Sturmsonate oder die Vergänglichkeit der Musen (eBook)
368 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7568-6729-5 (ISBN)
Alexander Bertsch 1940 in Heilbronn geboren. Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Musik in Tübingen und Stuttgart. Er lebt heute in Abstatt bei Heilbronn.
Der Gang durch die Stadt.
Ein junges Paar, das Händchen haltend in langsamem Tempo durch die Straßen wanderte.
Der Verkehr rollte an den beiden vorüber, wurde auf der breiten Einkaufsstraße, die an zahlreichen Geschäften vorbeiführte, etwas dichter, dazu der beißende Geruch von Abgasen, manchmal Geschrei von Kindern, die irgendetwas riefen, Wortfetzen, die an ihren Ohren vorbeitönten, zerrissene Melodien aus den Wagenkolonnen, ein Gemenge von Dissonanzen, das einen fast stehenden Klang bildete, der dennoch von Unruhe erfüllt war.
Die beiden schienen nichts davon wahrzunehmen. Sie näherten sich der großen Kirche, kamen am Marktplatz vorbei, hörten die Uhr des Rathauses schlagen und gleich darauf die Glockenschläge vom Kirchturm. Man konnte den Eindruck gewinnen, als sei die Art ihrer Fortbewegung von einer gewissen Vorsicht geprägt.
Immer wieder blickten sie sich an, die junge Frau versuchte sein Lächeln zu erwidern. Bei einem Musikgeschäft kurz vor einer Straßenkreuzung hielten sie inne. Der Mann lehnte sich mit dem Rücken an die große Schaufensterscheibe, zog seine Begleiterin zu sich her und nahm sie in die Arme. Sie ruhten sich ein wenig aus, bevor sie ihren Weg fortsetzten.
Schließlich kamen sie zur Brücke über den Fluss, überquerten sie und erreichten die Straße zum Bahnhof.
Sie ließ seine Hand los, blieb stehen.
Dort drüben ist der Eingang zur Praxis, sagte sie. Es sind nur wenige Meter. Möchtest du wirklich so lange warten?
Klar, auf jeden Fall.
Bis später, sagte sie. Eine kurze Berührung der Lippen.
Dann ging sie langsam, mit bedächtigen Schritten weiter.
Der Mann wandte den Blick nicht von ihr ab. Sie war an der Eingangstür angekommen, drückte auf den Klingelknopf. Sie drehte ihren Kopf noch einmal in seine Richtung, zeichnete mit der Hand eine kleine Bewegung in die Luft, die Tür öffnete sich, sie trat ein.
Der Mann blieb unverwandt an der Stelle stehen und starrte lange auf diese Tür, durch die seine Gefährtin gegangen war.
Er ging wieder zurück über die Brücke, wandte sich nach rechts und schlenderte langsam die Straße am Fluss entlang. Ein leichter Wind bewegte die langen Arme der Trauerweiden am Ufer, kräuselte das bräunlich-grüne Wasser des Flusses, das sich unter den Strahlen der Nachmittagssonne ab und zu in eine Fläche aus glitzernden Punkten verwandelte. Manchmal glitten Boote vorbei.
Der allgemeine Lärm verebbte ein wenig, es blieb nur das Geräusch des bewohnten, belebten Raums.
Der Mann setzte sich auf eine Bank am Ufer und überließ sich dem Spiel seiner Gedanken.
*
Viele Jahre später.
Ein durchschnittlicher Tag im Spätfrühling, ein paar träge Wolken am Himmel, die gemächlich auf den Horizont zutrieben. Die Dunstglocke des Nachmittags hing wie ein durchsichtiger grauer Schleier über der Stadt Heilbronn, deren geschäftiges Treiben seit jeher dem Handel und Wandel zugetan war. Ein Fluss wurde über verschiedene Wasserwege durch das Stadtgebiet geführt, an Häusermeilen oder an Industrieanlagen vorbei, an Verkehrsstraßen, Promenaden oder Gärten. Hektisches Getriebe und beschauliches Verweilen wechselten mit den Tageszeiten, den verschiedenen Örtlichkeiten oder bei entsprechenden Wetterlagen. Eine wechselvolle Geschichte mit Höhen und Tiefen, wie bei jeder vergleichbaren Stadt in der Republik.
Unsere Geschichte beginnt bei einer Besonderheit, einem ungewöhnlichen Gebäude mitten in einem nicht alltäglichen, parkartigen Garten, vielleicht einer Art Nische, einem nicht unbedingt exklusiven, aber eben einem offiziell nicht sehr wahrgenommenen Ort, von dessen Existenz man zwar ab und zu durchaus gehört hatte, der jedoch nicht besonders beachtet wurde. Und dennoch: Man kann sich gut vorstellen, dass es in manchen Städten solche Orte der kulturellen Verwirklichung und der künstlerischen Auseinandersetzung gegeben hat und gibt, die oft nur am Rande registriert werden oder vielleicht auch unbemerkt geblieben sind.
In einem etwas ruhigeren Viertel der Stadt, kein Außenbezirk, aber etwas abseits der innerstädtischen Geschäftigkeit, verlief die Stravenfordstraße, eine von alten Platanen bewachte Allee, an deren Ende man schon von Weitem ein breites, schmiedeeisernes Tor mit zwei mächtigen Flügeln erkennen konnte. Hohe Bäume mit gewaltigen Kronen ragten dahinter dem Himmel entgegen und legten Zeugnis davon ab, wie viele Jahre schon über sie hingegangen waren, als ob ihnen scheinbar nichts etwas anhaben könnte.
Tatsächlich hatte auch der verheerende Bombenangriff des letzten Krieges diesem Areal mit den darauf befindlichen Bauten wie durch ein Wunder kaum einen Schaden zugefügt.
Nach dem Feuersturm war es wie eine Art Schutzzone inmitten von Tod und Zerstörung erhalten geblieben.
In dem metallenen Rankenwerk der beiden Torflügel konnte der näherkommende Betrachter eine Reihe von Figuren erkennen, eine liegende Acht, verschiedene Pflanzenblätter mit der einen oder anderen Blattmaske, aber auch Tierkreiszeichen, ein paar Ankerformen, einmal das Zeichen für Yin und Yang.
Ein Mann in mittleren Jahren, der in gemessenen Schritten diese ehemalige Chaussee entlanggegangen war, näherte sich nun diesem Tor, entnahm einer seiner Taschen einen großen Schlüssel, führte ihn in die dafür vorgesehene Öffnung des rechten Torflügels ein und nach einer mit beiden Händen ausgeführten Drehung gelang es ihm, das Schloss zu öffnen.
Früher mochte das Grundstück noch ein wenig außerhalb des Ortes gelegen haben, aber schon in jenen Zeiten führte eine baumbestandene Straße vom Stadtrand aus zu diesem Anwesen. Doch mit der Zeit wuchs die Stadt von mehreren Seiten herkommend um das Gelände herum und daran vorbei, umschloss das stattliche Gebäude mit seinem Seitentrakt und dem parkähnlichen, weitläufigen Garten wie eine Insel und wucherte unbekümmert immer weiter in die Landschaft hinein.
Eine hohe Mauer umgab das gesamte Areal und sollte dieses Anwesen wohl vor unbefugten Blicken schützen, was auch immer die sogenannten Befugten sich dabei gedacht hatten, der Wunsch des allzeit Unter-sich-Bleiben-Wollens hatte die jeweiligen Besitzer stets beflügelt. Allerdings machte der letzte Eigentümer, Prosper Obenvelder, diesbezüglich eine gewisse Ausnahme. Ihm war es wichtig gewesen, für all die Theateraufführungen, Ausstellungen, Lesungen und Konzerte, die er veranstaltete, möglichst viele Menschen nicht nur aus seinem Freundeskreis, sondern auch aus der unmittelbaren Umgebung einzuladen.
Er wollte ganz bewusst eine Öffnung.
Aber wir greifen den Dingen voraus.
Hinter dem Eingangstor begann ein breiter, mit viereckigen Steinplatten von unterschiedlicher Größe belegter Weg, der zunächst geradeaus durch den Park verlief und schließlich nach links auf das Haupthaus zuführte. Inzwischen betraten nur noch wenige Menschen das Grundstück und auf diese Weise wurde der unbearbeitete, um nicht zu sagen fast ungepflegte Zustand des gesamten Geländes nur von wenigen wahrgenommen.
Der Mann stand jetzt vor der Eingangstür des Gebäudes. Über dem Portal waren auf einem Fries verschiedene Figuren und Abbildungen zu sehen: eine heilige Cäcilie, ein Gesicht mit einer Maske, ein aufgeschlagenes Buch und eine kleine Figur für die Bildende Kunst.
Das Haus der Künste wurde es genannt. Von den einen mit Respekt und Anerkennung, von anderen unter Umständen mit einem etwas ironischen Unterton, manche brachten, wenn sie von dieser ‚Villa Obenvelder‘ sprachen, aus welchen Gründen auch immer, den üblichen Spott der Außenstehenden und Neider zum Ausdruck.
Der Mann betrachtete die Hausfassade. Da und dort bröckelte der Putz, überall waren kleinere und größere Risse in der Mauer zu sehen. Der eine oder andere Fensterladen hing schief in seiner Verankerung Er war lange nicht mehr hier gewesen. Vor zwei Wochen hatte er einen Brief von dem zuständigen Notar erhalten, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er sich in die ehemalige Wohnung seiner Eltern begeben möge, denn es würden sich dort noch einige Möbelstücke nebst ein paar Kisten mit allen möglichen Habseligkeiten und Utensilien befinden, die einmal im Besitz seiner Familie gewesen seien, und er wurde gebeten, diese Gegenstände zu sichten und gelegentlich abzuholen.
Allerdings war mit der ‚Wohnung‘ nicht die stattliche Villa vor ihm gemeint, sondern ein anderes, bescheideneres Domizil.
Der Besucher blickte nun nach rechts zu einem kleinen Haus hinüber, das am Ende des großen Gebäudes etwas versetzt im Park stand, fast wie ein kleines Versteck, mitten in einem zusätzlichen Gärtchen: das Haus, in dem er aufgewachsen war, seine Jugend verbracht hatte – und ihr begegnet war.
Für einen Moment veränderte sich sein Gesichtsausdruck, wie es bei Menschen bemerkt werden kann, wenn sie sich an ein schmerzliches Ereignis in der Vergangenheit erinnern.
Ja, er hatte vor vielen Jahren hier Menschen verloren. Auf der einen Seite kam es ihm so vor,...
Erscheint lt. Verlag | 14.11.2022 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur |
ISBN-10 | 3-7568-6729-3 / 3756867293 |
ISBN-13 | 978-3-7568-6729-5 / 9783756867295 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 432 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich