Über alle Gräben hinweg (eBook)
432 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30134-2 (ISBN)
Cora Stephan ist seit vielen Jahren freie Autorin und schreibt Essays, Kritiken, Kolumnen - und Bücher. Ihr Roman »Ab heute heiße ich Margo« erschien 2016 bei Kiepenheuer & Witsch. Neben zahlreichen Sachbüchern hat sie unter dem Pseudonym Anne Chaplet preisgekrönte Kriminalromane veröffentlicht, u.a. »In tiefen Schluchten« (2017) und »Brennende Cevennen« (2018).
Cora Stephan ist seit vielen Jahren freie Autorin und schreibt Essays, Kritiken, Kolumnen – und Bücher. Ihr Roman »Ab heute heiße ich Margo« erschien 2016 bei Kiepenheuer & Witsch. Neben zahlreichen Sachbüchern hat sie unter dem Pseudonym Anne Chaplet preisgekrönte Kriminalromane veröffentlicht, u.a. »In tiefen Schluchten« (2017) und »Brennende Cevennen« (2018).
II
Schloss Pless
Die Farben. Das Licht. Benita war fast ein wenig überwältigt vom Funkeln der Kronleuchter, vom Grün und Rot der Tapeten und dem warmen Braun der Holztäfelung, vom sienafarbenen Marmor über dem Kamin und der Rosentapete dahinter, vom Sahneweiß der Freitreppe und dem matten Grau und Blau des Gobelins über dem Treppenabsatz. Vom Klangteppich, der sie umhüllte, aus Frauenlachen, Männerbass und dem hellen Klirren der Gläser auf den Tabletts, die [13]livrierte Bedienstete vorbeitrugen. Von der warmen Wolke aus Schweiß und Parfüm und dem Duft üppiger Blumenbuketts. Die Gesichter vor ihr und neben ihr verschwammen, manchmal tauchten daraus rot geschminkte Münder auf oder fein gezwirbelte schwarze Schnurrbärte. Das eine oder andere Gesicht kam ihr vertraut vor, doch niemand musterte sie, ob er sie womöglich kannte. Wer erwartete schon die Tochter des Kurarztes ausgerechnet hier? Im Grunde war sie froh darüber.
Ihre Mutter hatte sie untergehakt und schob sie durch die Gästemenge, sehr zielstrebig. Dabei hatte Caroline von Lanzdorf sich doch so geziert, bevor sie die Einladung angenommen hatten!
»Ist der Kaiser da?«, flüsterte Benita. Er war oft hier, das war bekannt, in Pless oder in Promnitz, einem Jagdschlösschen gleich um die Ecke. Wenn Prinzessin Daisy einlud, trafen sich hier Europas gekrönte Häupter und die Mächtigen der Welt. Geld für so viel Gastfreundschaft gab es mehr als genug. Schloss Pless mochte nicht so groß sein wie Schloss Fürstenstein, aber Benita fühlte sich plötzlich eingeschüchtert, ganz gegen ihren Willen. Nein, sie gehörten nicht hierhin, Mutter hatte recht. Benita merkte, wie ihr die Brust eng wurde.
In diesem Moment schwebte Prinzessin Daisy auf sie zu, die Arme weit geöffnet, als ob sie Mutter und Tochter umschlingen wollte.
»Wie wunderbar, dass Sie gekommen sind«, sagte Daisy mit ihrem putzigen Akzent. Benita lächelte, sagte »Hoheit« und wollte einen Hofknicks machen, aber die Prinzessin nahm sie an beiden Händen, zog sie an sich, musterte sie und nickte schließlich, bevor sie sich Caroline von Lanzdorf zuwandte.
Benitas Französisch war besser als ihr Englisch, doch in einem Kurort, der Besucher aus aller Welt anzog, lernte man früh, sich zu verständigen. Ihre Mutter wechselte übergangslos ins Englische, was Daisy mit einem Lächeln quittierte. »Ich erinnere mich so gern an Sie!«
Caroline neigte den Kopf. »Das ehrt mich.«
Mittlerweile war auch Maximilian von Lanzdorf bei ihnen angelangt. Daisy streckte ihm die Hand hin und hauchte: »Ohne Sie wäre ich tot.«
Benita beobachtete erstaunt, dass ihr Vater, der sich doch sonst durch kaum etwas beeindrucken ließ, zu erröten schien. Wie gut er aussah in seinem Frack! Weit besser als viele der Männer, deren mit bunten Orden behängte Uniformjacken über dem Bauch spannten. Ihr wurde ganz warm vor Zuneigung.
Eine zarte Hand legte sich auf Benitas Arm. Daisy hatte sich ihr mit Verschwörermiene zugeneigt, Benita roch Puder und Parfüm, und die blauen Augen der Prinzessin waren plötzlich ganz nah. Strahlend kornblumenblaue Augen.
»Sie müssen einen guten Bekannten von mir kennenlernen, er ist mit jemandem befreundet, mit dem ich über mehrere Ecken verwandt bin, kaum zu glauben, aber wahr.«
Die Menschenmenge wich vor Daisy zur Seite, als ob sie Moses wäre, vor dem sich das Rote Meer teilt. Benita nickte hierhin und dorthin, vorsichtshalber, obwohl sie niemanden erkannte, und sie vergaß jedes Gesicht und jeden Namen, kaum dass sie ein paar Schritte weitergegangen waren. Der Tross um die Prinzessin schob sie voran. Daisy von Pless grüßte nach rechts und links, blieb hier stehen, sagte dort ein paar Worte, das Bad in der Menge schien ihr zu gefallen. Benita versuchte, an ihrer Seite zu bleiben, doch irgendwann war ihr Daisys Arm entglitten, und sie verlor die Eltern und die Prinzessin aus den Augen.
Sie blieb stehen, wusste nicht, wohin, ließ die anderen Gäste an sich vorbeiströmen, hörte hier und da ein Wort, verstand nichts. Endlich kam die Prinzessin zurück, gefolgt von Benitas Eltern, und nahm sie lächelnd bei der Hand. »Liebes Kind, wir sind Ihnen davongelaufen! Und haben dabei den Mann verpasst, den Sie unbedingt kennenlernen müssen!«
Der Mann, den sie meinte, hielt ein leeres Glas in der Hand und stand ein wenig abseits, unter einem mächtigen Hirschgeweih.
»Hoheit«, murmelte er, als er wahrgenommen hatte, wer da vor ihm stand.
»Ludwig!«, rief Daisy. »Ich will Ihnen liebe Menschen vorstellen, die mir sehr geholfen haben, als ich einmal Hilfe brauchte. Maximilian und Caroline von Lanzdorf und ihre entzückende Tochter Benita!« Daisy intonierte »entzückend« mit einem Überschwang, der Benita ein wenig peinlich war. »Benita, das ist Baron Ludwig von Sedlitz! Er wohnt auf Rittergut Mondsee bei Wohlau, leider viel zu weit weg von uns!«
»Meine Verehrung, gnädiges Fräulein«, murmelte der Baron und beugte sich über Benitas Hand. »Erschrecken Sie nicht, die Fürstin neigt zu Überfällen, ich bin ganz harmlos!«
Benita musterte ihn. Harmlos war nicht das passende Wort, dafür sah er zu gut aus: groß, schlank, mit vollem dunklem Haar und einem etwas melancholischen Lächeln. Und den sollte sie unbedingt kennenlernen? Warum nicht?
»Ein Überfall, sagen Sie? Ist das nicht eher die Spezialität von Leuten, die auf einem Rittergut hausen?«
Er lachte. »Das stimmt. Wir rauben edle Fräulein und erpressen dafür Lösegeld. Ein gewinnbringendes Geschäft.«
»Das freut mich für Sie. Ich hoffe, Sie rauben nur edle Damen, bei denen es sich lohnt.«
Er neigte den Kopf. »Nun, Schönheit ist natürlich auch etwas wert.«
»Und ebenso lukrativ?«
»Nun …« Er räusperte sich. »Ist nicht die Schönheit allem Gold der Welt vorzuziehen?«
»Vielleicht. Solange die Bilanzen stimmen. Ich sorge für die Buchführung in der Praxis meines Vaters.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Das kann ich nicht von der Hand weisen. Rechnen müssen wir auch auf Mondsee, manchmal sogar mit dem Schlimmsten.«
Der Mann gefiel Benita. Wenn Daisy sie hatte verkuppeln wollen, hatte sie jedenfalls keinen schlechten Geschmack bewiesen. Dass sich erst die Prinzessin zurückzog und irgendwann auch ihre Eltern weitergingen, nahm sie nicht mehr wahr.
»Vielleicht sollte auch ich einmal zur Kur kommen, verehrtes Fräulein von Lanzdorf«, sagte er irgendwann, nachdem sie ihm von den Aufgaben eines Kurarztes erzählt hatte.
»Aber gewiss doch, Herr von Sedlitz«, antwortete sie. »Unsere Sole ist reich an Jod, Brom und Kohlensäure. Wir heilen Sie von Skrofulose, Gicht und Rachitis. Welche Krankheit ist Ihnen die liebste?«
»Hilft Ihr magisches Wasser auch gegen Melancholie?«
Sie musterte ihn. »Wir haben eine Kirche. Und sonntags gibt es Konzerte.«
Er winkte einem Livrierten mit Tablett und ließ sich zwei Gläser Champagner reichen. Benita nahm das Glas entgegen, ein wenig verlegen. Etwas bedrückte den Mann.
»Jetzt sind Sie dran«, sagte sie schnell. »Erzählen Sie mir von Mondsee. Das ist ein schöner Name.«
Er lächelte. »Ja. Und manchmal spiegelt er sich tatsächlich im Teich, der Mond.« Sie standen noch immer in der Ecke, unter dem Hirschgeweih, und ließen die Gäste vorbeipromenieren. »Mit Schloss Pless kann mein Gut allerdings nicht mithalten.«
»Da haben Sie aber Glück«, entgegnete Benita. »Bedenken Sie die Unterhaltungskosten.«
»Wie recht Sie haben! Mondsee war einst nicht viel mehr als eine Burg auf einem Hügel, umgeben von einem Wallgraben. Von der Burg ist nicht mehr viel übrig, doch ein gemauerter Streitturm ist noch erhalten, der spielt in unserer Geschichte eine besondere Rolle.«
Benita hatte, ohne darauf zu achten, ihr Glas geleert und spürte, wie der Leichtsinn in ihr hochstieg. »Hat einst Rapunzel auf den Burgzinnen gestanden und ihr Haar herabgelassen?«, fragte sie.
»Leider nein.« Jetzt grinste er wie ein Schuljunge. »Die wirkliche Geschichte ist nur beinahe so schön. Der Wehrturm hat uns gegen die Tataren geschützt.« Er sah ihr in die Augen. »Wir waren nie reich, aber wir haben es verstanden, auch mit dem, was wir nicht hatten, zu protzen.«
Benita schaute ihn an. Seine Augen waren braun, ein helles, warmes Braun. Über die linke Augenbraue zog sich eine feine weiße Narbe.
»Als 1431 die Hussiten anrückten, schlachteten die Burgbewohner ihre letzten Hühner und warfen sie gebraten über die Brüstung, damit die ausgehungerten Männer da draußen glaubten, in der Burg gäbe es so große Vorräte, dass die Belagerung noch ewig dauern konnte. Das hat sie wohl überzeugt, sie zogen ab.«
»Mehr scheinen als sein«, kommentierte Benita. »Eine altehrwürdige Strategie.«
»Ja.« Er lächelte sie an. »Aber umgekehrt ist es mir lieber.« Sie sahen einander an. Er wandte als Erster den Blick ab.
»Mondsee hat eine eigene Elektrizitätsversorgung«, sagte er nach einer Weile. »Und wir haben Karpfen im Hofteich.«
Das war eine bemerkenswerte Brautwerbung, dachte sie später oft. Und daran, was sie sich gewünscht hatte, als sie im Mai den Kometen Halley über den Himmel hatte ziehen sehen. Manche glaubten, dass der Komet Unheil brachte. Sie nicht. Er war ein Glücksbringer.
Bereits einen Monat später traf Benita den Baron wieder, bei einem Empfang auf Schloss Pless aus Anlass...
Erscheint lt. Verlag | 9.2.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1. Weltkrieg • Ab heute heiße ich Margo • Dreiecksbeziehung • Frauenroman • Freundschaft • Historienroman • Margo Band 3 • Margos Töchter • Nachkriegszeit • NS-Zeit • Weimarer Republik |
ISBN-10 | 3-462-30134-9 / 3462301349 |
ISBN-13 | 978-3-462-30134-2 / 9783462301342 |
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