidenschaft das Malen. Seit ihrer Kindheit hielt sie alles, was sie sah, mit Stift oder Pinsel fest. Ein Skizzenbuch war ihr ständiger Begleiter, und sie liebte es, einzutauchen in die Welt der Farben, die ein Eigenleben entwickelten, sobald sie auf ihrer Palette zu mischen begann, und sich darin zu verlieren. Mala ermutigte sie, ihre großformatigen Gemälde endlich auszustellen, doch dafür fehlte Kirsty das Selbstvertrauen. Sie hatte nichts vorzuweisen, kein Studium, keine Ausbildung, nur ein wildes, unstetes Leben, das sie nach Australien, Neuseeland und Thailand geführt hatte. Es gab kaum etwas, das sie bereute … Womöglich war sie manchmal zu gutgläubig gewesen. In Thailand hatte sie sich ihren Rucksack samt Geld und Papieren von anderen Backpackern stehlen lassen, die sie allein und fieberkrank in einem Dschungelcamp zurückgelassen hatten. Unbehandelt hatte das Fieber ihre Organe angegriffen, und sie hatte jahrelang an den Folgen gelitten.
Mittellos und erschöpft war sie mit Ende zwanzig nach Schottland zurückgekehrt und hatte in Mala nicht nur eine Vermieterin, sondern auch eine gute Freundin gefunden. Im Hotel arbeitete Kirsty für ihren Lebensunterhalt und im Georgian House am Charlotte Square unentgeltlich für den National Trust. Sie hatte das alte Haus, das im achtzehnten Jahrhundert von Robert Adams entworfen worden war, schon als Kind geliebt, und jetzt führte sie einmal pro Woche Besucherinnen und Besucher durch das traditionelle Bürgerhaus. Unentgeltlich, was für ihre Eltern unverständlich war, denn George Paterson gehörte ein renommiertes Architekturbüro in Dundee, das er gemeinsam mit Kirstys Bruder Ethan leitete. Ethan war sieben Jahre älter als sie, und ihr Verhältnis war nie eng gewesen. Zu unterschiedlich waren die Charaktere der Geschwister, und die Heirat ihres Bruders hatte es nicht besser gemacht. Ihre Schwägerin Scarlett war Pharmareferentin, und ihr Hauptinteresse galt der Gewinnmaximierung, Designerlabeln und angesagten Urlaubsorten. Für Menschen wie Kirsty hatte sie nur ein müdes blasiertes Lächeln übrig. Wobei das mit jeder Botox-Injektion schwieriger wurde. Es war wenig überraschend für Kirsty gewesen, dass sich ihre Mutter besser mit der Schwägerin als mit der eigenen Tochter verstand. Längst hatte sie sich damit abgefunden, das schwarze Schaf der Familie zu sein.
Kirsty betrachtete den Umschlag: MacIsaac & Connal, Rechtsanwälte und Notare.
Die Einzige aus ihrer Familie, die sie immer verstanden hatte, war ihre Großmutter Fiona. Ihre glücklichsten Erinnerungen verband Kirsty mit den Ferien, die sie auf Tiree in Fionas Rosencottage verbracht hatte. Dort hatte sie sich stets geborgen und gleichzeitig frei und unbeschwert gefühlt. Fiona Paterson, eine geborene MacGregor, hatte einen Teil ihrer Kindheit auf Tiree verbracht. Die MacGregors und später auch Fiona hatten das Haus nie aufgegeben und als Ferienhaus genutzt. Zu viele Erinnerungen, sagte sie immer. In diesem Sommer hatten sie gemeinsam zwei Wochen dort verbringen wollen, doch dann war Fiona krank geworden. Man sollte nie etwas aufschieben, das war Kirsty schmerzlich bewusst geworden, als ihre Großmutter vor einem Monat überraschend im Krankenhaus gestorben war.
Seufzend öffnete sie den Umschlag. Er enthielt ein Anschreiben der Kanzlei und einen Umschlag mit der Schrift ihrer Großmutter. Kirsty ging ins Büro, um ungestört lesen zu können.
»Sehr geehrte Ms Paterson«, stand dort auf edlem Papier. »Unser aufrichtiges Beileid zum Verlust Ihrer Großmutter Fiona Paterson, in deren Auftrag wir tätig sind. Ihre Großmutter hat Ihnen das Rosencottage auf Tiree hinterlassen. Der beiliegende Brief Ihrer Großmutter enthält eine Bedingung, die zu erfüllen ist, wenn Sie sich für die Annahme des Erbes entscheiden.
Gern stehen wir für Rückfragen zur Verfügung und erwarten Ihre Antwort innerhalb von sieben Tagen nach Zustellung dieses Schreibens.
Hochachtungsvoll
William MacIsaac«
»Rosencottage? Ich soll das Rosencottage erhalten?« Überrascht und tief bewegt schniefte Kirsty und fuhr sich über die Augen. Sie entfaltete den Brief, aus dem ein Schwarzweißfoto herausfiel, das zwei junge Mädchen zeigte. Sie saßen lachend vor einem Cottage auf einer Mauer. Der Wind blies ihnen die Haare aus den Gesichtern, hinter dem Cottage war das Meer zu sehen, und am Himmel ballten sich Sturmwolken. In dem einen Mädchen glaubte sie ihre Großmutter zu erkennen, das andere Mädchen kannte Kirsty nicht. Als sie zu lesen begann, hörte sie Fionas Stimme:
»Meine liebe Kirsty, schon vor Jahren habe ich entschieden, dass das Rosencottage einmal dir gehören soll. Ich weiß, wie gern du auf Tiree bist. Du liebst die Insel, dieses karge, unwirtliche Stück Land mitten im Meer genauso sehr wie ich. In vielen Dingen sind wir uns sehr ähnlich, nur hast du nie deinen Platz gefunden. Vielleicht ist es Tiree, meine Kleine. Manchmal braucht es einen Anstoß von außen, um seinen Weg zu finden.
Ich hatte ein langes, erfülltes Leben, nur eine Sache bereue ich bis heute, nämlich, dass ich mich nicht beizeiten um das Schicksal meiner einstigen Freundin gekümmert habe. Irgendwann ist es zu spät, und man kann nichts mehr tun als zu hoffen, dass jemand anderes tut, was man selbst hätte tun müssen. Nun ist es an dir, Kirsty, mir diesen einen Wunsch zu erfüllen, den Faden aufzunehmen, der damals in den Dreißigerjahren auf Tiree zerriss, der Faden, der das Band der Freundschaft zwischen mir und Livie war.
Ich habe nie von ihr erzählt, zu sehr habe ich mich geschämt, dass ich sie im Stich gelassen habe. Wir waren so jung, und die Zeiten waren anders, und letztlich hat der Krieg alles verändert, unsere Leben aus der Bahn geworfen. Dennoch, ich hätte den Mut fassen und nach Livie fragen müssen. Livie McMillan ist die Tochter von Donald und Selma McMillan. Die McMillans waren Crofter, wie wir auch, und ihre Farm lag südlich von Sandaig ganz abseits in den Dünen. Auf dem Foto siehst du mich mit Livie auf der Mauer vor dem Cottage...
Erscheint lt. Verlag | 20.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2023 • Blanche Monnier • Cottage • eBooks • Familiengeheimnis • Frauenromane • Gefangenschaft • Insel • Liebesromane • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2023 • Romane für Frauen • Romantik • schottische Hebriden • Schottland • Sommerbuch |
ISBN-10 | 3-641-28650-6 / 3641286506 |
ISBN-13 | 978-3-641-28650-7 / 9783641286507 |
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